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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 16.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


„Mensch,“ sagte Harro mit zornigem Gesicht zu dem Fabrikleiter, „Sie haben ein krankes, kraftloses Weib gemordet. Das vergebe Ihnen der Himmel, zu dem dieses Blut schreit!“

Bandmüller zuckte die Achseln. „Wozu sich echauffiren?“ meinte er gleichmütig. „Sie sehen, daß dieses Geschöpf ohnehin dem Tode verfallen war. Ich verstehe nicht, weshalb ich mich von dem wahnsinnigen Weibe wie ein Osterlamm abstechen lassen sollte; habe ich etwa nicht Grund gehabt, Nothwehr zu üben?“

„Weshalb haben Sie sich nicht damit begnügt, ihr den Dolch zu entreißen?“ fiel der Friese entrüstet ein.

Urban hatte den Kopf ein wenig erhoben und zu der am Boden Liegenden hinüber geblickt; jetzt sah er finster auf und sprach mit Anstrengung: „Vielleicht war dieses Weib doch nicht wahnsinnig. Sagten Sie nicht gestern erst, daß Sie einmal ein Abenteuer mit einer Zigeunerin gehabt hätten? Uebrigens liege ich hier als Gast und Pflegling derselben Familie, zu welcher auch jene Frau gehörte. Mir hat die Familie das Leben gerettet, und der Mann, welcher mich hier aufsucht, ermordet eines ihrer Glieder. Eine solche Erfahrung ist ohne Zweifel sehr geeignet, diese Leute zu weiteren Thaten der Menschenliebe anzufeuern. Ist dies dieselbe Zigeunerin, zu der Sie einst Beziehungen hatten?“

„Ich habe nichts von einer Aehnlichkeit bemerkt,“ erwiderte Bandmüller. „Was geht mich die alte Geschichte an? Ich bleibe dabei, daß ich mich im Stande der Nothwehr befunden, und muß es für verzeihlich halten, wenn ich derber zugefaßt habe, als vielleicht nötig war.“ Er sprach das so keck, aber in seinen Blicken blinzelte doch ein wenig Unsicherheit. „Wollen Sie mich begleiten, Herr Harro? Wir haben keinen Augenblick zu verlieren, wenn wir zu rechter Zeit in der Stadt sein wollen.“

Der Friese sah mit gerunzelten Brauen vor sich hin. „Gut, sagte er endlich. „Aber seien Sie überzeugt, daß ich Sie als einen Schandfleck für unsere Sache betrachte und daß ich Sie nur neben mir dulde, weil man die Hunde zur Jagd nicht entbehren kann. Sind Sie hiernach noch Willens, mir als Adjutant zu dienen?“

„Warum nicht?“ lachte Bandmüller gezwungen auf und sah mit tückischen Augen zur Seite. „Ein guter Jagdhund läßt sich prügeln ohne zu beißen und begnügt sich mit dem Trost, daß von der Jagdbeute einige Stückchen für ihn abzufallen pflegen.“

„Sie scheinen nicht an einem Uebermaß von Ehrgefühl zu leiden,“ sprach der Hüne und sah von oben herab halb verächtlich, halb verwundert auf den Fabrikleiter. „So kommen Sie! Auf Wiedersehen, Herr Doctor!“

„Einen Augenblick noch!“ rief dieser dem Abgehenden nach.

Der Friese kehrte um und trat an sein Lager.

„Ich kann hier nicht bleiben,“ sagte Urban. „Haben Sie die Güte, den Wirth in der Erlenfuhrt zu veranlassen, daß er mich in sein Haus schaffen läßt. Da die Chaussee, wie ich hoffe, noch heute unpassirbar wird, so muß ich wohl oder übel in dessen Hause liegen, bis mich meine Füße wieder tragen werden. Vielleicht habe ich morgen schon die Kraft hinüberzukommen. – Was den Aufstandsversuch betrifft, an dessen Spitze Sie treten werden, so – nun, so ist er mein Werk allein, gegen das Wissen Hornemann's und der übrigen Häupter unserer Partei vorbereitet, um diese zaghaften Seelen durch die vollendete Thatsache zu überraschen und in die Action zu reißen. Sie erinnern sich jener Nacht, in welcher Sie der Einzige waren, der mit mir die Idee verfocht, daß es an der Zeit sei, über den Rubikon zu gehen. Wohlan, der Aufstand ist in diesem Augenblick unvermeidlich, und da Jemand ihn leiten muß, wenn er zu dauernder Frucht führen soll, so werden Sie, wenn ich Sie recht kenne, sich nicht weigern, an meiner Stelle der Cäsar dieser Leute zu werden.“

„Bei allen Sünden der Tyrannei, Sie sollen sich in mir nicht getäuscht haben!“ rief der Friese.

„Noch Eins,“ fuhr Urban matt fort, „behalten Sie diesen Bandmüller scharf im Auge! Er ist ein Schuft, das ist mir vollkommen klar, und nicht erst seit heute.“

„Warum haben Sie sich mit ihm eingelassen?“

Eine leichte Röthe färbte das blasse Gesicht des Doctors. „Er ist brauchbar, und jeder General hat seine Spione.“

Harro nickte ihm zu, warf noch einen Blick voll tiefen Mitleids auf die todte Zigeunerin und verließ das Zelt.

Er ging schweigend und in Gedanken versunken neben Bandmüller her durch den feuchten, tropfenden Wald. Am Saume desselben schüttelte ein häßlicher, kalter Wind die Wipfel und schleuderte die Nässe von den Blättern über die Beiden; am Himmel jagten schwere, tiefgehende, zerfetzte Regenwolken unter einer einförmigen, nebelgrauen Decke. In der Nähe der Brücke begegneten die Beiden den zurückkehrenden Zigeunern, und zu Hause angelangt, ertheilte Harro dem erstaunten Wirth in geflügelten Worten die nöthigen Weisungen wegen der Ueberführung Urban’s, gab ihm seine Habseligkeiten in Verwahrung und händigte ihm ein in der Eile geschriebenes Billet an Milli ein.

Der Wagen fuhr vor; die Beiden stiegen ein, und fort ging es, der Stätte der Aufregung und Verwirrung entgegen. Bandmüller

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_257.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)