Seite:Die Gartenlaube (1877) 314.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Kindergarten und Charakterbildung.[1]
Von Angelika Hartmann, Seminar-Vorsteherin in Leipzig.


Bei der Besprechung des von mir gewählten Themas kann es sich nicht darum handeln, ein Bild weitgreifender pädagogischer Thätigkeit vor Ihnen zu entrollen, nein – in das stille, geheime Weben und Entfalten des Kindesgeistes möchte ich Sie schauen lassen, möchte die zarten Keime der ersten Thätigkeit dieses wunderbaren Mikrokosmos Ihnen zeigen und mit Ihnen in das Heiligthum unserer Lieblinge eintreten.

Ich bin nun – und das könnten Sie mir bei dieser Betrachtung zum Vorwurfe machen – keine Mutter, und nur der Mutter und dem Vater ist es, so meinen Sie vielleicht, möglich, diesen tiefen Blick in des Kindes Leben zu thun, weil diese es am meisten lieben und deshalb am besten verstehen müssen. Und doch glaube ich, giebt es noch ein Herz, das mit warmer Liebe für unsere Lieblinge schlägt, das mit Opferfreudigkeit und Hingabe für das Wohl derselben sorgt: es ist das Herz der Kindergärtnerin. Und wie die Familie ein Tempel der Liebe, der Ehrbarkeit und Heiligkeit sein, wie hier das Kind von Liebe umgeben und mit Verständniß für seine individuelle Veranlagung behandelt und beeinflußt werden soll, so muß der Kindergarten, der die Familie nicht ersetzt, wohl aber ergänzt, von dem Geiste pädagogischer Ueberzeugung getragen sein, muß eine allseitige Entwickelung der Menschennatur anstreben.

Dazu bedarf es einer Kindergärtnerin, die mit vollem Verständniß ihrer Aufgabe für die Erziehung des Kindes in den ersten Lebensjahren arbeitet, die, mit jenen Erziehungsgesetzen vertraut, sie in die Praxis überzuführen versteht.

Eine schöne, eine hohe Aufgabe! Aber nur die Kindergärtnerin erfüllt sie ganz, die dem Beispiele der liebenden und sorgenden, aber auch denkenden Mutter folgt und ihr Kind als ein sich fort und fort entwickelndes betrachtet, die diesen Erziehungsgang kennt und die Wonne der Mutter begreifen kann, wenn diese in den Augen des Säuglings zum ersten Mal, wie Jean Paul sagt, das zauberische Lächeln, das liebliche Morgenroth der beginnenden Vernunft wahrnimmt. Von diesem Augenblicke an geht es bergauf im schrittgemäßen Weiterentfalten, denn die Natur kennt keinen Sprung und belebt erst allmählich mit ihrem Zauberworte alle Thätigkeiten des aufbrechenden Geistes.

Und nun grünt und blüht es, als wollte der Frühling mit seinen Maientagen das Füllhorn seines Segens ausschütten. Täglich entdeckt die Mutterliebe ein neues Keimchen, das sich empor an’s Licht ringen will, und küßt es auf und pflegt es und behütet und wartet und liebt es Tag und Nacht.

Da gehe hin, Kindergärtnerin, und theile die Freude und siehe, wie Liebe reicher wird im Geben, und lerne, wie man Liebe durch Opfer verdient! Dort kannst Du auch die geheime Werkstatt der Natur belauschen und schauen, wie sich bei naturgemäßer Einwirkung von Nahrung, Luft und Licht die körperlichen Organe kräftigen und wie sie stützend den geistigen eine Basis bereiten.

In entwickelnder Thätigkeit zeigen sich jetzt die Sinnesorgane. Das Auge erfaßt den Gegenstand und erkennt bald den ihm liebsten, die Mutter; das Ohr unterscheidet ihre Stimme von anderen Tönen; die kleinen Hände greifen und versuchen festzuhalten; Geruch und Geschmack üben ihre Wirkungen aus.

Und parallel dieser allmählichen Sinnesentwickelung brechen im Geiste Anhänglichkeit, Wohlwollen, Nachahmungs- und Thätigkeitstrieb auf.

Aber auch die Triebe brechen sich jetzt Bahn, die, wenn sie nicht im Entstehen niedergehalten werden, späterhin das Kind zu einem eigensinnigen, zornigen, herrischen, sich weder den Anordnungen und Wünschen der Mutter, noch den Befehlen des Vaters fügenden machen. Willst Du, Mutter, Deinen Liebling vor diesen Fehlern, die seinen unschuldsvollen Blick trüben, bewahren, so gieb Acht, daß in der Zeit, in welcher die ersten Eindrücke seiner Umgebung auf den Säugling einwirken, nichts diese erwachenden Triebe Reizendes an ihn herantrete. Wie Du die ersten Empfindungen der Alles überdauernden Liebe in dasselbe hineinlebst, wie Dein Gebet, mit dem Du es Morgens vom Lager nimmst und des Abends in die Hände des Höchsten bettest, die ersten heiligen Gefühle bei ihm wachküßt, so wirken Heftigkeit, Laune, Willkür und maßloses Eingreifen schon in diesem zarten Alter zerstörend auf seine Willensäußerungen.

