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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Ein dämmender Sommerabend war hereingebrochen, als wir unser hastiges Souper beendet hatten. Ich ging noch einmal zu meinem Kranken und trat dann hinaus auf die Veranda mit dem Bemerken: daß ich noch eine Cigarre im Freien zu rauchen wünsche, wenn der Oberst eine Viertelstunde die Wache im Arbeitszimmer übernehmen wolle.

Was mich hinaustrieb, das war eine dunkle gegenstandlose Furcht für Blanche.

Ortsunkundig, wie ich war, wandelte ich hastig die sanfte Abdachung hinab und hielt dort kurze Umschau. So weit das Auge die Dämmerung durchdringen konnte, spannte ein wundervolles Landschaftsbild sich vor mir aus. Eine Hügelkette, die duftblau den Horizont begrenzte, schlang sich gleichsam im Kranze um das Plateau, auf dem die Schloßburg stand. Niederwärts stieg malerisches Rebengrün, unterbrochen von glührothem Bastardgeranke, und um mich her durchleuchtete es das Halbdunkel blutroth. Wir waren in voller Rosenzeit; die purpurne Napoleonsblume lag hie und da wie ein Blutfleck zwischen dem kurzgeschorenen Sammet des englischen Rasens. Die Fontaine sprühte ihre glitzernden Tropfen darüber aus, und die Nachtigall schluchzte sehnsuchtsvoll hinein in die duftberauschende Atmosphäre.

War das eine Nacht zum Sterben? Werden und Vollendung athmete die ganze Natur und – Genießen in vollen Zügen. Genießen raunte es geheimnißvoll durch Busch und Halm; der murmelnde Quell rauschte es, und der Leuchtkäfer im Grase flüsterte es den biegsamen Halmen zu. Da oben im düstern Gemach aber rang Einer zwischen Leben und Sterben.

Mich überlief es fröstelnd in der gluthathmenden Juninacht; tief bewegt schritt ich auf und ab.

Still! Was war das? Ein Schrei, ein matter Hülferuf?

Durch niedriges Rebengrün bahne ich mir, mitleidslos Alles niederstampfend, was mir entgegensteht, den Weg abwärts und eile den Weinberg hinab. Aber ein Anderer ist mir zuvorgekommen. Weiß, hoch, gespenstisch groß, hetzt es von jenseits in weiten Sätzen hinab, wie umflattert von weißer Wolke.

Die Sichel des ersten Mondviertels steht im Azur des blassen Sommerhimmels. Ich bin vor der Lichtung angekommen, die sich am Fuße der Berge hinbreitet. Aber nicht weit sieht das Auge; vor mir, von Buchen, weißleuchtenden Birken und Erlen umstanden, streckt sich in regungsloser Ruhe ein Weiher aus. Wasserlilien schaukeln zwischen saftschwerem Blätterkranze auf schlankem Stiele träumerisch auf und nieder; Schilf zittert empor bei jedem Windeshauche, und die Espe taucht, vom Ufer hinabgeneigt, ihr graciöses Hängegezweig in die Fluth. Noch habe ich den Steg nicht erreicht, der über die Tiefe führt; unter dem dichtesten Gewirr der Wasserpflanzen sehe ich es dahintreiben, wie das goldene Haar einer Frau. Aber auch zwei weiße Hände sehe ich, die aus dem Wasser hervorblicken und verzweiflungsvoll das morsche Holz des Steges umklammert halten. Noch ein schwacher Hülfeschrei, und die ermattenden Finger geben die Stütze frei – der Körper treibt, von unterseeischen Strudeln fortgerissen, in die Mitte des Wassers. Da hat die weiße Kolossalgestalt fliegenden Fußes die Mitte des schwankenden Brettes erreicht. Das Holz ächzt förmlich auf unter dem festen Tritt. Eine Viertelsecunde, und die Fluth zieht große Kreise um den schweren Körper, der sich hinabgestürzt; der Arm, der kräftig die Fluthen theilt, reißt die Wasserlilien herab, und als sie tropfenfunkelnd wieder emportauchen, hat sich der kühne Schwimmer schon um ein paar Fuß durch das Pflanzengeranke gekämpft, das sich polypenartig um Fuß und Gestalt schlingen will. Die Hand greift aus und zieht an den goldenen Haaren den Körper heran, der eben im Begriff ist unterzusinken, und nun stehe ich selber auf dem kippenden Stege und ziehe mit übermenschlicher Kraft die doppelte Last empor, und auf dem schmalen Brette, das unter der dreifachen Last knarrt und knackt, erreichen wir glücklich das sichere Ufer.

Die starkknochige Gestalt, an welche das weiße, durchtränkte Nachtkleid sich eng anlegt, stellt die Frau, die sich in wahnsinniger Angst an sie angeklammert hielt, mit zorniger Ungeduld auf die Füße.

„Bringen Sie sie nach Hause!“ sagte Sibylle verächtlich. „Ich muß zu ihm zurück. Tragen Sie keine Sorge! Sie hat an dem einen Versuch genug; sie fürchtet sich vor dem kalten Bade, sonst hätte sie nicht um Hülfe gerufen. Solche Menschen wissen nicht einmal würdig zu sterben.“ Sie wandte sich zornig noch einmal der zitternden Frau zu, die in rührender Zerschmetterung ihr die gefalteten Hände flehend zugestreckt hielt.

