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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


sprach er endlich entschlossen, „wir müssen gehen Emilie suchen; noch ist es nicht zu spät. Ich fürchte, sie ist im Begriffe einen dummen Streich zu machen. Eben komme ich von Urban, und ich kann mich dem Verdachte nicht verschließen, daß die Beiden vor der Ausführung eines Fluchtplanes stehen.“

„Karl, Du irrst; Du mußt Dich irren,“ stammelte die alte Frau und sank schreckensblaß auf einen Stuhl. „Das kann Emilie nicht thun.“

„Täuschen Sie sich nicht, Mutter! Sie hat einen so unbeugsamen Willen wie – Sie, und sie verfügt außerdem über den Trotz der Jugend. Wie ich sie kenne, setzt sie durch, was sie sich vorgenommen. Wie dem aber auch sei, wir wollen thun, was wir können, um sie zurückzuhalten, wenn ich wirklich Recht habe. Sie ist bis vor einer Viertelstunde im Wiedenhofe gewesen, jetzt ist sie verschwunden sammt der Anna. Ich hätte es gern allein auf mich genommen, aber – Mutter – ich kann keinen Zwang auf sie ausüben; sie hat Gewalt über mich, und ich bin schwach, wenn ich sie sehe. Ich will sie in Ihre Hand geben.“

Frau Hornemann nahm seine beiden Hände und drückte sie krampfhaft. „Sie dürfen nicht fliehen – hörst Du, Karl?“ sagte sie mit bebenden Lippen. „Ihr wißt Alle nicht, wieviel mir daran liegt. Ich muß sie wenigstens erst sprechen. Wenn Du weißt, wo sie sich aufhält, dann flehe ich Dich an, mein Sohn, führe mich zu ihr!“

Der Pascha fuhr sich über die Augen. „Ich habe einen Gedanken. Finden wir sie indessen da nicht, wo ich sie vermuthe, dann beginnen die Schwierigkeiten. Einer von uns müßte zum Bahnhof gehen, der Andere die Landstraße zum Rhein hinunter und aufsuchen und abwarten, ob ein Wagen sie etwa bringt. Wenn mich das Loos trifft, ihr allein zu begegnen, Mutter, dann will ich um Ihretwillen versuchen, ob ich ihrem Zauber trotzen kann. Ich denke wohl, daß sie sich im Rottmann’schen Hause über dem Wiedenhofe drüben befindet. – Man kann auf einem heimlichen Wege von diesem aus zu den alten Rottmanns hinüber gelangen,“ fügte er zögernd hinzu. „Gehen Sie über die Kaiserbrücke und nehmen Sie einen Schirm mit! Leicht könnte Sie der Regen überraschen.“

Er half der alten Frau einen Mantel umthun, den sie mit fiebernder Hast aus der Stube geholt, worauf sie, undeutliche Worte murmelnd, ihre Tuchmütze aufsetzte und plötzlich, den Schirm in der Hand, an ihm vorübereilte. Er selber verließ unmittelbar nach ihr das Haus und befand sich bald wieder im Hôtel, treppauf laufend und ein paar Corridors durchmessend bis in einen düstern Eckverschlag hinein, in welchem Holz und Torf aufgeschichtet lagen. Hier nahm er einen Schlüssel aus der Tasche, und – seltsam – in diesem düstern Winkel barg sich irgendwo ein klägliches Nichts von einer Thür, welche die hohe Gestalt des Pascha gebückt durchkroch und hinter sich in’s Schloß warf, nachdem er den Schlüssel herausgezogen. Von dem Raume aus, in welchem er jetzt stand, war die Thür fast vollkommen unsichtbar.

Er befand sich in der „Schlucht“, dem Saale, welchen wir bereits kennen. Oede standen die langen Tische und Bänke; ein paar alte Flaschen und halbverbrannte Kerzen ragten darauf; die Hälfte der Jalousien war geschlossen, und in dem niedrigen Raume mit der räucherigen, balkendurchsetzten Decke herrschte ein abendliches Halbdunkel. Der Regen schlug bereits nieder, und über den Saal hin grollten die ersten Donnerschläge. Er schritt quer hindurch zu der Fallthür, und hier bückte er sich plötzlich: dort lag eine rosa Bandschleife, die er einst seiner Schwester geschenkt hatte.

Karl Hornemann hob sie auf und war plötzlich ruhig geworden. Er besah die Schleife und setzte sich mit ihr auf eine der Bänke.

