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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„trügt mich mein Gedächtniß nicht, so waren Sie der erste Verehrer, und dergleichen vergißt sich nicht so leicht. Inzwischen haben Sie freilich manchen Nachfolger gehabt; wir sind vorigen Winter zu Ball gewesen, und all der junge Flug, welcher hier im Hause aus- und einflattert, ist auch weder blind noch müßig. Nun, vor Ihren Träumen wird auch inzwischen manche Blonde oder Braune die Locken geschüttelt haben. – Zwei Jahre!“

Es berührte Hermann eigenthümlich, fast scharf, als er dieses Wort, das ihm zuvor so ernst durch die Gedanken gezogen, nun scherzweise und doch in gleicher Beziehung aussprechen hörte. Eine plötzliche Verstimmung überkam ihn, und er mußte sich einige Gewalt anthun, um in unbefangenem Tone weiter zu sprechen als er sich erhob:

„Wenn ich zur Theezeit wiederkommen darf, möchte ich mich jetzt empfehlen und von dem Zimmer Besitz ergreifen, das mir ein Camerad im englischen Club-Hause bestellt hat. Ueberhaupt giebt es für die nächsten Stunden noch allerlei zu erledigen.“

„Kommen Sie nicht zu spät!“ sagte die Frau Oberst, indem Hermann Abschied nahm. –

Als der junge Mann, durch verschiedene Begegnungen und Besorgungen länger in Anspruch genommen, als ihm erwünscht war, in das Kettler'sche Haus zurückkehrte, traf er am Theetische die Familie vollzählig, aber allein. Von der Tochter des Hauses lebhaft begrüßt, die ihn mit dem jungen Baumeister, ihrem Verlobten, bekannt machte, fand er sich vom ersten Moment an in reges Gespräch verflochten, kam aber nicht über das Gefühl heimlicher Enttäuschung hinweg. Erst als sich das Brautpaar in irgend eine Erörterung über künftige Haushaltungsangelegenheiten vertiefte, Frau Kettler mit gewohnter Geduld die unsterblichen Anekdoten ihres Logirgastes, eines alten Hausonkels, abhörte und Hermann sich nun ganz dem Hausherrn zuwenden konnte, fand er sich bald so gefesselt, daß er vergaß, was sein Herz bedrückte.

Oberst Kettler war eine jener prononcirten Naturen, die raschen und sicheren Eindruck erwecken, gleich dem kernigen Styl mancher Bücher; vielleicht war Hermann vor zwei Jahren noch zu unfertig gewesen, um die ganze Bedeutung dieser charaktervollen Persönlichkeit zu erfassen; jedenfalls wirkte dieselbe heute in weit stärkerem Maße auf ihn, als zur Zeit jener früheren Begegnung. Die machtvolle Gestalt des Obersten und sein edler Kopf standen kaum so ausdrucksvoll in des jungen Mannes Erinnerung, wie er beides jetzt bewundern mußte. Noch war die breite Stirn faltenlos, nur ein leichtes Ergrauen der Spitzen des schönen Bartes verrieth den beginnenden Fünfziger. Das classisch geschnittene, deshalb etwas strenge Gesicht wurde durch einen Zug von Milde um Mund und Augen eigenthümlich gesänftigt, oder war es ein Zug von Schwermuth? Frau Kettler's Aeußerung über die Verstimmung ihres Gatten kam Hermann wieder in den Sinn, während er mit dem Oberst sprach.

So kräftig, ja scharf Gedanken und Worte in seiner Unterhaltung sich ausprägten, so lebendig der hochgebildete Mann sich über Persönliches wie Allgemeines äußerte und jeder Idee, welche sein Gast berührte, gleichsam einen Gesellschafter gab, lauschte doch in dem stahlblauen Auge ein seltsam nach innen gekehrter Blick – wie eines Menschen, der sich anstrengt, allem Gegenwärtigen aufmerksam zu folgen, dabei aber auf ferne Töne hinhorcht, die ihn näher angehen dürften. Als er sich erhob, um Cigarren herbeizuholen, und Hermann das kaum merkliche, nur den Eingeweihten auffallende Nachziehen des beschädigten Fußes wahrnahm, wallte seine Sympathie lebhaft auf. Er begriff den Schmerz eines Soldaten, eines Mannes in reichster Fülle der Kraft, sich in solchem für sein Vaterland vielleicht kritischen Moment zur Unthätigkeit verdammt und höchstens auf eine jener Verwendungen Halb-Invalider beschränkt zu sehen.

Es schlug acht Uhr. Indem die Hausfrau um den Thee klingelte, rief sie bedauernd zu den Männern hinüber: „Jetzt kommt sie nicht mehr.“ In derselben Minute tönte die Hausglocke. Eine melodische Stimme wechselte draußen einige Worte mit dem alten Franz, und Ida schoß mit einer ihrer blitzschnellen Bewegungen zur Thür hinaus, um gleich darauf mit der Freundin zurückzukehren.

Hermann stand ihr gegenüber – dem Mädchen gegenüber, deren Bild ihn unablässig begleitet hatte, seit er von ihr geschieden war. Wenn diese Begegnung sie überraschte, kam das doch nicht zum Vorschein; die freundliche Bewillkommnung Paula Hollbach's klang sehr gelassen. Er selbst war zu befangen, um mehr zu erwarten oder etwas zu vermissen. Im Banne dieser großen poetischen Augen empfand er nichts als ihre Nähe.

