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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Der Commerzienrath zündete ein Licht an und gehorchte zaudernd der gebieterischen Weisung. Als er hinaus war, setzte sich Urban an das Bett und stützte den Kopf in die Hand. In dem stillen, dämmerigen Zimmer war nichts zu hören als das leise Ticken einer Taschenuhr, die schnarchenden Athemzüge der Frau, welche wieder eingeschlafen war, und das flüsternde Geschwätz der Kranken neben ihm.

Er lauschte anfangs unfreiwillig diesem geheimnißvollen Plaudern und gab sich später Mühe, aus dem Wortstrudel Gedanken zu fischen, als er hörte, wie häufig sein eigener Name darin auftauchte. Das Meiste, was sie sagte, paßte in den Rahmen jenes unglücklichen Abenteuers in der Erlenfuhrt, und er konnte immer wieder die Spur des tiefen Entsetzens wahrnehmen, welches sich mit der Erinnerung daran in die Seele des jungen Mädchens geprägt hatte. Ein Frösteln überkam ihn bei dem Gedanken, daß er selber es war, der den Giftsamen zu dieser zerstörenden Wirkung gesäet hatte. Blitzschnell wechselten die Bilder, oft nur in zwei, drei Worten angedeutet, aber für ihn leicht erkennbar; manches davon kehrte häufig wieder, am häufigsten der Kahn, der auf der Höhe des Wassersturzes schwebte und im Begriff war zu verschwinden, und die Vorstellung, daß er gegen den Felsen zerschmettert wurde und zerrissen und blutend gegen die Brücke hin trieb. Nur selten leuchtete dazwischen ein leises Lachen des Glückes auf, wie das Kichern eines versteckten Kindes, oder fremde Bilder, von denen er wenigstens eines begriff: die weißen Flügel eines Schwanes, der über das Wasser zog. Er dachte an die Zigeunerin und ihre wunderliche Prophezeiung.

Aber das Merkwürdigste für ihn war die Art, wie sie seinen Namen aussprach. Er war für sie immer wieder ein Anderer. Der ganze Farbenvorrath der Empfindung beleuchtete nacheinander diesen oder vielmehr diese Namen, denn sie nannte ihn abwechselnd bald Urban, bald Heinrich. Zorn und Bitterkeit, tiefes Grauen, Wehmuth und Jammer, und wieder die keusche, schüchterne Zärtlichkeit und leidenschaftliche Innigkeit – wie ein schillernder Stern tauchte der eine und der andere Name in diese wechselnden Farben und strahlten ihm beide das verschwiegene Geheimniß des jungen, unschuldigen, ringenden Herzens zu. Was er in einzelnen Momenten geahnt, aber kaum für mehr als eine kraftlose, stille Neigung, eine jener Erstlingsblüthen gehalten, welche um so süßer und berauschender duften, je unfruchtbarer sie sind – es blendete ihn, dies jetzt als vollwichtige, im Fegfeuer tiefster Seelenqual geläuterte Leidenschaft begreifen zu müssen.

Sie liebte ihn, und sie starb für ihn; sie starb, weil sie ihn hatte im Herzen behalten wollen und das nicht möglich gewesen war, ohne die zerstörendsten Schrecken jener Nacht zu empfinden, die Niemand weiter empfunden hatte als sie, nicht einmal er selber, am wenigsten jenes stolze, kalte, eigensinnige schöne Mädchen, das sich rettete, um ihn sterben zu lassen.

Der Tod da vor ihm plauderte das Geheimniß des Lebens aus.

„Heinrich! – Heinrich! –“

Er beugte sich tief nieder zu dem mageren Gesichtchen und versenkte sich in tiefster Seele zitternd in die veränderten Linien und Formen, deren Vergangenheit mit reizender Deutlichkeit in seiner Erinnerung auflebte. Ihr bebender Athem strömte ihm zu; der Augenstreif zwischen den Wimpern flimmerte. Heiß wallte es in ihm auf, und er hauchte leise einen Kuß auf die bleichen, zuckenden Lippen.

In seinem Innern regte sich ein Stachel und begann still zu wühlen und zu bohren. In dieser heimlichen Stunde zerrann sein Hochmuth, seine Selbstsucht wie Nebel, und nur das Verwerfliche, das sie geboren, die Mißformen, die sie in seiner Seele ausgemeißelt, blickten ihn nackt und in ihrer ganzen Häßlichkeit an.

„Ich bin dieses Kindes nicht werth,“ sagte er bei sich selber.

Und dann stiegen wieder verlockende Bilder von Glück in ihm auf. Eine kleine, graziöse, sprühende Sylphe, von Reichthum und Glanz umgeben –

Ein Stöhnen aus tiefster Brust riß ihn in die Wirklichkeit zurück. „Wasser!“ stammelte die Kranke schwach.

Urban blickte freudig überrascht nieder. Ihre Augen waren noch geschlossen. Er ging an das Licht, schenkte ein Wasserglas voll und trug es hinter die Matte.

