Seite:Die Gartenlaube (1877) 198.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Immer tiefer in sich gekehrt giebt er sich in seinen letzten Sonaten, immer losgelöster von der Außenwelt. Ihre Stimmen erreichen nicht mehr seinen Sinn, berühren sein Ohr nicht mehr. Er lauscht nur noch nach innen und hält mit seiner Seele Zwiesprache und singt jene tiefsinnigen Dichtungen, die uns das Geheimniß eines höheren Daseins enthüllen. Wem auch käme im Adagio der großen B-dur-Sonate op. 106 nicht eine Vorempfindung der Verklärungswelt, wie sie die neunte Symphonie uns offenbart? Was der Componist selber von der Sonate geäußert, daß sie „in drangvollen Umständen geschrieben“ sei, das findet, wie mehr oder weniger auf jedes seiner späteren Werke, so vornehmlich auf die Missa solemnis Anwendung. In Bezug auf sie sagt Schindler: „Niemals wohl dürfte ein so großes Kunstwerk unter widerwärtigeren Lebensverhältnissen entstanden sein“, und weiter erzählt er, daß er den Meister nie, weder vor noch nach jener Zeit, in einem ähnlichen Zustande geistiger Aufgeregtheit und völliger Erden-Entrücktheit gesehen habe, als während der Beschäftigung mit dieser Messe. Noch vor Abschluß des großen Werkes traf ihn ein schwerer Schlag, von dem er sich nie wieder völlig erholte: die zweifellose Erkenntniß seiner vollständigen Gehörlosigkeit. Während der Probe seines im November 1822 als Benefiz für Wilhelmine Schröder wieder aufgenommenen „Fidelio“, zu dessen Leitung er sich trotz der Warnungen seiner Freunde bereit erklärte, zeigte es sich, daß er von dem, was auf der Bühne vorging, nichts hörte, und Schindler sah sich zu der schriftlichen Bitte genöthigt, daß er nicht weiter fortfahre. Sofort eilte er in seine Wohnung zurück; dort warf er sich auf das Sopha und bedeckte sein Angesicht mit beiden Händen. Kein Laut kam über seine Lippen; aber „die ganze Gestalt war das Bild der tiefsten Schwermuth und Niedergeschlagenheit“. Vergebens hoffte er auf ärztliche Hülfe; es war zu spät. Vielleicht wäre sie früher möglich gewesen, hätte er den Rathschlägen der Aerzte willigeres Gehör geschenkt. So aber dünkte ihn jede Vorschrift, jede Art von Beschränkung eine lästige Fessel, die er rücksichtslos abstreifte. Solchergestalt entwickelte sich das Uebel bis zur Unheilbarkeit. Schweigend trug er nun sein hartes Geschick.

Als die unvergängliche Frucht still getragener Schmerzen, ernstester Selbsteinkehr und Weltentsagung aber brachte das Jahr 1823 seine Missa solemnis endlich an’s Licht. Ursprünglich für die Installation seines Schülers, des Erzherzogs Rudolph, als Erzbischof von Olmütz bestimmt, war diese seine zweite Messe in D bereits im Spätherbst 1818 von Beethoven begonnen worden. Schon beim ersten Satze indeß wuchs das Werk zu so mächtigen Verhältnissen an, daß die Vollendung desselben bis zu dem festgestellten Zeitpunkte (März 1820) sich als unmöglich herausstellte. Weit über jede äußerliche Rücksichtnahme, über das Bereich des für die Kirche praktisch Brauchbaren ward er vom Geiste hinausgeführt, um ein Gebäude aufzurichten, wie es seinen innersten Bedürfnissen und Anschauungen entsprach. Wer nennt ein Menschenwerk, das mit größerer Freiheit auferbaut ward, das gleicherweise aller irdischen Fesseln spottet? Mit gigantischer Hand rüttelt er, der es schuf, an den alten gewohnten Formen. Er dictirt sich selbst sein Gesetz; mag dasselbe immerhin die Grenzen des Möglichen hinsichtlich der Ausführbarkeit berühren. Mit gewaltigerer Stimme hat noch kein Sterblicher zu seinem Gotte geredet und, von der Last unaussprechlichen Leides darniedergebeugt, ihm ein herrlicheres Preislied gesungen. Jedes einzelne Wort füllt sich mit Geist und Leben, mit einer Art dramatischer Wahrheit. „Vom Herzen kam’s, zum Herzen soll es dringen“, setzt er als Motto über sein Werk. Alles, was von Frömmigkeit und Andacht, von Glaube, Liebe und Hoffnung in ihm war, das legte er in diesem seinem Glaubensbekenntnis nieder. Nicht vom Standpunkte des Katholiken, des streng confessionellen Christen aus: das war er nicht. Der Idee der zu einer Gemeinde verbrüderten Menschheit vielmehr giebt diese Messe Ausdruck. In diesem Sinne ist sie dem Werk verwandt, das der Meister nächst ihr geschrieben und das mit ihr gemeinsam die Spitze seines gesammten Schaffens bildet: der Symphonie mit Schlußchor über Schiller’s Lied „An die Freude“; nur faßt diese weltlich, was jene kirchlich ausspricht.