Der Kreis bildete sich von Neuem; ein leichtes Gespräch schwirrte hin und wieder, während der Thee eingenommen wurde. Hermann saß den jungen Freundinnen gegenüber. Paula's Gestalt füllte ihm den Raum; Alles war ihm lichter geworden, jeder Einzelne liebenswürdiger, und das war in der That nicht bloßer Reflex eigenen Empfindens. Es giebt Menschen, die unbewußt für alle Uebrigen zum Mittelpunkt werden, sobald sie erscheinen – weit seltener durch hervorragenden Geist als durch einen herzgewinnenden Zug ihres inneren Wesens, der sich so wenig beschreiben läßt wie harmonische Klänge. Das junge Mädchen, deren Anziehungskraft hier so merklich auf Personen des verschiedensten Naturells wirkte, war kaum neunzehn Jahre alt und nicht von hervorragender Schönheit. Niemand konnte sich ungekünstelter ausdrücken, anspruchsloser benehmen als sie, und doch strahlte eine Wärme von ihr aus, die sich Jedem mittheilte. Unwillkürlich regte sich in Allen das Bedürfniß ihr Angenehmes zu erweisen und ebenso unwillkürlich nahm sich Jeder zusammen, der ruhigen Entschlossenheit gegenüber, welche ihre breite, weiße Stirn aussprach.

Bald nachdem der Thee eingenommen worden, erhob und verabschiedete sich der Hausherr; er entschuldigte sich mit der Nothwendigkeit, noch heute einen Geschäftsbrief vollenden zu müssen. Im Begriff das Zimmer zu verlassen, wandte er sich an der Thür zurück und sagte in formellem Tone: „Franz wird später das Fräulein nach Hause begleiten.“

„Das Fräulein?“ lachte Ida; „Paula, bist Du das?“

Paula antwortete nicht. Der bange Blick, mit dem sie dem Oberst nachsah, welcher eben die Thür hinter sich schloß, fiel Hermann auf und berührte ihn eigenthümlich. Die sichere, in sich geschlossene Natur konnte also auch demüthig sein. Er hielt sich nicht bei der Frage auf, was Kettler Anlaß gegeben haben mochte, dem allgemeinen Lieblinge des Hauses ein so kühles Wort zurückzulassen, daß Paula jedoch offenbar eine auf sich gerichtete Mißstimmung empfunden und sie so still hingenommen, verlieh ihr in den Augen des jungen Mannes einen neuen Reiz. Die Laune des Obersten, der jedenfalls Unrecht haben mußte, verdroß Hermann, ihm war, als müsse er dem lieben Mädchen dafür um so wärmer huldigen. Sein Auge sprach die Empfindung vielleicht allzu lebhaft aus, denn Paula erröthete unter seinem Blicke, und ein leiser Zug von Scheu trat auf die feinen Lippen. Mit jenem Hellseher-Instinct aller Liebenden empfand Hermann auf der Stelle, daß sie sich innerlich vor ihm zurückzog, und suchte nach einem unbefangenen Worte; schon hatte das Brautpaar von Neuem zu flüstern und der Onkel die Hausfrau in Beschlag zu nehmen begonnen.

„Sie werden Fräulein Ida sehr vermissen,“ sagte Hermann; „gewiß bangt Ihnen schon jetzt vor dem nahen Verlust. Freilich ist eine Braut der Freundschaft ohnehin schon halb verloren.“

„Das fürchte ich nicht,“ erwiderte Paula rasch mit einem warmen Blick zur Freundin hinüber. „Ich denke im Gegentheil, wenn man einen Menschen so recht innig lieb hat, liebt man Alles, was man sonst besitzt, doppelt treu und bewußt.“

„Zugegeben! Der Löwenantheil an solchem bräutlichen Herzen dürfte aber doch kaum mehr der Freundin gehören,“ scherzte er.

Sie lächelte. „Und was kommt darauf an? Ist Freundschaft denn ein Tauschhandel, bei dem man fragt, was Einem heimbezahlt wird? Der Löwenantheil bleibt immer Derjenigen, die festhält am Geben; das Empfangen folgt dann ganz von selbst.“

Das seelenvolle, heiter gesprochene Wort blieb für Hermann der Grundaccord aller Töne, welche noch im Verlaufe des Abends angeschlagen wurden. Es klang in ihm nach, als er in später Stunde unter dem sternbesäeten Nachthimmel, zwischen leise rauschenden Bäumen der Stadt zuwanderte. Der leise Athemzug der ringsum schlummernden Welt wurde ihm zum Echo der geliebten Stimme. Die Ewigkeit und der gegenwärtige Augenblick verschmolzen sich ihm zum gleichen Begriffe.




Es war etwa sechs Wochen später, an einem jener unbeschreiblichen Herbstnachmittage, welche in einem Glanze leuchten, der nicht von dieser Welt zu sein scheint. Hermann Barner schlenderte seinen Lieblingsweg am Kai entlang und ließ das Auge

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_289.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)