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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


schlimm steht, als bei uns. In Frankreich kann man den Segen eines solchen strengeren Verfahrens auf Schritt und Tritt beobachten, ebenso in Belgien, und seit einiger Zeit auch in England, wo namentlich durch das Gesetz vom 6. August 1860 und durch die Zusatzacte vom 10. August 1872 gründlich reine Bahn gemacht ist. Ich bin sicherlich nicht der Einzige, dessen Glaube an die nachgerade genug gemißbrauchte deutsche Treue und Biederkeit in Handel und Wandel einen empfindlichen Stoß erlitten hat, sobald er den fremden Boden betrat. Wie tief muß in den Augen unserer Handelswelt der Werth wahrer Rechtlichkeit gesunken sein, wenn ein bekanntes Handelsblatt es wagen darf, Sätze wie folgende aufzustellen: „Die Grundidee des Handels ist, sich auf Kosten Anderer zu bereichern“ – oder: „Es haben sich im mercantilischen Leben verschiedene Gebräuche und Gewohnheiten eingebürgert, welche vor dem Richterstuhle der allgemeinen menschlichen Moral nicht bestehen können, die aber dennoch im ehrenhaften Handelsverkehr geduldet und anerkannt und von Personen befolgt werden, die in ihrem Privatleben durchaus nach den Principien der strikten Moral handeln.“ Oder: „Mancher Fabrikant sieht sich durch den Kampf der Concurrenz veranlaßt, der geforderten guten Waare eine geringere Qualität unterzuschieben, an Maß und Gewicht kleine Verkürzungen eintreten zu lassen und dennoch kann er in seinem Privatleben auf dem Boden der allerstrengsten Rechtschaffenheit stehen etc.“

Wenn nun ein Theil des Handelsstandes nach solchen sauberen Grundsätzen Geschäfte treibt – und fast muß man es glauben, denn es ist, soweit ich habe nachkommen können, kein tausendstimmiger öffentlicher Protest gegen die eben angeführten Sätze erhoben worden – nun, so haben wir ja an ihnen einen genügenden Aufschluß über den betrübend niedrigen Stand der Reellität in unserm Handel und Wandel. Ich habe in meinem simpeln Käufer- und Consumentenverstande immer geglaubt, es gäbe nur eine Moral, und ein Krämer, welcher eine wenn auch „kleine Verkürzung an Maß und Gewicht“ eintreten läßt, ein Schnitthändler, der mir Halbleinen für Leinen, Halbwolle für Wolle, Halbseide für Seide verkauft, ein Weinhändler, der mir Kunstwein für echten Traubenwein schickt, sei einfach ein Betrüger.

Viel lehrreicher, als für mich, ist jedenfalls der angezogene Artikel für alle diejenigen Geschäftsleute, welche in der eben geschilderten Handelspraxis schon einige Routine besitzen, aber noch so blöde sind, zuweilen doch einige Beklemmungen zu empfinden, wenn sie mit der erwähnten Maß- und Gewichtsverkürzung oder mit der Unterschiebung einer geringeren Sorte etwas[WS 1] zu weit gegangen sind. Ihnen stärkt also der erwähnte gefällige Handelsphilosoph das kleingläubig zagende Herz, und auf die Lebensmittelfrage angewendet, würde sein Evangelium etwa so lauten: „Fürchtet euch nicht! Ich verkündige euch große Freude. Wenn ihr auch etwas zweifelhaftes Fett zwischen die Butter schmelzt oder sie durch Butterpulver schwerer macht, wenn ihr auch Kalk oder Gyps unter das Mehl und den Streuzucker, Kalkwasser unter die Milch, Glycerin unter das Bier mischt oder den Käse durch geriebene Kartoffeln 'mildert', oder Cigarrenkistenholz unter den gestoßenen Zimmt reibt und was die Geschäftspraxis sonst so mit sich bringt, – was thut’s? Zwar sind solche Substanzen theilweise nicht gerade zuträglich für den menschlichen Magen, aber was an solchem Nährstoff zu Grunde geht (vielleicht ein paar tausend schwächliche Kinder oder dergleichen), das war schon von Haus aus nicht recht lebensfähig; was kräftig ist, frißt sich schon durch. Ihr aber seid und bleibt bei alledem immer noch ehrenwerthe Geschäftsleute und steht in eurem Privatleben unentwegt auf dem Boden der allerstrengsten Rechtschaffenheit, vorausgesetzt, daß ihr nach Schluß des Geschäfts nicht noch euren Nebenmenschen Uhr und Portemonnaie aus der Tasche zieht oder fremde Thüren in gewinnsüchtiger Absicht mit Ditrichen oder Nachschlüsseln öffnet.“

Doch die Sache ist vielleicht etwas zu ernst, um darüber zu lächeln. Ich erzähle Ihnen also versprochenermaßen lieber etwas von einigen – Bearbeitungen und Vervollkommnungen geringerer Sorten von Lebensmitteln zu bessern, ein Verfahren, das ich mir trotz der neuen Lehre unserer toleranten Handelspresse erlauben werde, einstweilen noch mit dem Namen Verfälschung zu bezeichnen. Und zwar soll diesmal vom Weine die Rede sein.

