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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Harro nickte stumm, konnte es indessen doch nicht unterlassen, auf den Uferweg zu achten, so lange sie die Brücke noch nicht erreicht hatten. Plötzlich stand er still und zeigte mit der Laterne vor sich hin.

„Was ist das?“

Eine Stelle des trockenen, rissigen Weges war in auffallender Weise feucht. Auch der Rasen zwischen ihr und dem Flusse war naß und das Gras zeigte Lagerungen.

„Es wird von den Zigeunern sein,“ meinte der Wirth; „die braunen Teufel legen hier Nachtschnuren und werden sich bei der Gelegenheit eine Bütte voll Wasser mitgenommen haben.“

Sie schritten weiter. Vom Himmel begann in der That ein feiner Regen zu fallen, noch bevor sie das Wirthshaus erreichten; vom Mondschein war keine Spur mehr zu sehen. Harro legte seine Geräthe ab, ließ sich den Schlüssel zur Hausthür geben, die der Wirth nicht zu verriegeln versprach, und begab sich, von dem leisen Knurren der Hofhunde verfolgt, zu den beiden Mädchen.




14.


Es war immerhin seltsam, daß Harro nicht auf den Einfall gekommen war, zu guter Letzt doch noch bei den Zigeunern anzufragen, ob sie das zuweilen so wunderlich spielende Geschick etwa mit dem Unglücksfalle in Beziehung gebracht hatte.

Wer um den ersten Mondschein an der Stelle gewesen wäre, welche der Friese und sein Wirth zuletzt so aufmerksam untersucht, der hätte die Gestalten der beiden Männer, die wir schon von dem Besuche Urban’s und des Fabrikleiters bei den Zigeunern her kennen, gesehen, wie sie fast unhörbar auf den nackten Sohlen den Weg aus dem Walde herauf kamen. Der Alte trug ein Fangnetz auf einer Stange über der Schulter, der junge Mann ein Bündel und eine Holzbütte.

Sie tauschten am Ufer wenige Worte und begannen, in entgegengesetzter Richtung auseinander gehend, ihre Arbeit. Der Jüngere mit der Bütte und dem Fangnetze wandte sich der Brücke zu, indem er von Zeit zu Zeit das Netz in das Wasser tauchte und wieder heraus schnellte; der Alte ging mit dem Bündel dem Wasserfalle näher, entfaltete es und wickelte das Fadenwerk auseinander, worauf er aus einer Stelle des Gebüsches Steine hervorholte und die beschwerten Schnuren eine nach der anderen vorsichtig in die Tiefe warf. Die Arbeit des Letzteren nahm viel Zeit in Anspruch, wenigstens hatte sein Gefährte die seinige viel früher aufgegeben und kam mit seinem Geräth herauf, um zu helfen, als jener noch nicht zur Hälfte fertig war.

„Es lohnt nicht, Vater.“

„Wir hätten die Aalreusen mitnehmen sollen, Michal,“ entgegnete der Alte melancholischen Tones. „Wir haben Holz hier und können dörren für den Winter. Es wird eine dunkle Nacht werden.“

„So holen wir sie hernach noch.“

Der Bursche ging in der That nach einiger Zeit den Fluß hinunter in den Wald, und man konnte ihn noch eine Weile pfeifen hören, während der Alte, im Grase auf dem Rücken liegend, das Heraufziehen der Wolken beobachtete.

Da weckte ihn ein ungewöhnliches Geräusch, wie das eines hart aufschlagenden schweren Gegenstandes, aus seiner bequemen Lage. Wie der Blitz richtete er sich halben Leibes auf und wandte den Kopf nach dem Falle hinüber. Er sah eine dunkle Masse aus dem wogenden Gischt auftauchen, verschwinden und wieder auftauchen, ein Ding, welches so ziemlich einen Kahn darstellte und welches, endlich auf eine ruhigere Oberfläche gelangend, pfeilschnell an ihm vorüber geführt wurde. In demselben Moment erregte etwas Anderes seine Aufmerksamkeit: am Falle oben schwankte zwischen Wasserstürzen eine menschliche Gestalt, welche plötzlich hernieder gerissen wurde, einige Zeit unsichtbar war und dann gleichfalls, wie zuvor der Kahn, im strudelnden Wasser trieb.

Der Zigeuner sprang auf, raffte das Fangnetz vom Boden und rannte, so schnell er konnte, am Ufer hin. Dabei überflog sein Auge den Zug der Strömung, in welcher der Körper schwamm. Mit gewaltigen Sprüngen überholte er denselben und faßte dann ein Stück hinter der Brücke Posto.

