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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


fügte er weicher hinzu. „Ich habe heute Abend das volle Gefühl gehabt, daß ich unselig bin ohne Dich, daß mein Leben eine lechzende Wüstenwanderung sein würde, wenn ich Deine wunderbaren Augen nicht sehen, Deine königliche Gestalt nicht zuweilen umschlingen darf. Warum hast Du mich von Dir gestoßen wie einen Stein, den man aus dem Wege räumt? Hast Du mich nie geliebt? Ich frage Dich das Eine nur: hast Du mich nie geliebt?“

Sie hob das Gesicht empor, auf welches der volle Mondenglanz fiel, und es sah herb und kalt aus. „Du weißt das so gut wie ich,“ erwiderte sie mühsam athmend; „welchen Nutzen soll es haben, die Geister von Todten zu beschwören, die nie wieder Blut und Leben haben werden? Nie wieder! Hörst Du wohl? Eher werden die Berge hier sich über den Fluß neigen und einander küssen, ehe unsere Lippen einander wieder begegnen.“

„Warum? Bei allen Heiligen warum? Mache mir das begreiflich, überzeuge mich von der Nothwendigkeit! Vielleicht, daß Du eine solche siehst, wo gar keine vorhanden ist. Mein Kopf ist erfinderisch; ich will Tag und Nacht brüten, ich will Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um einen Ausweg für Dich zu ersinnen; vielleicht auch, daß ich einsehe, es mußte so kommen, wie es gekommen ist – dieses gespensterhafte, formlose Ungewisse, das mich von Dir trennen soll.“

Sie schwieg.

Er trat in die Mitte des Kahns, ohne Notiz davon zu nehmen, daß das Fahrzeug in bedrohliches Schwanken gerieth.

„Mädchen,“ fuhr er leidenschaftlicher fort, „Du mußt reden; ich habe ein Recht, es zu verlangen. Ich habe mir Dein Vertrauen erkauft und gezeigt, daß ich zu jedem Opfer für Dich bereit war. Um Deinetwillen habe ich einen Gewaltstreich nicht gescheut, der mich meinen besten Freund, meine liebsten Pläne und wahrscheinlich mehr noch gekostet haben würde –“

„Um meinetwillen?“ fragte sie langsam. „Das ist bitter.“

„Klaube nicht an Worten!“ fiel er ein. „Du siehst selber ein, daß ich nicht die Absicht haben kann, Dich zu beleidigen. Aber ich will Klarheit, Klarheit um jeden Preis. Willst Du sie mir geben?“

„Nein,“ sagte sie nach einer Pause. „Ich darf nicht. Ich bitte, daß Du diese peinliche Unterredung abschneidest, welche Du zu erzwingen rücksichtslos genug gewesen bist. Ich muß die Liebe zu Dir ausrotten, Wurzel für Wurzel. Laß mir wenigstens die Achtung vor Dir!“

„Milli,“ schrie er auf und sank im Kahne nieder, und mit dumpfer Stimme fügte er hinzu: „Habe Mitleid, tritt mich nicht mit Füßen! Ich bin ein hochmüthiger Mensch, und ich weiß das; es kann sich Niemand rühmen, mich gebeugt zu haben. Aber in dieser Stunde – nun gut, in dieser Stunde will ich Alles ertragen, so lange ich noch einen Funken von Hoffnung habe. Laß mich alle Qualen aus Dante's Hölle kosten, Alles, was die Inquisition ersonnen hat, um einem Menschen die Erde zu verleiden – aber sei wieder mein! Laß uns weit von hier gehen, wohin keine Kunde von diesem Erdenwinkel dringt! Meine Wissenschaft ernährt uns, und wir wollen uns tagtäglich vormalen, wie glücklich die Menschen hier ohne uns sind, bis wir beide daran glauben. Du rettest eine Seele. Es wohnen böse Geister in mir, halb Schlangen, halb Skorpionen, und sie haben zu schwärmen angefangen, seit Deine süße Stimme sie nicht mehr bannt: werde mein Weib, und der Himmel hat einen Bürger mehr. Willst Du, Milli, Geliebte?“

Sie stöhnte aus tiefster Brust; ihre Augen brannten, und um ihren Mund zuckte es wie verborgenes Weinen. „Allmächtiger, was muß ich ertragen!“ sagte sie, und „Nein!“ fuhr sie auf, sich zu voller Höhe emporrichtend. „Hast Du denn kein Erbarmen mit mir? Begreifst Du nicht, daß ich nur thue, was ich thun muß? Glaubst Du nicht, daß mein Herz, zerrissen und blutend, mich mehr verklagt hat, als Du es kannst, und bedarf es noch eines Fingers, der mit Wollust in den Wunden wühlt? Fahr' mich an's Land! Mir ist elend zum Sterben.“

Er sprang auf, noch immer das Ruder in der Hand. Der Kahn bewegte sich auch ungetrieben vorwärts, von der Strömung getragen, und das Rauschen des Wasserfalles kam langsam näher.