Seine Hand zitterte, als er sie leise unter das schwarze, lose Flechtengewirr schob und den Kopf der Kranken aufrichtete. Sie wurde plötzlich still und schluckte mühsam, aber mit Begierde, als er das Glas zwischen die schimmernden Zähne brachte und ihr den Trank einflößte. Er mußte den Athem anhalten, um die Herrschaft über seine Muskeln zu bewahren. Endlich ließ er ihren Kopf in die Kissen zurücksinken.

Er trug das Glas wieder hinaus und kehrte zurück, um seinen Platz auf dem Stuhle abermals einzunehmen und zu beobachten. Wie er sich wieder über ihr Gesicht beugte, blickte er in zwei starre, offene Augen, welche plötzlich einen ängstlichen Ausdruck annahmen.

„Nicht – nicht!“ stammelte sie. „Gehen Sie, Herr Doctor! Sie sollen nicht hier sein, wenn ich sterbe. Wo ist mein Vater?“

Sie hob ein wenig den Arm, als wollte sie seine Gegenwart abwehren, aber die Kraft reichte nicht weit; das ernste Männergesicht über ihr blieb, und die strengen, zaubergewaltigen Augen darin leuchteten warm und mild wie Frühlingssonnenschein zu ihr nieder.

„Toni!“ sagte er leise und langsam.

„Was wollen Sie?“ rang es sich von ihren Lippen, während sie auf einen Moment wieder die Augen schloß.

„Im Angesichte des Todes seien Sie wahr!“ fuhr er fort. „Ich weiß, daß Sie mich lieben, daß mein Bild in Ihrem süßen kleinen Herzen lebt. Ehe der Vorhang vor dieser Weltbühne für Sie fällt, lassen Sie mich das eine Wort noch hören, das Sie mir schon längst gern gesagt hätten, wenn ich Thor es nur hätte hören wollen!“

Ein glückseliges Lächeln spielte um ihre Lippen und es war, als ob ihr Gesicht sich färbte und Wärme strahlte.

„Du kleiner Engel, dem schon die Flügel sprossen, hast Du mich lieb gehabt damals, als Du noch ein reizendes blühendes Menschenkind warst?“ fragte er, sich tiefer neigend.

Da war es, als käme ihre Kraft wieder; sie legte leise die Arme um seinen Hals und flüsterte wie im Traume:

„Ich habe Dich lieb – lieb – über alle Maßen. Aber nun muß ich sterben, sonst dürfte ich es Dir nicht sagen.“ Und nun legte auch er seine beiden Arme unter ihren Kopf und küßte sie so sanft, wie man ein neugeborenes zerbrechliches Kind küßt.

„Nun stirb, wenn Du durchaus willst!“ sagte er in tiefer Bewegung, als sie die Hände löste. „Es stirbt sich leicht, wenn man durch Sterben glücklich geworden ist.“

„Gott, was habe ich gethan!“ seufzte sie, und dann wandte sie das Gesicht von ihm weg und lag da wie damals, als er zuerst vor dem Krankenbette gestanden. „Ich sehe etwas Weißes, wie Schwanenflügel, Heinrich,“ fügte sie kaum hörbar hinzu; „das ist der Tod – der Schwan – die Zigeunerin –“

Sie war still, aber sie athmete ruhiger als vorher.

Der Doctor vermochte nicht, sich zu setzen; ein stürmisches Gefühl von Glück floß ihm durch alle Nerven. Er stand draußen bei dem stillen, unbewegten Flämmchen und kreuzte die Arme über der Brust. Drunten auf der Straße fuhr langsam ein Wagen und sein Ohr folgte mechanisch der schütternden Bewegung und dem Klappen des Hufschlages.

Er war eine bewegliche Natur; die Wogen des neuen Glückes schlugen hoch auf und verdeckten das Bild der schönen Emilie Hornemann.

Wie lange? –

Er schrak auf; die Stubenthür bewegte sich leise knirschend in den Angeln, und herein trat in einem türkisch gemusterten Schlafrock der Commerzienrath. Sein Gesicht war grau und seine Augen stier vor Angst.

„Doctor, mir graut drüben,“ stöhnte er und wischte mit dem bunten Taschentuche über die perlende Stirn. „Ich muß mich hierher setzen, wo Licht und Menschen sind; die Angst läßt mich nicht schlafen. Was macht mein armes, unglückliches Kind, Doctor?“

Er wollte aufstehen, aber Urban drückte ihn wieder in den Sessel nieder.

„Bleiben Sie und stören Sie sie nicht! Die Kranke schläft und hat jedenfalls aufgehört zu phantasiren. Wie Sie sehen, habe ich noch keine Ursache gehabt, die Frau dort zu wecken.“

„Ist der Schlaf ein gutes Zeichen, Doctor?“ flüsterte der Aufgeregte, und in seinen Zügen dämmerte eine schwache Hoffnung auf.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_310.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)