„Arme Milli,“ sagte er leise. „So hatte ich doch Recht mit meiner Ahnung.“ Und „arme Milli!“ dachte er weiter; „ich mußte Dir einen Strich durch Dein erträumtes Glück machen. Vielleicht ist es unrecht von mir gewesen; es ist möglich, daß ich der Mutter mehr Aufregung mit dieser Entdeckung verursacht habe, als wenn ich ihr die gelungene Flucht gemeldet hätte. Wer weiß, ob Du glücklicher wirst unter ihren Plänen, als Du an Urban’s Seite geworden wärest. Das Glück besteht in der Einbildung; wir sind glücklich, so lange wir an das Glück glauben. Warum nehmen wir Dir dasjenige, welches Du genossen haben würdest, auch wenn es nur kurz gewesen wäre? Wer weiß, ob nicht seine Summe hingereicht haben würde, Dich hinterher ein Leben voll Enttäuschungen tragen zu lassen? Es ist oft unschuldiger, Jemandem ein halb genossenes Glück in Trümmer zu schlagen, als ihn abzuhalten vom Sturze in ein Unglück, das er als Glück träumt. Ich bin grausam mit Dir, und ich habe nicht einmal den Trost der Ueberzeugung, daß ich recht daran thue, es zu sein.“

Er horchte, ob er in der Nähe das Rollen eines Wagens vernähme, aber die Donner in den Wolken über ihm rollten und knatterten, und der Regen schlug so dicht und heftig an die Fenster, daß er nicht wußte, ob es Täuschung sei oder nicht, als er wirklich etwas Aehnliches zu vernehmen glaubte. Der Mann, der einen Barrikadenkampf kaltblütig geleitet haben würde, besaß nicht den Muth, um die Diele zu heben und hinabzusteigen, so gern er gewußt hätte, wie es im Nebenhause aussah. Er saß still auf der Bank und blickte auf die rosa Schleife, auf welche dann und wann der grelle Schein eines Blitzes fiel. –

Milli Hornemann befand sich wirklich im Rottmann’schen Hause drüben, und sie hatte mit dem Arzte die Flucht verabredet, schriftlich, durch Vermittelung ihrer Jugendgespielin Anna, der Wirthstochter aus dem Wiedenhofe. Stückweise, mit soviel Consequenz wie Vorsicht, hatte sie die nöthigste Garderobe in das Hôtel gebracht, und die schmucke, rothwangige Anna hatte dieselbe im Hochgefühle der Verantwortlichkeit zu den alten Rottmanns hinüber befördert. Die beiden Alten waren einstige langjährige Dienstleute des Wiedenhofes und bewohnten das Haus, welches dem Wiedenhofwirthe gehörte, zu mäßigem Miethzinse. Dem zufolge gab es nichts, was sie der kleinen Anna abgeschlagen haben würden; sie hatten die Sachen in Verwahrung genommen, welche zu einem sehr lustigen Geheimnisse gehörten, wie die schlaue Wirthstochter ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, und diese Versicherung hätte die Mitwirkung Rottmann’s allein schon unter allen Umständen gesichert, dem nichts über ein Geheimniß ging. Er hatte sich das Lesen angewöhnt und verschlang in Gemeinschaft mit seiner Lebensgefährtin jene zerlesenen kleinen Leihbibliothekbücher, welche die Firma Spieß und Kramer in Nordhausen der Welt geschenkt, und er fand nichts unbegreiflicher, als daß es in der Wirklichkeit so ganz anders zuging, als zwischen diesen abgerissenen Buchdeckeln. Man hätte keinen passenderen Wächter für den Zugang zur „Schlucht“ finden können als ihn.

Es war heute Niemand in dem Rottmann’schen Hause anwesend außer den Mädchen; die Alten hatten sich, dem Wunsche des Wirthstöchterchens entsprechend, auf einen Nachmittagsausflug in die Umgegend begeben. So saßen denn die Beiden allein in dem engen Zimmerchen, in welchem einst das Licht des alten Rottmann gebrannt hatte, als der Doctor gekommen war, um den Club zu retten. Emilie war völlig reisefertig; sie hatte den „Helgoländer“ jener Zeit auf, welcher den ganzen Kopf umschloß, und ein sommerliches Mousselinkleid an mit einer leichten Mantille darüber, und aus den Aermelpuffen quoll der volle Arm, zur Hälfte mit dem hohen Filetgeflechte des Handschuhs umsponnen. Ihre Wangen glühten vor Aufregung, und ihre Augen leuchteten unruhig wie im Fieber. Die kleine runde Anna, welche auf dem hohen Koffer vor ihr Platz genommen, erschöpfte sich in tröstlicher Zusprache, aber die schöne, stolze Freundin hörte wenig von dem, was sie sagte; sie lauschte auf das Geräusch der nahen Straßen, auf das Rädergerassel, welches so verschiedenartig klang, bald dumpf und schwer, bald spitz und hell, und dann wieder so glatt und so flüchtig, und keiner von all den Wagen, deren Lauf sie im Geiste verfolgt hatte seit einer Stunde schon, hatte in die Louisenstraße einbiegen wollen. Das Gewitter war heraufgezogen, und als es zu donnern begann, wurde auch die kleine Anna still, denn sie litt an Gewitterfurcht; nur wenn eine Staubwehe gleich prickelnden Nadelspitzen an das Fenster schlug, sagte sie seufzend: „Das wird eine schöne Fahrt geben.“

Kurz nachher sprang Emilie plötzlich empor. In wenigen Augenblicken rollte ein geschlossener Wagen vor die Thür, und Urban stieg heraus; man konnte hören, wie er mit dem Kutscher sprach, dann trat er herein und lachte, wie das schöne Mädchenantlitz ihn, kaum erkennbar in dem Wetterdunkel, aus der Tiefe des Helgoländers anblickte. Er sah nicht die holde Mischung von Liebe, Scham und vornehmer Festigkeit in ihren Zügen. Er

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