„Sterben,“ wiederholte er langsam und nachdenklich; „ein schöner Gedanke! Was meinst Du dazu, mein eigensinniger Engel? Wenn ein schlechter Erzähler in der Geschwindigkeit den Knoten nicht zu lösen weiß, dann läßt er den deus ex machina erscheinen mit dem durchsichtigen Knochenleibe und der Hippe und zerschlägt ihm das Stundenglas, damit er glauben soll, es sei abgelaufen. Hörst Du es dort branden? Wie, wenn das die Wellen der Ewigkeit wären, welche an das Ufer des Diesseits schlagen? Wir fahren langsam, um einander geschlungen, näher und näher – kein Laut, kein Sträuben – und das unersättliche Jenseits hat wieder ein Stückchen Diesseits verschluckt. Wie? Es wäre wahrhaftig nicht der schlechteste Bissen.“

„Heinrich, Du bist wahnsinnig. Gieb mir das Ruder!“

Sie stieg rasch über einen Sitz und griff nach dem Werkzeuge, um es ihm zu entreißen, aber er hielt es hinter den Rücken, weit von sich ab.

„Wahnsinnig?“ fragte er, die Zähne zusammen beißend. „Das ist ein ganz unzutreffender Ausdruck, Mädchen. Ich bin entschlossen zum Aeußersten, aber ich habe meine fünf Sinne beisammen. Ich lasse Dich diesem Zehren nicht. Du hast mich bis zur Verzweiflung gereizt, und nun will ich entweder ein Gott sein oder ein Teufel. In beiden Fällen schiert es mich wenig, ob sie morgen zwei Stunden von hier Revolution haben werden oder nicht. Siehst Du das Ruder, Liebchen?“ – und er hielt dasselbe noch hinter sich in die Luft. „Wenn ich es von mir schleudere, ist die Brücke hinter uns abgebrochen, oder es geschieht ein Wunder. Willst Du mein Weib werden – ja oder nein?“

Sie kreuzte die Arme über die Brust. „Jetzt unter keiner Bedingung,“ sagte sie verächtlich.

„Milli“ – seine Stimme klang noch einmal warm und leidenschaftlich – „ja oder nein?“

„Nein!“

„Nun dann –“ rief er außer sich, und das Ruder flog in mächtigem Schwunge weit ab in das aufblitzende Wasser.

„Nun bist Du mein,“ sagte er mit wilder Freude. „Untrennbar, ewig, ohne Rettung.“

„Glaubst Du, Mörder,“ sprach sie. „Es käme auf einen Versuch an.“

Einen Augenblick sah er ihr Antlitz dicht vor sich, daß ihr Athem ihn berührte. Dann schwang sie sich leicht auf das Sitzbrett; er griff nach ihr, aber er faßte in die leere Luft. Wie Schwanengefieder blinkte ihr weißes Kleid über der Wasserfläche – dann schlugen die aufwallenden Wogen über ihr zusammen, während der Kahn, von ihrem Fuße abgestoßen, ein ziemliches Stück seitwärts flog.

„Heiliger Gott!“ schrie Urban, der taumelnd das Gleichgewicht verlor und auf den Boden des Fahrzeugs niedersank.

Er blickte mit gierigen Augen nach der Stelle hinüber, wo sie wieder auf die Oberfläche tauchte. Er hörte nichts von den angstvollen Hülferufen, die vom Ufer her geisterhaft herüberklangen. Er sah nur die weißen Arme einen Moment sich über das Wasser heben und den stolzen Körper sich ruhig bewegen; kein Hasten, kein Ringen – nur ein glattes, gleichmäßiges Schwimmen.

Seine Blicke irrten unsicher umher.

„Sie kann schwimmen,“ sprach er vor sich hin, „und ich werde allein zu Grunde gehen.“

Er beobachtete, wie die Entfernung zwischen ihm und ihr sich vergrößerte und wie sie stoßweise weiter gelangte, und es fiel ihm ein, daß sie die Kunst, welche sie aus seinen Händen rettete, in der Pension gelernt; sie hatte das einmal gelegentlich gegen ihn ausgesprochen.

„Hurrah!“ tönte es vom Ufer her, „nur Muth! Es geht wahrhaftig.“

Urban horchte auf. „Der Friese,“ murmelte er überrascht, „das muß seine Stimme sein. Wie kommt der Mann hierher?“ Eine Combination blitzte in ihm auf: wie, wenn es nicht Zehren war, der ihm Emilie geraubt, sondern der hünenhafte, blondlockige Demagoge? Lag da ein Geheimniß vor, von dessen Existenz er bisher keine Ahnung gehabt?

Er lachte bitter. „Der Eine oder der Andere – gleichviel. In fünf Minuten werde ich Alles oder Nichts wissen.“

Die Strömung riß den Kahn zusehends rascher vorwärts; er hörte das hohle Brüllen des Falles ziemlich nahe und sah deutlich die weißliche Nebelwolke, die über demselben in der Luft schwebte. Er sah auch, daß die dunkle Wand am Horizont hoch aufgestiegen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_223.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)