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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


wird. Gegen „Madeleine Morel“, mit welchem Rührstück Mosenthal die Bahn einschlug, die Dumas fils, Feuillet und andere französische Dichter mit so großem Erfolge wandeln, erhob man den Vorwurf der Unsittlichkeit. Die Heldin ist ein gefallenes Mädchen, in welches sich der Sohn eines alten Geschlechts verliebt. Aller Widerstand der Familie scheitert an dem festen Willen des jungen Mannes, an der hingebenden Demuth des Mädchens. Zuletzt segnet die Mutter den Bund. Das Recept, welches Alfred de Musset in dem Verse gegeben: „Unschuld, durch Liebe neu geboren“ – haben wir hier dramatisirt. Das Stück ist gewagt und ruht auf schwachen Grundlagen, aber unsittlich ist es nach meiner Meinung nicht.

In seiner langen Laufbahn als dramatischer Dichter hat Mosenthal nur eine einzige vollständige Niederlage erlebt. Das war vor einigen Jahren, als er den „Konrad Vorlauf“ im Stadttheater verwegen aufführen ließ. Für den eisernen Bürgermeister Wiens, der in wilder Fehde die Fahne des Rechts hochhielt und ungebeugten Muthes seinen mitverurtheilten Rathsherren voraus zum Blutgerüst schritt, fehlte Mosenthal der verwandte Zug. In allen politischen Dingen war er harmlos wie ein Kind. Obwohl in Kassel geboren, verrieth er doch kein deutsches Nationalgefühl, und ob er über irgend eine wichtige Frage des Tages eine eigene Meinung hatte, das blieb selbst seinen Freunden ein Geheimniß. Kein Wunder, daß die Potentaten den begabten Mann, der dabei so ungefährlich war, mit ihren Orden auszeichneten. Nicht weniger als zehn schmückten seine Brust, und er freute sich darüber gerade so, wie die meisten Poeten, die Orden sammeln, wie andere Leute Käfer und Mineralien. Trotz dieser kleinen Schwäche war Mosenthal ein Ehrenmann, und auf seinem Namen ruht kein Makel.

In Pötzleinsdorf draußen ließ er sich vor zwei Jahren ein kleines Landhaus erbauen, an dem er eine herzliche Freude hatte. Er sollte es nur einen einzigen Sommer genießen. Wenn jetzt die ersten Blätter und Blüthen in seinem Garten treiben, wird es manchmal den Nachbarn scheinen, als sähen sie einen Schatten unter den Bäumen hinschweben, und sie werden höchst prosaisch sagen: „Schade, daß er so früh gestorben, der arme Herr von Mosenthal!“ Seine Grabschrift könnte lauten: „Hier ruht ein Dichter von den Schlägen der Kritik aus.“

Wien.

Karl von Thaler.




Parlamentarische Photographien aus Versailles.
Von Julius Walter.
3. Thiers.


Der kleine Thiers ist nicht wenig stolz darauf, daß er nicht der Kleinste in Versailles ist, aber Floquet ist bucklig und Louis Blanc mit unbewaffnetem Auge kaum zu sehen. Thiers sieht wie eine Nippfigur aus; nicht etwa zierlich wie eine aus Sèvres oder Vieux Saxe, vielmehr possierlich wie die aus Guttapercha. Der komische Eindruck, den Thiers auf den ersten Blick macht, wird erhöht durch seine Toilette und durch sein Geleit. Thiers trägt einen bis an die Fersen reichenden schwarzen Rock, dicht unter dem Kinne geschlossen, dann kommen zwei riesige Vatermörder, eine scharfausschauende Nase mit einer voluminösen Hornbrille darauf, der sofort ein hoher breitkrämpiger Cylinder von talmudisch-breitkrämpiger Façon folgt, wie ihn die Rabbiner tragen. Dicht hinter ihm her wie sein Schatten – sein treuer Rustan – ein riesiger Bengel, weit über sechs Fuß hoch, wie er in Paris kostenfrei kein zweites Mal zu schauen ist, gleichfalls vom Kinne bis zu den Absätzen in schwarzes Tuch gehüllt. Wenn der Bursche sich die Füße durchnäßt, braucht er vierzehn Tage, bis er den Schnupfen bekommt, meinte einmal der Charivari, indem er von seiner Länge sprach. So wandeln Beide in einem gewissen behäbigen Hundetrabe alle Tage, an denen es keine Kammer giebt, zwischen zwei und drei Uhr durch die Champs Elysées, von Jedermann gekannt, von den Meisten gegrüßt.