Seine Berechnung hatte ihn nicht getäuscht; das menschliche Wesen im Wasser kam hier dem Ufer so nahe, daß er mit dem vorgestreckten Netze im Stande war, es aufzuhalten. Aber dasselbe vollends heranzuführen, dazu reichte seine Kraft gegenüber derjenigen des Stromes nicht aus, er spannte alle Muskeln an, aber sein Arm begann endlich zu erlahmen, als er in der Noth plötzlich vom Waldwege her Schritte vernahm. Er stieß laute Rufe aus und einen Augenblick später stand der Zigeunerbursche neben ihm.

„Michal, ein Mensch! Hilf mir das Netz festhalten!“

Den vereinten Anstrengungen gelang es, den Körper an das Land zu ziehen. Da lag der Doctor Urban. Der Mond beschien den Starren, Leblosen, und das Wasser rieselte aus den Kleidern und Haaren auf den Rasen herab. Der Zigeuner und sein Sohn beugten sich knieend zu ihm nieder, um eine Spur Leben zu erhorchen, und zehn Schritte davon stand die braune Juschka mit dem glänzenden Linnenhemd um den Oberkörper und dem dunkelrothen Rock, der von den Hüften niederfloß. und blickte auf die Aalreusen zu ihren Füßen.

„Ist er todt?“ fragte sie ohne aufzusehen.

„Geh’ in’s Zelt zur Mutter!“ gab der Bursche zur Antwort.

„Sorg’, daß das Feuer nicht abstirbt!“ fügte der Alte hinzu.

Sie warf im Scheiden einen neugierig-schüchternen Blick auf den Daliegenden und tauchte dann in die Gebüsche.

Vater und Sohn sahen sich einen Moment forschend an.

„Es ist besser, Michal, wir tragen ihn an das Feuer. Wenn er lebendig wird, so wird er sehr freigebig sein. Ich spüre noch Athem,“ sprach der Alte, die Blicke niederschlagend.

Der Bursche nahm, ohne ein Wort zu sagen, die Beine des Verunglückten vom Boden auf, während der Alte am Kopfe anfaßte; ein leises Stöhnen machte ihn stutzig.

„Er lebt, und er muß verwundet sein; ich fühle etwas Warmes und glaube, daß er blutet.“

Sie luden den schwerfälligen Körper so sorglich wie möglich auf und trugen ihn in das Dunkel des Waldweges. Nach Verlauf von einigen Minuten bogen sie auf eine schmale Wiese ein, auf welcher die dunkle Silhouette des Wagens und das im Grase lagernde Pferd erkennbar waren. Ein leises Knurren, welches lebhafter wurde, als die Beiden mit ihrer Last sich näherten, verrieth, daß die Hunde gegenwärtig waren.

„Schlage das Zelt auf, Juschka!“ rief die Stimme des Burschen schon von Weitem.

Ein Feuerschein fiel auf die Wiese.

Die Zigeuner, welche sich mit dem kranken Weibe in diesem Waldasyle niedergelassen, hatten dem längern Aufenthalte entsprechende Vorkehrungen getroffen. Zwischen fünf Bäumen und mit deren Benutzung war durch Stricke und Tücher, soweit die letztern gereicht hatten, theilweise auch durch Zuhülfenahme von Reisig ein Bau, halb Zelt, halb Hütte geschaffen worden, der einen ziemlichen Raum einschloß. Der Anwesenheit Harro’s im Wirthshause und der Fürsprache desselben bei dem Wirthe, welcher zugleich die obrigkeitliche Person in der Erlenfuhrt darstellte, hatten es die Zigeuner zu danken, daß man sie unbehelligt gewähren ließ.

Ein mächtiges Feuer flackerte in dem Raume; der Rauch zog durch eine Oeffnung in der Decke ab. In einem Winkel blickte das abgezehrte Gesicht der Kranken mit den hektisch glänzenden, schwarzen, tief eingesunkenen Augen zwischen Decken hervor, die theilweise nicht mehr als Lumpen waren. Die braune Juschka lehnte an dem Buchenstamme zur Seite des Eingangs und hielt die Leinwand des aufgeschlagenen Vorhangs zwischen den Fingern. Langsam und vorsichtig ließen die Zigeuner den Körper vor dem Zelte nieder, daß das bleiche, edle Gesicht des Doctors, dessen Augen geschlossen waren, zu den Füßen des Mädchens im Feuerscheine zu liegen kamen.

Die Frau im Zelte begann heftig zu husten, und der Ton erstickte den kurzen Ausruf der Ueberraschung, den die junge Zigeunerin ausstieß. Sie beugte sich lebhaft zu dem Gesichte vor ihr hinab und prüfte aufmerksam die Züge mit wunderbar wechselndem Mienenspiele.

„Ich kenne ihn,“ sagte sie, als die Frau ruhig geworden war. „Und Ihr kennt ihn auch; sieh her, Michal!“

Die Männer betrachteten Urban, und der Bursche schnippte plötzlich mit den Fingern. „Der Arzt, Vater, der bei der Stadt Abends mit einem Andern am Wagen war.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_242.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)