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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Frau hätte nachgesagt werden können. Zu unsittlichen Schritten sei es dabei sicher nicht gekommen. Ueberhaupt hätten darüber höchstens nur allerlei leichtfertige Mißverständnisse und grundlose Vermuthungen stattfinden können.

Ich würde gänzlich vermieden haben, hiervon nur das Geringste zu erwähnen, wenn ich nicht mehrfach erfahren hätte, daß gerade hierüber die schwersten und grundlosesten Verdächtigungen gegen meine Tante weit und breit Eingang gefunden haben.

Das tiefe eheliche Zerwürfniß zwischen dem Dr. Diede und seiner Frau nahm seinen Fortgang bis zum Ehescheidungsprocesse. Diesen hat, soweit ich habe erfahren können, nicht der Mann, sondern die Frau eingeleitet, ohne zu ahnen, was für unsägliche Widerwärtigkeiten, Aergernisse und Verbitterungen bei solchem Schritte vorzukommen pflegen, und wie selbst der gewinnende Theil noch Verlust dabei erleidet. Die Acten dieses Processes, der in Kassel geführt wurde, zu Gesicht zu bekommen, habe ich mich vergeblich bemüht. Die Doctorin Diede selbst aber hat gelegentlich, wie ich selbst aus ihrem Munde gehört, im spätern Leben mit tiefer Gemüthsbewegung und großem schmerzlichem Ernste sich dahin ausgesprochen: daß eine Frau lieber Alles in der Ehe ertragen, als zu einem Ehescheidungsprocesse gegen ihren Mann schreiten sollte. Das Ende war, daß sie Titel und Namen ihres Mannes beibehalten durfte, übrigens beide Theile voneinander geschieden leben und Jeder sein vor der Verheirathung gehabtes, in die Ehe mitgebrachtes Vermögen und Gut für sich als Eigenthum haben und behalten sollte.

Es kam für Charlotte eine schwere Zeit tiefer Noth und Dürftigkeit. Der General Wiederholt lebte nicht lange mehr. Seine Wittwe, ihre Freundin Luise, stand ihr noch zur Seite, verheirathete sich dann aber wieder an einen Mann Namens Lotheisen, der einen hohen Posten in dem Ministerium zu Kassel, wenn ich nicht irre im Finanzministerium, bekleidete; sie selbst starb auch frühzeitig. Als geschiedene Frau des Dr. Diede mochte Charlotte, so lange dieser dort lebte, nicht in Kassel bleiben. Sie hatte ihr ererbtes Vermögen an den braunschweigischen Staat verliehen. Dieser aber wurde von dem Königreiche Westphalen unter Jerôme verschlungen und mit ihm Charlottens ganzes Einkommen für ihren Lebensunterhalt. Sie hat davon nichts gerettet.

In ihrer Armuth zog sie zunächst zu einer damals noch lebenden Schwester ihrer verstorbenen Mutter, geb. Falkmann, oder vielmehr zu ihrem Stiefsohne, ihrem alten Freunde, meinem spätern Schwiegervater, dem Pastor Schönfeld nach Veelkirchen im Lippischen, bei dem jene auf der Pfarre wohnte. Dort konnte ihres Bleibens jedoch auf die Dauer nicht sein. Ihre Tante lebte nicht lange mehr. Meine Eltern in Lage waren auch nicht im Stande, besonders wegen der damaligen Unwohnlichkeit des Pfarrhauses und bei einer wachsenden Kinderschaar, ihr aus eigenen Mitteln das zum Leben Nothwendige zu geben. Um wo möglich und leichter, wie sie meinte, im Braunschweiger Lande selbst für die Wiedererlangung ihres Darlehns bei dortigen Staats- oder Landschafts-Cassen Schritte thun zu können, zog Charlotte nach Holzminden und wohnte eine Zeitlang daselbst. Das half ihr aber nichts. Später zog sie nach Göttingen, wo sie in dem Erdgeschoß eines Gartenhauses vor dem Woender Thore Wohnung fand, dessen oberes Stockwerk Studenten englischer Nationalität inne hatten, wie sie mir, da ich sie während der Jahre von 1824 bis 1827 von Göttingen aus als Student in Kassel zuweilen besuchte, mehrmals erzählt hat; sie zeigten sich anfänglich als rohe, ungezogene und wilde Burschen, wenigstens ihr gegenüber, bis endlich Einer derselben, Namens Stappelton, aus vornehmer Familie und selbst unter Curatel der berühmten englischen Minister Castlereagh und Canning, das Unglück hatte, in einer Schlägerei mit Handwerksburschen fast tödtlich verwundet zu werden. Da leistete die arme Charlotte, die für sich selbst hülflose Frau, dem reichen hülfsbedürftigen englischen Lordssohne, als ihrem Hausgenossen, Dienste einer wahren barmherzigen Schwester. Sie kam dadurch in unmittelbare Correspondenz mit den beiden genannten Curatoren ihres englischen Pfleglings. Ich habe später die betreffenden Briefe bei ihr in Kassel gesehen und gelesen. Aus diesen machte sie sich aber wenig im Vergleich mit ihrem größten Schatze, von dem sie, wie sie sagte, alle Tage lebe und zehre und der, neben der Bibel, ihren ganzen Reichthum und Trost ausmache: nämlich die Briefe von Wilhelm von Humboldt. Sie sprach mit einer kindlichen Freude davon, daß und wie der von ihr zu Göttingen in seiner Todesgefahr bis zur völligen Wiedergenesung gepflegte, früher so wilde und gegen sie rücksichtslose englische Studiosus Stappelton hinterher, so lange er und sie dort gewohnt hätten, gegen sie stets so zahm und sanft wie ein Lamm gewesen und nicht müde geworden sei, sich ihr dankbar, wie ein Kind, zu erweisen. Sie erinnerte dabei an das, was im Alterthum von Androclus in der Höhle des Löwen erzählt wird.