Sei darum vor Allem das selbst, wozu Du Dein Kind erziehen willst! Nichts wirkt in der Zeit, wo das Kind noch in der innigsten Gemeinschaft mit der Mutter lebt, mehr auf die Bildung des Charakters ein, als das Beispiel derselben. Mit der Mutter lacht und weint, trauert und jubelt das Kind. Von dem ersten Augenblicke an, in welchem das heilige Geschäft der Erziehung für sie beginnt, hat sie deshalb bewußt in ihrem eigenen Wollen, maßvoll und würdig in ihrem Handeln zu sein. Den Aeußerungen der Leidenschaftlichkeit des Kindes trete sie mit Ruhe, mit Geduld, aber auch mit unerbittlicher Consequenz entgegen, gewähre nicht ein Mal, was sie ein andres Mal versagt, strafe nicht heute, wo sie morgen liebkost.

Das unmuthige Schreien des Säuglings, die ungestüm fordernde Geberde, wie das befehlend ausgesprochene Wort des ältern Kindes sind Erzeugnisse derselben Geistesthätigkeit – sie sind natürliche Erscheinungen des noch nicht vom Denken beherrschten Willens des Kindes. Dieser Wille muß geleitet, geregelt und, wenn es nöthig ist, gebrochen werden, damit, wie Jean Paul sagt, Euren Kindern nicht späterhin das Herz darüber bricht.

Je früher und consequenter wir es an diese Selbstbeherrschung gewöhnen, je zeitiger wir es ein weises, vom höhern Standpunkte der Wissenschaft vorgeschriebenes Gesetz bei unserm Handeln hindurchfühlen lassen, um so fester werden wir die Grundpfeiler des Gehorsams in dem Charakter des Kindes aufbauen.

Aus der Natur, dem Borne, aus dem ewiges Leben quillt, wo Klarheit und Wahrheit, wo Gesetz und Entwickelung sich durchdringt, da müssen Mutter und Erzieherin schöpfen, wenn sie lebendiges Leben beim Kinde schaffen, wenn sie dasselbe auf jeder Altersstufe seinen Anlagen und Fähigkeiten entsprechend erziehen wollen. Verständniß für die Vorgänge der körperlichen und geistigen Entwickelungsphasen muß sich daher der Liebe zum Kinde zugesellen, denn nur der Erzieher, der diesen Gang der Entwickelung wahrhaft kennt, kann dieselbe naturgemäß leiten. Und hier fallen die Aufgaben der Mutter und Erzieherin zusammen.

Bedauernswerth, hohl und unersprießlich ist das Erziehungsgeschäft der Letzteren, wenn sie ihrem Kinde nicht ein Herz voll Liebe entgegenbringt, und die Mutter, welche sich nur von ihren Empfindungen, und seien es auch die höchsten und an sich edelsten, leiten läßt, giebt bald die Zügel aus der Hand und erzieht das Kind anstatt zum charaktervollen, dem höheren Gesetz sich unterordnenden Wesen, zu einem willenlosen, augenblicklichen Regungen sich hingebenden Menschen.

Das höchste Ziel der Erziehung aber, geistige Selbstständigkeit, die Möglichkeit einer freien Entschließung, aus der breitesten Grundlage sittlicher Reinheit und Kraft herausgewachsen, muß von Jugend an erstrebt und alle Hemmnisse, welche die Erreichung dieses Zieles hinausschieben oder unmöglich machen, müssen energisch bei Seite geschafft werden.

An die Stelle des Verbotes lasse deshalb schon beim kleinen Kinde das Gebot treten! Gebiete mit Liebe, kurz, und laß das Gebotene sofort vollziehen! Meistere nicht zu viel und schilt nicht über Angewohnheiten und Unarten, sondern hilf, daß diese Unarten vermieden werden! Hilf Deinem Lieblinge, das heißt zugleich, sei um ihn!

„ – – Geh fleißig um mit Deinen Kindern!
Sei Tag und Nacht um sie und liebe sie,
Und laß Dich lieben einzig schöne Jahre!
Denn nur den engen Traum der Kindheit sind
Sie Dein! nicht länger!“

singt Leopold Schefer.

So erwächst ihnen der kindliche Frohsinn, der die Saat des Guten zu doppelt reicher Frucht reifen läßt. Mt dieser strahlenden Fröhlichkeit folgt uns das Kind gern, wenn wir ihm Anweisungen zur Ordnung und Pünktlichkeit geben. Ordnung nach außen schafft ruhige Entwickelung nach innen. Mit dieser Fröhlichkeit wird es lernen einem lebhaften Wunsche entsagen, Kampf

  1. Vortrag, gehalten am zweiten Tage der Leipziger General-Versammlung des deutschen Fröbel-Verbandes.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_314.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)