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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


gegeben werden sollte, angenehmen Träumen nachzuhängen, endlich eine Getreidekammer, in der sich für Geld und gute Worte noch ein strohgefülltes Bett vorfand, dazu im Uebrigen den besten Willen von Seiten der Wirthin – so war ein Quartier, und sicher nicht viel besser waren die meisten anderen. Bald jedoch wurden wir schon wieder umquartiert, nach dem Flecken Waldau bei Kassel, in welchem die ganze Batterie bequem untergebracht werden konnte und wo es sogar ein „Hôtel“ gab, das einem auch in der That sogleich ansah, wem es wirklich ganz hôtelmäßige Preise und wem geringere anzurechnen habe.

Und wieder waren vierzehn Tage dahin, als der Befehl anlangte, daß die Batterie auf’s Neue in Wilhelmshöhe Quartier zu nehmen habe. Napoleon hatte bald nach seiner Ankunft daselbst nahezu seine sämmtlichen Pferde verkaufen lassen und sein Marstallpersonal dem entsprechend bedeutend verringert: so konnte die wieder leer gewordene Caserne abermals durch eine Truppe belegt werden. Gegen Ende September also räumte die Batterie Waldau und marschirte durch Kassel die herrlich schattige Allee entlang, zurück nach ihrer alten Behausung.

Vor der Hauptwache war diesmal eine starke Infanteriewache unter dem Gewehr, an der vorübermarschirend wir mit dem bekannten „hörbaren“ Ruck die Augen rechts „nahmen“. Vor dem Hôtel Schombarth stand der Kellner neugierige Schaar, und aus einigen Fenstern der Caserne beschauten einige ebenso neugierige, uns völlig fremde Gesichter unsern Einmarsch. „Batterie geschlossen! Links marschirt auf!“ hieß es, „Abgesessen! Abgespannt!“ während das „siebente Geschütz“ munter von seinem Leiterwagen herabkletterte, auf dem es, das heißt die mit der edlen Reitkunst noch nicht genügend vertraute junge Mannschaft, einige ehemals „kurfürstlich hessische Nichtstreiter“ und einige Schreiberseelen, den Weg von Waldau bis hierher lachend und singend durchzogen hatte. Die vorausgesandten Quartiermacher wiesen die Ställe an, demnächst die Mannschaftsstuben. Bald kochte es in der Küche in den großen Kesseln, an denen eben jene absonderliche species militaris, die weiland kurfürstlich hessischen Nichtstreiter, unblutige Lorbeeren zu pflücken befehligt waren, und endlich konnte auch Jedermann seinen „Spatz“ (das Stückchen Fleisch) und seine Suppe im irdenen Teller fassen und sich’s schmecken lassen.

Der erste Nachmittag ging natürlich hin mit dem Reinigen und Instandsetzen der Wohnräume, mit dem Einräumen der Armatur- und Kleidungsstücke und dessen, was man sonst von „Muttern“ etwa vorsorglich mitgebracht hatte. Auch die Cantine auf dem andern Flügel der Caserne wurde aufgesucht und schön Mariechen, Cantinen-Wirths Töchterlein, begrüßt, welche Spirituosen, Bier und von der Mutter in großen Massen bereiteten heißen braunen Trank unter dem Namen Kaffee credenzte. Da fand sich nun auch, was es mit den neuen Mitbewohnern der Caserne auf sich hatte. Das waren die Stallknechte Napoleon’s und der in seiner Gesellschaft verbliebenen französischen Generale sowie Bedienstete aus dem königlich preußischen Marstall, von dem eine kleine Zahl prachtvoller Rappen dem kaiserlichen Gefangenen zur Verfügung gestellt worden war. Die königlichen Bedienten suchten natürlich sogleich als Berliner und hochstehende, aber dennoch leutselig sich herablassende Männer von Bildung uns zu imponiren. Mit den Franzosen dagegen knüpften wir die Bekanntschaft an, um unsere von der Schulbank stammenden französischen Brocken an den Mann zu bringen und als Hochgelahrte im einfachen Kriegerkleide vor ihnen zu glänzen. So war denn bald zwischen allen, Franzosen und Deutschen, Marstalldienern und Artilleristen, ein Einvernehmen hergestellt, welches ich mich nicht erinnern kann, je gestört gesehen zu haben.

Wir waren über ein Dutzend Freiwilliger bei der Batterie, von denen damals wohl die meisten vom Marschallstab in der – Packtasche träumten, und fanden uns zu zehn unter einem Sergeanten (der in England gewesen war, aber bei Ausbruch des Krieges sich wieder eingestellt hatte) in einer großen Stube wieder, die uns glücklicherweise den Ueberfluß besonderer Schlafzimmer gewährte, welche letzteren sich rechts und links an das Mittelzimmer anschlossen. Man stelle sich nun zehn an Handarbeit und häusliche Verrichtungen meist gar nicht gewöhnte junge Leute vor, die sich und das Ihrige völlig selbstständig zu besorgen und nach Casernengebrauch sich tageweise in der Reinerhaltung der Stube abzulösen, jeden Sonnabend aber gemeinsam eine große Reinigung derselben, mit Einschluß der Tische etc. vorzunehmen hatten. War es ein Wunder, daß von solchem Dienste Jeder sich zurückhielt, soviel er vermochte, daß beinahe jeden Mittag bei Uebernahme des „Stuben-du-jour-Dienstes“ vom Vorgänger die lächerlichsten Scenen und Zänkereien vorkamen, denen stets erst ein Donnerwetter des Sergeanten das Ziel setzte? – Junges Blut, gleicher Bildungsgrad, gleiche Absichten und leidliche Zulage von Hause brachte uns aber rasch näher, woher denn im Uebrigen das lustigste, einträchtigste Leben auf unserer Stube herrschte.