Die Klagen über das „Taufen und Manschen“ reichen ziemlich weit hinauf. Aber im Allgemeinen sind doch unser Jahrhundert und vorherrschend die letzten Jahrzehnte desselben die Blüthezeit des Verfälschungsschwindels. Mit dem Aufschwung und dem Fortschritt der Chemie hält der Mißbrauch der durch dieselbe gewonnenen Resultate gleichen Schritt. Die Weinverfälschung hat förmlich ihre Geschichte, und wer dieselbe weiter verfolgen will, den verweise ich auf die sehr gründliche criminal-politische Studie des Landgerichts-Assessors Hermann Bresgen: „Der Handel mit verfälschten oder verdorbenen Getränken etc.“, ein wenig übersichtliches, nicht gerade anmuthig sich lesendes Buch, das aber den vagen und unbewiesenen Deklamationen gegenüber, auf die wir meist in unserer wichtigen Frage angewiesen sind, wirkliche Thatsachen und ein mit erstaunlicher Sorgsamkeit und Gründlichkeit zusammengetragenes Material giebt. Wenn man an der Hand dieses Autors die endlosen, auf strengere Handhabung der Gesetze zielenden Schritte der landwirthschaftlichen Vereine, der Oenologen- oder Weinkennercongresse, die vielen Anträge und Petitionen der ehrlichen Weinproducenten überblickt, die sich und ihr ganzes Gewerbe durch die gewissenlosen Weinverfälscher beeinträchtigt sehen und auf energische Verfolgung der unsauberen Elemente dringen, so kann man sich nicht genug über die Zimperlichkeit wundern, mit welcher die Behörden gegen das Uebel vorgehen. Der Hauptgrund dieser ganz unzeitigen Milde scheint der Umstand zu sein, daß factische Beweise, wie z. B. eine chemische Analyse sie gewähren könnte, in Betreff der Verfälschung von gegohrenen Getränken sich schwer beibringen lassen.

Die älteste Methode der „Weinverbesserung“ ist das Chaptalisiren, d. h. das von Chaptal erfundene Zusetzen von Zuckerstoffen zu dem Most, welches dazu dient, eine geringere Sorte oder einen sauren Jahrgang trinkbarer zu machen. Dieses Verfahren ist ziemlich unverfänglich, wenn wirklich, und nicht nur vorgeblich, reiner Candiszucker hierzu genommen würde. Statt dessen wird, wie sich statistisch nachweisen läßt, vorherrschend Traubenzucker verwendet, der zwar chemisch bekanntlich dem in der Traube selbst erzeugten Zuckerstoff zum Verwechseln ähnlich ist, demselben aber dennoch in jeder Weise nachsteht. Auch der beste aus Kartoffelstärke durch Kochen derselben mit Vitriolöl gewonnene Traubenzucker, wie er im Handel vorkommt, ist niemals rein, sondern enthält zehn bis zwanzig Procent fremde, theilweise sehr schädliche Substanzen, welche nicht mit vergähren. Im Uebergangsstadium zum Alkohol verbreitet selbst ein verhältnißmäßig reiner Traubenzucker einen widerwärtigen ekelhaften Geruch. Und doch ist dieses Zusatzverfahren das bei weitem unschuldigste unter den Verfälschungen, und juristische wie medicinische Autoritäten haben Bedenken getragen, dasselbe überhaupt als eine Verfälschung zu kennzeichnen, weil der Wein wegen seiner complicirten Behandlungsart ebenso gut ein Kunstprodukt als ein Naturprodukt sei. Wenn daher auch die Weinbereitung nach Chaptal’s Grundsätzen nicht als Betrug angesehen zu werden braucht, so gilt dies doch von dem Handel mit chaptalisirtem Wein, denn offenbar zielt doch die ganze Behandlung darauf, das Product eines geringeren Jahrganges dem der besseren ähnlich zu machen, um es dann als besseren Jahrgang feilzubieten.

Bei diesem unschuldigen Verfahren blieb man natürlich nicht stehen. Es lohnte ja wenig. In den 1850er Jahren erfand Dr. Ludw. Gall in Trier ein anderes, bei dem schon mehr zu gewinnen war. Die Doctrin, welche er in einer Reihe von Weinbereitungsbroschüren erläutert, läßt sich kurz dahin zusammenfassen: „Es hängt von uns selbst ab, aus geringen und auch aus den edelsten Trauben der besten Lagen durch Zuckerwasserzusatz zum Moste wenigstens doppelt soviel Wein von mindestens gleicher Güte, wie aus dem unvermischten Moste, zu erlangen.“

Die Lehre Gall’s rief einen lebhaften Meinungsaustausch hervor. Es hat nicht an Chemikern gefehlt, welche sie, als wissenschaftlich richtig, vertheidigt haben. Andere griffen sie lebhaft an. Man wies darauf hin, daß der rohe Kartoffelzucker keineswegs mit dem in der Traube enthaltenen Zucker identisch sei. Dieser Kartoffelzucker werde durch die unreine Schwefelsäure blei- oder gar arsenikhaltig; er enthalte oft noch Dextrin, Kalk, Gyps oder sonstige der Gesundheit schädliche Stoffe, und so beantwortete man daraufhin die Frage, ob ein nach Gall’scher Methode bereiteter Wein der Gesundheit schädliche Stoffe enthalte,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ewas
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_318.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)