Schon die äußere Gestalt des colossalen Werkes überragt alle übrigen symphonischen Schöpfungen des Künstlers: er hatte mit Recht etwas völlig Anderes, Neues zu schaffen verheißen. Die gesammte Anlage ist großartiger, die Polyphonie entwickelter; der rhythmischen und harmonischen Kühnheiten, der Wunder der Instrumentation finden sich mehr denn sonst. Und wer will die Fülle himmlischen Gesanges im Adagio schildern, dieser Glorie der Instrumentalmusik? Der Schwerpunkt des Ganzen jedoch liegt in der Combination des Instrumentalen mit dem Vocalen, in der Hinzuziehung der Menschenstimme und der damit erzielten überwältigenden Steigerung im Schlußsatze. Was er uns hier gegeben, ist unerreicht geblieben und bleibt es wohl auch. Ob er selber in jener zehnten Symphonie, die er bereits zu skizziren begann, darüber noch hinausgeschritten wäre, ob dies überhaupt möglich – wer sagt es?

Nur einiges Wenige noch vollendete Beethoven, nachdem er jene höchsten Thaten vollbracht. Wohl erfüllten ihn wechselnd Oratorien-, Messen-, Opern- und Symphonie-Pläne, auch die Idee einer Musik zu Goethe’s „Faust“, der ihm als „Höchstes“ galt, aber nichts von alledem gelangte mehr zur Ausführung. „Es graute ihm,“ sagte er selbst, „vor dem Anfange so großer Werke.“ Nur eine Aufgabe noch vermochte ihm Antheil und Thatkraft abzuzwingen: eine Reihe von Quartett-Compositionen, die er für den russischen Fürsten Galitzin liefern sollte. Ihr widmete er seine Kräfte in den Jahren 1824 bis 1826, und so entstanden jene wunderbaren fünf letzten Quartettdichtungen, mit denen er sein Tagewerk hienieden beschloß. Ungleich schwerer noch als die zweite Messe und die neunte Symphonie haben sie den Weg zum allgemeinen Verständniß gefunden, und hartnäckiger als um diese ist der Kampf für und wider sie durchgefochten worden. Des imponirenden Glanzes freilich, der überwältigenden Macht jener erhabensten Werke entbehren sie; sie führen uns in eine stille, einsame Welt düsterer Gedanken und Phantasien ein. Nichts von der Plastik der Darstellung, die den früheren Ergüssen ihres Schöpfers eignet, lassen sie gewahren; mehr angedeutete als klar erkennbar ausgeführte Bilder, mehr Träume als ausgeprägte Gestalten: Träume eines Riesengeistes freilich. Es fallen auch Sonnenstrahlen mitunter und hellere Lichter, aber den Grundton bildet doch eine tieftragische Stimmung. Der Dichter, der solches schuf, schaut in sich selbst hinein. Wundern wir uns, daß der Reflex dieses Spiegels so dunkel? Dabei spielt auch die Außenwelt mit ihren wechselnden Bildern in die Quartette hinein und läßt unbestimmte Empfindungen sich zu bestimmten Vorstellungen verdichten, worauf hier und dort ausdrücklich Worte hinweisen. So im A-moll-Quartett, op. 132, das er nach schwerer Krankheit schrieb, der „Dankgesang“ in lydischer Tonart, oder in dem in F-dur, op. 135, das „Muß es sein? – Es muß sein!“ Enger als vielleicht irgend ein anderes seiner Werke knüpft sich zumal das ergreifende Cis-moll-Quartett an die Persönlichkeit des Tondichters, das unter seinen Streichquartetten etwa den gleichen Rang behauptet, wie die große B-dur-Sonate unter den Pianoforte-Werken, die Neunte unter den Symphonien, die Missa solemnis unter seinen Chorcompositionen, ja unter allen Werken ihrer Gattung überhaupt. Es ist wahr, die Hand des Componisten hat in diesen Quartetten über der üblichen Architektonik der Instrumentalform mit vollkommener Souveränetät geschaltet und in dem von Alters her geltenden Maß keine Schranke erblickt für den Reichthum seines Empfindens. Auch der Vorwurf harmonischer Härten, wie sie sich durch eine gewisse Rücksichtslosigkeit in selbstständiger Führung der Stimmen ergeben, ist kein müßiger. Aber es ist eben das charakteristische Wahrzeichen der letzten Entwicklungsstufe Beethovens, daß er die Idee ausbreitet über die Form, sie ihr überordnet, statt, wie bisher geschehen, beide einander nebenzuordnen. Jene wird die Bestimmende, diese die Bestimmte. Das ist der geistige Standpunkt, den er seiner Kunst gewonnen. Mit ihm ging das Andere Hand in Hand, daß er Musik und Leben, Kunstwerk und künstlerische Persönlichkeit in ein bezügliches Verhältniß gebracht, daß er die Wirklichkeit in ihren Kreis aufgenommen und glücklicherweise die Unendlichkeit erschlossen; daß er das Ewige der Menschheit aussprach in einer allen Völkern und Zeiten verständlichen Sprache. Die Vergeistigung der Musik war sein Beruf; die Nachfolge auf dieser Bahn aber ist die große Erbschaft, die das ihm nachgeborene Kunstgeschlecht von ihm überkommen.

Ein trübes, freudloses Bild, im Gegensatze zu der verklärten Welt seines Schaffens, gewähren des Meisters letzte Lebensjahre. Von drückender Schuldenlast durch die Sorge für den Neffen beschwert, wußte er kaum aus noch ein. Der Versuch, durch

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1877, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_198.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)