Am Morgen krochen und voltigirten wir von unserem Strohlager (je nachdem wir ebener Erde, oder erste oder zweite Etage des dreifach aufeinander gethürmten Bettengebirges schliefen), um uns alsbald unter die Zucht unseres gestrengen Herrn Lehrmeisters, Papa Lemecke, zu begeben. Dies war ein wackerer Sergeant, mit größter Unparteilichkeit seine Grobheiten an uns Alle gleichmäßig verschwendend, unermüdlich im Dienst wie gemüthlich und umgänglich und doch durchaus unbestechlich außerhalb desselben, ein braver Soldat, ein tüchtiger Reiter und – ein gelehrter Artillerist. „Wißt Ihr denn auch, was die Flugbahn so einer Granate eigentlich ist?“ fragte er in einer der ersten Vortragsstunden. „Nein, Ihr wißt es nicht; nun, ich will es Euch aber sagen: es ist eine Parabel.“ Und Staunen erfaßte uns Alle. Unser Lehrmeister ließ uns reiten, exerciren zu Fuß und am Geschütz, daß es eine Freude war, trotz Hitze oder Kälte, ob Regen, Schnee oder Trockenheit, und es muß anerkannt werden, seine Schüler sämmtlich dürften ihm viel verdanken, denn stramme militärische Erziehung, zumal die allererste, bringt immer gute Früchte, selbst bis wieder hinein in’s bürgerliche Leben.

Natürlich wurde die erste freie Zeit dazu benutzt, von Napoleon zu sehen, was zu sehen war. Aber man hatte das Schloß mit einem Ringe von Posten umzogen, ebensowohl, um dem Kaiser täglich vor Augen zu führen, daß er Gefangener sei, wie um den hohen Gast seinem Range entsprechend damit zu ehren und allzu Neugierige von ihm gebührend abzuhalten. – So sind auch wir nie in’s Schloß gelangt. Oft aber fuhr der Kaiser in dem königlichen Wagen mit königlichen Livree-Bedienten spazieren, und dann haben wir ihn auch zu sehen bekommen. Aber wer sich ihn etwa vorgestellt hatte, wie ihn der „Kladderadatsch“ wohl abzubilden pflegte, wohlgenährt, gesund, mit glänzend schwarzem, steif abstehendem Knebelbarte, schlau und heiter dreinschauend, der würde sich arg enttäuscht finden. Der Napoleon war das nicht. Das war für gewöhnlich ein in sich zusammengesunkener, kleiner, kranker Mann (übrigens mit blonden, stark schon in’s Graue spielenden Haaren), dem schwere Sorgen oder Schmerzen nur zu deutlich auf das Gesicht geschrieben standen und dessen Anblick schwerlich etwas anderes, als lebhaftes Mitgefühl erwecken konnte. Und er, dem noch vor Kurzem seine Pariser, seine Truppen zugejauchzt hatten, er saß, in Ueberzieher oder Militärmantel eingehüllt, im Wagen, still und wie ängstlich durch die neugierig gaffende Menge fahrend und höflich nach allen Seiten grüßend, oft auch, wenn Niemand ihm das Gleiche gethan hatte. Zuweilen auch ging er in den dem Schlosse zunächst belegenen Anlagen spazieren, er, der kleine Mann, geführt von zwei auffallend großen Männern, die uns als der Prinz Murat und General Graf Pajol genannt wurden, und von denen ersterer seine Länge noch durch einen, hohen Hut vergrößern zu wollen schien, während der Andere, im Uebrigen in Civil gekleidet, die rothe, goldgestickte Generalsmütze trug. In einiger Entfernung folgten ihm ein Polizeibeamter in Civil und einer der auf Wilhelmshöhe befindlichen Unterofficiere der Schloßgarde-Compagnie. Nur zuweilen zeigte er ein weniger sorgenvolles, auch gesünderes Aussehen als sonst, und einmal wagte er sich sogar auf’s Eis des oberhalb des Schlosses liegenden Sees und zog durch seine Kunstfertigkeit als Schlittschuhläufer eine Menge staunender Zuschauer, wohl ohne seinen Willen, an.

Ein einziges Mal nur kam Napoleon mit uns in nähere Berührung. Eines Morgens nämlich mußte die Batterie aus den Ställen ziehen, anspannen und, die Mannschaften im guten Anzuge, auf dem Casernenhofe in Parade sich aufstellen. Da kam nach einiger Zeit der Kaiser in Begleitung des General-Lieutenants Grafen Monts, des Gouverneurs von Kassel, vom Schlosse herüber zu Fuß nach dem Casernenhofe, um die Batterie zu besichtigen. Zuerst ging er langsam die Front entlang, mit scharfem Blicke Alles prüfend; dann wurde auf seinen Wunsch ein Geschütz abgeprotzt, und die Bedienung desselben mußte daran die Handgriffe des Ladens, Richtens und Abfeuerns etc. durchmachen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_298.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)