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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Wie ein geängstigtes Kind klammerte sie sich mit Händen und Füßen an den Thürflügel an. Ich hätte Gewalt anwenden müssen, um sie zu entfernen, und in ihren Verhältnissen war Gewalt unmöglich.

„Wie kommen Sie zu dem Gifte? Sie hören, es ist Belladonna – der Inhalt dieser Flasche!“

„Stirbt man davon?“ – fragte sie mit einer Art naiven Entsetzens.

„Wie kommt es in Ihren Toilettentisch?“

Keine Antwort. Sie hielt ihre Lippen fest aufeinander gepreßt; ihre Augen blickten furchtsam, neugierig und unstät von Sibylle zu mir, von mir zu Sibylle, und plötzlich lösten sich die krampfhaft packenden Finger; ehe ich es hindern konnte, suchte sie ihr Heil in besinnungsloser Flucht. Ich eilte ihr nach, über Corridore, Hallen, Treppen, auf und nieder, bis sie mir plötzlich doch entschwunden war und ich auf einer Hintertreppe stand, die zu den Bedientenräumen gehören mußte und die ich langsam hinabstieg. Da huschte es im Dunkel leise an mir vorbei und meine umhertastende Hand erfaßte Frauenkleider. Ich zog die zitternde Gefangene bis an’s nahe Corridorfenster, durch welches das geisterbleiche Mondlicht fiel. Ich blickte in ein todtenbleiches, verstörtes Gesicht einer hübschen, etwa dreißigjährigen Frau, ein Gesicht, das in diesem Augenblicke wie das böse Gewissen selber aussah. Die eine Hand hielt das Weib, fest zur Faust geschlossen, scheu zurück. Ich schenkte diesem Umstande damals wenig Beachtung. Diese an sich so bedeutungslosen Dinge und mir erst später wieder eingefallen, als sie zur Klärung des fürchterlichen Geheimnisses mit unberechenbarer Tragweite in’s Gewicht fielen. O, wäre ich nicht achtlos daran vorübergegangen, welche entsetzlich martervollen Stunden und Tage hätte ich uns Allen erspart!

„Wer sind Sie?“ herrschte ich mein Gegenüber ungeduldig an.

„Ich bin Christine, die Köchin,“ gab die Geängstigte mit zitternder Stimme zurück. Ich hörte ihre Zähne aufeinanderschlagen.

„Sie zittern ja an allen Gliedern, Frau! Wovor ängstigen Sie sich?“

„Herr – Professor – Sie haben mich – zu Tode erschreckt,“ stotterte sie.

Ich fragte, was sie nach Mitternacht da draußen gewollt habe, und sie entschuldigte sich damit, daß sie das Stubenmädchen habe wecken wollen, welches jenseits des Hofes schlafe, weil ihr ganz allein da unten im Souterrain so bange geworden sei. Ich gab sie natürlich frei, und mit einem tiefen Knixe wünschte sie mir „Gute Nacht!“ und ging ihrer Wege. Gleich darauf hörte ich die Thür nach dem Hofe knarren, während ich hastig die Treppe wieder hinaufstieg. Um Athem zu schöpfen, hielt ich einen Moment auf einem der Treppenabsätze an, und da ich gerade vor einem der Bogenfenster stand, blickte ich mechanisch hinaus und hinunter in den Küchengarten, der sich todtenstill da unten ausbreitete.

Wie eine scharfgeschnittene Silhouette hob sich eine menschliche Gestalt von dem Nachtdunkel ab. Sie jagte wie gehetzt dahin, und mir war es, als öffne sich plötzlich eine Hand und schleudere etwas von sich auf einen Kehricht- oder Schutthaufen, der seitwärts lag. Ich konnte mich aber auch geirrt haben. Eine optische Täuschung war bei dem unsichern Lichte nicht unwahrscheinlich.

Kopfschüttelnd ging ich weiter. Oben begegnete mir der alte Haushofmeister. Das alte Gesicht drückte tiefe Erschütterung aus; die treuen Augen standen voll Thränen. Er war in der Stimmung, die zur Mittheilung geneigt macht. Ich brachte ihn, den sonst aus lauter Respect so Schweigsamen, leicht zum Sprechen über Vergangenheit und Gegenwart.

Wie hatte er und die übrige Dienerschaft so schnell von dem Tode seines Gebieters erfahren?

Während wir in Blanche’s Schlafzimmer Nachforschungen hielten, mußte der Oberst erwacht sein und den einsamen Todten gefunden haben. Er hatte den wachhabenden Officier und die Ordonnanz heftig herbeigeklingelt und alle Diener alarmirt, um nach herbeiholen zu lassen.