„Sie sind eine schlechte Frau. Versuchen Sie wenigstens Mutter zu sein!“ sagte sie brüsk.

Sie eilte phantomgleich fort, wie sie gekommen war, aber dann wandte sie sich noch ein Mal zu uns um und herrschte uns gebieterisch an:

„Gehen Sie durch den versteckten Eingang!“ sagte sie mit unsäglicher Bitterkeit, „Sie kennen ihn ja. – Achten Sie wenigstens seinen Willen und erhalten seinem Kinde einen unbetasteten Namen! Daß keiner der Diener Sie in diesem Aufzuge erblickt!“

Sie war wieder fort, und wir waren allein. Mit einem schluchzenden Aufschrei warf Blanche sich in das thaufeuchte Gras, aber ich zog sie sanft überredend wieder zu mir auf. Was sie auch verbrochen haben mochte – unsägliches Mitleid mit diesem geknickten, hülflosen Kinde überfluthete meine ganze Seele.

„Bedenken Sie, Blanche, daß Sie Mutter sind!“

Wie im Gebet schlangen sich ihre Hände leidenschaftlich zusammen, und es erhob sich ein Gesicht, in dem grenzenlose Verzweiflung stand, gen Himmel. Sie stöhnte leise. „Vater, erbarme Dich meiner!“

„Blanche, Ihr Kind!“ mahnte ich noch einmal leise, als sie wie irrsinnig immer nur empor sah, während es den zarten Körper unter den triefenden Kleidern schaudernd durchrieselte. Sie nickte geduldig. „Ich muß fortleben,“ hauchte sie müde; dann hing sie sich schwer an meinen Arm und schleppte sich mühsam die Berge hinauf. Als wir an dem Seitenflügel des Schlosses angelangt waren, hob sie, wie einen grünen Vorhang, eine bewegliche Wand von breitblättriger Aristolochia in die Höhe. Gebückt mußten wir darunter fortschlüpfen. Eine dadurch maskirte Thür, die in’s Souterrain führte, gab einem leisen Druck ihrer Hand nach, und wir standen auf der ersten Stufe einer schmalen steinernen Wendeltreppe. Sie ging dieselbe geräuschlos hinauf, und auf dem ersten Treppenabsatz zeigte sie stumm auf eine niedrige Pforte. Ich öffnete dieselbe und trat in das Gemach; die Thür klappte lautlos hinter mir zu, und ich stand allein im Treppenhause des Schlosses.

Den Oberst fand ich im Lehnstuhl eingenickt, meinen Kranken beinahe unverändert. Ich sah, daß es mit ihm zu Ende ging. In einen dunklen Ueberwurf gehüllt, saß Sibylle Unruh wieder in dem altmodischen Sessel und nahm nur durch kurzes Nicken von meiner Gegenwart Notiz. Ihr Gesicht sah in der dämmerigen Krankenstubenbeleuchtung noch strenger, noch verschlossener aus, und Abneigung und Sympathie gegen die seltsame Frau kämpften bei mir um die Herrschaft. Ich glaube, eine Art scheuer Achtung war das Resultat.

Nachdem ich leise meine Anordnungen gegeben, ging ich in’s Arbeitszimmer zurück. Der Oberst war erwacht; er ließ uns schwarzen Kaffee bringen, aber dies sonst so probate Belebungsmittel der Nerven versagte den erschöpfen Kräften diesmal seine Dienste. Die Natur forderte jetzt ungestüm ihre Rechte. Ich drohte vor Ermüdung umzusinken und warf mich, in eine Reisedecke gehüllt, der Länge nach, nahe der Thür auf eine chaise longue. Die früheren Stundenankündigungen muß ich im ersten festen Schlaf überhört haben. Der dröhnende Mitternachtsschlag der Thurmuhr schreckte mich auf. Der Oberst schnarchte energisch auf seinem Stuhle weiter. Ein wimmernder Laut, dann ein erschütternder Ton, wie er sich sonst nur aus verzweifelnder Männerbrust ringt, kam aus dem Krankenzimmer.

Ich ging leise durch die angelehnte Thür. Sibylle lag vor dem Lager auf den Knieen. Ihr Gesicht war nach vorn herüber gesunken; ihre Hände umklammerten die Kissen.

Was ihre Arme so inbrünstig umschlungen hielten, war eine Leiche.

Sie erhob sich, als ich näher kam. Ruhig und gefaßt berichtete sie mir über die letzten Augenblicke des Verstorbenen. Niemand, der ihr in’s thränenlose Auge blickte, hätte geahnt, welch’ einen wilden Schmerzenskampf die Frau da eben mit sich allein und mit Gott auszuringen gehabt.

Wie ich vorausgesehen, hatte ein Schlagfluß seinen Qualen ein Ende gemacht. Er war vor einer halben Stunde verhältnißmäßig sanft hinübergeschlummert.

„Kommen Sie!“ sagte sie darauf, und ohne eine Antwort

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