Schon in Göttingen hatte die Doctorin Diede ihren Lebensunterhalt durch Verfertigung künstlicher Blumen zu erwerben gesucht. Dies setzte sie mit noch größerem Fleiße fort, als sie schließlich wieder nach Kassel sich zurückbegeben hatte und dort die ersten Jahre nach ihrer Rückkehr in einem Gartenhause vor dem holländischen Thore, die letzten Jahre ihres höhern Alters aber in stiller Zurückgezogenheit von Leben und Welt vor dem Wilhelmshöher Thore wohnte. Anfänglich waren ihr noch alte dort lebende Freunde oder Freundinnen, z. B. die erst in hohem Alter verstorbene Frau Hofmaier, behülflich in der Verwerthung der von ihr fabricirten Blumen, welche nicht allein von den Damen am kurfürstlichen Hofe zu Kassel, sondern sogar am Hofe der Bourbonen gesucht und gern gekauft wurden, weil sie die gleichartigen Pariser Fabrikate an naturmäßiger Schönheit übertrafen. Dies kam daher, weil Charlotte ihre Blumen mit dem ihr eigenen wahren Kunst- und Schönheitssinne herstellte, für jede einzelne Blume, Knospe oder Blüthe, jedes einzige Blättchen, Gräschen und Federchen, oder was es sein mochte, in ihrem Garten umher natürliche Exemplare als Modelle suchte und gebrauchte und darnach das jedesmal originelle Kunstwerk mit echt genialem Künstlergeschmacke und geschickter Hand ausführte. Es war ein glücklicher Gedanke, daß Wilhelm von Humboldt ihr rieth, zur Abwechselung und Erholung von ihrer Arbeit einmal Karl Ritter's Erd- und Völkerkunde zur Hand zu nehmen und zu lesen; sie erfuhr dadurch, daß in ähnlicher Weise, wie sie selbst bei Verfertigung ihrer Blumen, auch die Verfertiger der echten kunstvollen Shawltücher in Kaschmir verfahren, indem sie für jedes einzelne Muster oder Gemälde in einem solchen Tuche ihre Modelle in der Natur selbst suchen und wählen aus den Spiegelbildern, welche in den krystallklaren Gewässern Kaschmiriens von den sie umgebenden reichen und reizenden Blumen- und Laubgewinden sich darstellen und, obwohl auf fließendem Grunde, für ein kunstsinniges Auge sich schauen und fassen lassen: ein freies künstlerisches Schaffen, welches ohne Zweifel sogar noch die mit Recht berühmten kunstvollen Stickereien der ehemaligen Gobelins zu Paris, die in dem Commune-Aufstande 1871 zerstört wurden, übertrifft.

Dadurch allein schon, daß sie jene Beschreibung der Entstehung und Herstellung echter Kaschmirischer Shawltücher in Karl Ritter's großem Werke gefunden und gelesen, fühlte sich die kunstsinnige Frau, wie sie mir einmal sagte, für alle Mühe, die ihr das Studium der Erdkunde von Karl Ritter verursacht habe, für ihre Person reich belohnt und ihrem verehrten verewigten Freunde, der ihr dazu geraten habe, zu beständigem Danke verpflichtet. Aber gerade ihre Genialität gereichte der Künstlerin, was auch sonst wohl schon oft bei wahren Künstlern der Fall gewesen ist, im Kampfe mit der Welt gewiß nicht wenig zu desto tiefer gefühltem Schmerz und Leid.

Wie ihr aus tiefster Noth durch W. von Humboldt’s Edelmuth Großmuth geholfen und sie von demselben bis an sein Lebensende unterstützt wurde, das ergeben dessen herrliche Briefe an sie nur zum Theil. So lange er lebte, hatte sie nicht von der drückenden Noth der Armuth zu leiden. Aber durch seinen am 8. April 1835 zu Tegel erfolgten Tod wurde sie von Neuem in tiefe Noth und in den für ihre hohen Lebensjahre doppelt schweren Kampf um’s Dasein gestürzt, zumal bei dem Umschwunge des Zeit- und Modegeschmacks ihr künstlerisches Schaffen nicht mehr so einträglich blieb wie früher. Davon zeugten seitdem in verstärktem Grade ihre Briefe an meine Eltern oder gelegentlich ihre persönlichen Aeußerungen gegen meinen Vater, meinen Schwiegervater und auch gegen mich selbst, wenn Einer von uns, was von Zeit zu Zeit geschah, sie in Kassel besuchte.

In ihrer tiefen Sorge kommt ihr der Lichtgedanke, die Briefe von W. von Humboldt durch den Druck zu veröffentlichen, aber zuvor faßt sie den Entschluß, dieselben im Original dem Könige

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_266.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)