Thiers steht im Sommer um sechs Uhr, im Winter um sieben Uhr auf. Seine Toilette ist rasch vollendet. Um halb acht Uhr nimmt er seine Tasse Chocolade mit einem gerösteten Brödchen. Dann folgt die Arbeit, seine Studien; der Secretär bringt Briefe und erhält die Antwort; Thiers liest alle Journale, auch die Witzblätter, stets den Rothstift in der Hand, und alle versieht er mit Randglossen, Frage- und Ausrufungszeichen; von fremden Journalen finden sich nur die „Times“, die „Independance belge“ und der „Nord“ in seinem Cabinet. Um elf Uhr erscheinen hier und da die Intimen seines Hauses, wenn sie ihm just eine Mittheilung zu machen haben: Jules Simon, Casimir Périer; um zwölf Uhr ist das Frühstück servirt. Thiers ist kein Gourmand und hat sich auf die Künste der Küche niemals verstanden, was die hohe Meinung, die Talleyrand von ihm hatte, etwas einschränkte und ihn zu dem Ausspruche veranlaßte: „Herr Thiers wird nie ein großer Diplomat werden.“

Sobald Thiers sein Hammelcotelette verzehrt und sein weiches Ei geschlürft, eine kleine Flasche Bordeaux geleert und seine Demi-Tasse genommen hat, empfängt er Fremde von Bedeutung, Mitglieder des diplomatischen Corps, höhere Beamte aus der Provinz, die unter seiner Präsidentschaft gedient, u. A.

Dann folgt der Spaziergang in die Elysées oder die Fahrt nach Versailles; um sieben Uhr wird das Diner servirt; einmal wöchentlich von acht bis zehn Uhr empfängt Monsieur Thiers: Gelehrte, hohe Beamte, Generäle, Mitglieder des diplomatischen Corps, am häufigsten den russischen Gesandten und den Englands. Auch Fürst Hohenlohe, die Herzoge von Nemours, von Aumale erscheinen nicht selten; ebenso Rothschild, der sich gern an die Orleans klettet; Madame Thiers und ihre Schwester machen die Honneurs.

Thiers hat für Jeden ein freundliches Wort, eine Erinnerung; er weiß Alles; er hat Alles gelesen und Nichts vergessen; sein Gedächtniß ist staunenerregend und für Alles gleichmäßig und treu; er kennt ebenso genau die Staatsschulden wie die Kammern und die Verfassungen aller Staaten, ihre Bewaffnung und ihre Festungen, wie den Stand der Course bis auf Jahre zurück; ebenso die neuesten Bonmots, wenn sie ihren Stachel gegen den Präsidenten, gegen Gambetta oder Rouher kehren. Wenn er am Kamine steht, die Hände am Rücken, und ein Thema angeschlagen wird, das sein Interesse fesselt oder ihn gar lockt, seine Meinung abzugeben (und das ist leicht geschehen, denn Herr Thiers weiß, wie er durch die Rede wirkt; er hört sich gern reden, und Nichts schien ihm gefährlicher und ward ihm schmerzlicher, als daß ihm die Kammer als Präsident die Tribüne wehrte) und er in Bewegung kommt, dann scheint seine Gestalt zu wachsen. Seine schön aufstrebende Stirn wird höher; seine Augen leuchten aus den Brillen hervor; er ist verjüngt; seine kleinen weißen Hände sind in steter Bewegung, und wenn er einem Gedanken, einem Worte vollen Nachdruck geben will, stemmt er wiederholt den Zeigefinger gegen die Stirn. Seine Stimme ist klein und wird im Affect sehr leicht kreischend, aber sein Vortrag ist leicht, gefällig, einschmeichelnd, lebhaft und viel passender für den Salon, als für die Tribüne. Aber auch dort schlägt er nur den leichten Conversationston an, und seine größten wichtigsten Reden klingen wie Plaudereien.

Louis Adolphe Thiers ist geboren am 26. germinal, an V, das ist um 15. April 1797, in Marseille; in Aix, wo er Jurisprudenz studirte, wurde er einunddreißig Jahre später Advocat. In Paris mit großen Plänen und kleinem Beutel angekommen, wohnte er in der Dachkammer eines Sechsgestocks mit Mignet, welcher bereits die Advocatur zu Gunsten der Literatur an den Nagel gehängt hatte und mit dem ihn die innigste Freundschaft durch sein ganzes Lehen vereinte. Durch Empfehlung seines Landsmannes Manuel, der durch seine Ausstoßung aus der Kammer soeben eine Macht geworden, erlangte er Eintritt in den „Constitutionnel“. „Der „Constitutionnel“ lief damals dem „Journal des Debats“ den Rang ab und vereinigte unter dem energischen Etienne und dem schon bewunderten Béranger alle Mißvergnügten, die Republikaner von 1789 und 1793 und die Bonapartisten, es war das liberalste politische Journal; in seinem literarischen Theil vertheidigte es aber die Classiker gegen die Romantiker, und Thiers’ Artikel machten Aufsehen, stellten ihn in die vordersten

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