In rührender Anhänglichkeit sprach der alte Diener (ein Diener, wie wir sie nur noch vom Hörensagen kennen) von dem Verstorbenen. Er war ein guter, gerechter, ein strenger und doch wieder milder Herr, ein Mensch in der schönsten Bedeutung des Wortes gewesen. Um Sibyllens Bild, die zu ihrer Vertheidigung mir so einfach von ihren langjährigen treuen Diensten im Falkenstein’schen Hause gesprochen, woben seine Worte voll warmer Begeisterung einen wahren Glorienschein. Sie war die beste Frau unter der Sonne. Herb im Wort und im Aeußern, trug sie das weichste Herz unter der rauhen Hülle. Unter der demüthigen Rolle der Dienerin hatte sie wie ein Fels in unerschütterlicher Treue, Redlichkeit und Kraft in all den dunklen Stunden seines Lebens helfend, rathend, stützend und nichts für sich beanspruchend, als ihm nützlich zu sein, an Falkenstein’s Seite gestanden. Seine geliebten Frauen, zarte, schöne Wachspuppen, hatte sie in unermüdlicher Selbstverleugnung mild und opfermuthig in ihren schweren Leiden gepflegt, zufrieden, daß sie ihm die Mühen abnahm, und der Lohn für all die unsägliche Opferfreudigkeit war feindseliges Verkennen ihrer redlichen Absichten. Ich sah, der Mann hätte mehr sagen können, als er wollte, da er plötzlich schwieg. All meine Anstrengungen, etwas über Blanche’s Leben und Treiben zu erfahren, scheiterten an seiner respectvollen Zurückhaltung.

Gewohnheitsgemäß stäubte und rieb er an meinem Reiseanzuge herum, der durch die Nachtwache wohl arg gelitten haben mochte, und mechanisch blickte ich auf etwas, das unter seiner glättenden Hand von meinem Aermelaufschlage herabfiel. Es war ein schmutziggrünes, sammetartiges, etwas klebriges Blättchen mit kurzen weißen Haaren, das ich gedankenlos vom Boden aufhob und wieder flattern ließ, ohne mir einen Augenblick Gedanken darüber zu machen, auf welche Weise sich dasselbe an meine Kleider geheftet haben könne.

Ich dankte dem alten Manne, als er mir die Thür des Arbeitszimmers öffnete, und eintretend bat ich ihn, zu versuchen, ob er Fräulein Unruh auffinden könne; er möge sie ersuchen, zu mir zu kommen.

Die Rolljalousien waren aufgezogen; die fahle Sommerdämmerung kämpfte mit dem Kerzenglanz des vielarmigen Leuchters auf dem Tische. Mit auf dem Rücken gefalteten Händen ging der Oberst im Zimmer auf und nieder. Ich bereitete ihn auf eine sehr peinliche Mittheilung vor. Dann erzählte ich ihm haarklein alles Vorgefallene.

Er blieb stumm. Ich sah ihm die tiefe Erschütterung, das tödtliche Erschrecken an.

„So Fürchterliches hatte ich nicht erwartet,“ sagte er endlich. „Gegenstandslose Angst hat mich freilich gefoltert, als ich gestern Abend den – den – Schurken hier vom Fenster aus um’s Schloß schleichen sah. Ich habe ihn auf den ersten Blick erkannt. Mein armes, unglückliches Kind! Wie auch der Schein gegen Blanche sprechen mag, Sie dürfen, Sie können nicht glauben, daß sie eine verbrecherische Hand an jenes edle Leben gelegt. Der Mann hat sie geliebt; er hat sie auf Händen getragen. Die Menschlichkeit selbst empört sich gegen die grauenhafte That, und meine kleine Blanche“ – er wurde weich; Thränen zitterten in der männlichen Stimme – „sie, welche keiner Fliege etwas zu Leide thun konnte, die als Kind die Blumen unter die Blätter flüchtete, damit ein Wind sie nicht zerrisse; sie, welche die mutterlosen Sperlinge zärtlich an ihr kleines Herz nahm und auffütterte, sie sollte … O, es ist nicht auszudenken. Professor“ – er rüttelte mich an beiden Schultern – „stehen Sie nicht so steinern, so stumm da, sprechen Sie, lassen Sie mich nicht wahnsinnig werden! Denken Sie doch, wie ich jahrelang jene hochherzige Frau verkannt – der ich schweres Unrecht abzubitten habe. Können Sie sich nicht auch irren? Rufen Sie Sibylle herbei! Sie muß Blanche’s Leben besser kennen als wir; sie muß uns helfen können; sie muß wissen, daß mein Kind keines Verbrechens fähig ist.“

Sibylle mußte die Worte gehört haben. Still, mild und ernst – ernst wie das Gericht, stand sie vor dem verzweifelten Vater und streckte ihm eine Hand hin. Er griff mit beiden Händen ungestüm danach und blickte ihr voll Todesangst in die schwermüthigen Augen. Er war außer sich; er wollte sein Urtheil von diesem Antlitze ablesen. Sie ertrug diesen Blick gefolterter Seelenpein nicht; schwerathmend wandte sie den Kopf ab – stöhnend ließ er die Hände fahren.

„Es kann nicht sein; es kann nicht sein!“

„Es ist, Waldow – wenn nicht ein Wunder geschieht,“ sagte ich scheu.

„Laßt uns berathen, was nun zu thun ist!“ Die bescheidene Dienerin hatte sich mit ruhiger Selbstverständlichkeit zum Herrn der Situation gemacht. Ihre klare Besonnenheit beherrschte uns Alle; sie gab selbst dem unglücklichen Vater einen Rest der Fassung zurück.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_218.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)