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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


– sie sprach einige Worte der Ermuthigung zur verzweifelnden Mutter. Rosa meinte die Stimme ihres Heilandes zu vernehmen. Dann hörten die lauschenden Frauen, wie dieselbe Stimme energisch Befehle ertheilte, wie sie eine der Badefrauen zum Beistande herbeirief, wie sie gebieterisch die Entfernung aller andern Personen, selbst die der Mutter verlangte – dann wurde es still nebenbei.

Es war die schwerste Stunde in Rosa’s Leben, die nun folgte. Die Angst ihres gequälten Herzens trieb sie von Stelle zu Stelle. Zu Hause angekommen, wanderte sie mit gerungenen Händen ruhelos im Saale auf und nieder, von Minute zu Minute hinauslauschend, ob die Entscheidung endlich nahe. Um sie zu beruhigen, hatte Helene schon mehrmals ihr Mädchen hinabgesandt, um Erkundigungen einzuziehen. Aber immer wieder war sie ohne Nachricht zurückgekehrt.

Der Herr Doctor habe sich eingeschlossen und habe bis jetzt auf alle Anfragen noch keine Antwort ertheilt – so lautete der sich stets wiederholende Bericht. Rosa’s Muth sank mit jeder verrinnenden Minute mehr; Helenens Gesicht wurde bleicher und bleicher. Da, in der größten Noth, war es wieder derselbe Retter, der zur Erlösung herbeieilte. Schritte kamen die Gartentreppe herauf; die Thür wurde von einer festen Hand geöffnet und mit leuchtenden Augen, obwohl bleich und übermüdet, trat der Arzt in’s Zimmer. Es bedurfte für Rosa nur eines Blickes in sein Gesicht, um die Gewißheit zu erlangen, von welcher das Schicksal ihres Lebens abhing. Sie stieß einen Schrei aus und stürzte ihm entgegen.

„Gerettet?“ fragte Helene.

„Gerettet!“ entgegnete er lächelnd. Und während seine bis zum Aeußersten angestrengten Kräfte ihn jetzt mit der Entscheidung plötzlich zu verlassen drohten, während er sich matt auf die Lehne eines Stuhles stützte, hörte er den aufjauchzenden Schrei Rosa’s. Er fühlte, wie zwei Arme sich um seinen Hals schlangen, wie frische, lebenswarme Lippen sich heiß und innig auf die seinen drückten. Und als er die Arme um die Gestalt schlang, die an seiner Brust ruhte, da strömte mit der Gewißheit ihrer Liebe neues Leben und neue Kraft ihm wonnig durch die Adern.

„So bist Du also mein!“ sagte er, sie an sich drückend, „so habe ich Dich heute mir gerettet. Wie ich Dich im wilden Ringen erkämpft habe, so werde ich Dich mit gesammelter Kraft mir zu erhalten wissen für’s Leben.“

„Du weißt nicht, wie Du mir heute mein Leben zweimal gerettet hast,“ entgegnete sie, unter Thränen zu ihm auflächelnd. „Jede Stunde meines Lebens, jeder Schlag meines Herzens sei Dein! Und ist es wirklich wahr, Du verschmähst mich nicht? Hat mein Hohn und Trotz Dich nicht von mir zu scheuchen vermocht? Hast Du meine Liebe erkannt trotz allem Bösen, das ich Dir gethan?“

Er beugte sein Haupt zu ihr nieder und flüsterte ihr in’s Ohr, wie er schon seit Monden das Glück geahnt habe, das sich ihm heute voll und ganz erschlossen. Dann blickte er auf von dem goldenen Gelock, auf welches er seine Lippen gedrückt hatte. Sie waren allein. Helene hatte still das Zimmer verlassen und leise die Thür hinter sich in’s Schloß gedrückt. – –

„Sie sehen also, lieber Freund, welch’ tieferschütternde Ereignisse uns seit gestern heimgesucht haben. Lassen Sie uns dies zur Entschuldigung dienen, daß wir Ihre Geduld ungebührlich lang’ in Anspruch genommen haben. Ich bin diejenige, der die größte Schuld an unserm späten Kommen zufällt; denn da ich nicht mehr Rosa’s Elasticität besitze, die sich seit dem Morgen emporgerichtet hat, wie eine Blume nach einem Regenschauer, so habe ich nur zögernd meine Einwilligung zu dem projectirten Ausfluge gegeben. Ich wurde indeß von den beiden Glücklichen überstimmt und mußte mich dem Beschlusse der Majorität fügen, wie es fortan wahrscheinlich stets mein Loos sein wird. Die Erschütterungen des heutigen Tages aber fühle ich noch stark in meinen Nerven zittern, trotz der Versicherung des Doctors von den wohlthätigen Folgen der Fahrt. Haben Sie also Nachsicht mit mir und blicken Sie nicht länger so finster drein! Hören Sie, wie das Lachen Rosa’s und das lustige Jodeln des Doctors zu uns aus der Schlucht herauftönt! Und – blicken Sie um sich! – lacht Ihnen das Herz nicht bei dem Anblicke der ruhigen Schönheit, die ausgegossen ist rings um uns her? Ich meine, der Mann, der, wie Sie, herabblicken darf auf ein schönes, reiches Eigenthum, der Mann, dessen Leben frei und schön vor ihm liegt, dieser Mann sollte nicht so finster in die Welt blicken, auch wenn ein paar unpünktliche Freunde, auf seine Nachsicht bauend, ihn über Gebühr haben warten lassen.“

Sie blickte lächelnd zu ihm auf und sah, daß sein Blick ernst, fast traurig auf ihr weilte. Er stand an die Linde gelehnt, deren Aeste sich weit und schattig über die Rasenbank erstreckten, auf welche Helene mit ihrem Knaben sich niedergelassen hatte. Es war ein köstliches Plätzchen, wo die Drei sich befanden. Zur Linken blitzte durch Waldesgrün der Spiegel der See auf, in welche die Sonne eben strahlend versank. Vor ihnen im Grunde lagen die Häuser des Vorwerks Seebude, halb versteckt in dem Erlengebüsche, das sich dem Laufe eines zur See fließenden Baches entlang zog. Im Hintergrunde erhoben sich die Baumgruppen des Hirschberger Parkes, aus deren Mitte die Giebel des alten Schlosses hervorschauten, dessen Fenster im letzten Strahle der Sonne erglänzten. Und fernab von den tiefliegenden Wiesen begannen die Abendnebel aufzusteigen und sich allmählich über die Gegend zu verbreiten. Abendstille und Abendfrieden war über die weite Landschaft gebreitet – nur die Glocken der heimziehenden Heerden tönten, den Feierabend verkündend, zu ihnen herauf.

„Wie können Sie nur glauben, Helene, daß in Ihrer Gegenwart meine ungeduldige Verstimmung Stand halten könnte?“ antwortete Schack nach einer Pause. „Es ist etwas Anderes, was auf mir lastet. Sie haben Recht, ich könnte ein glücklicher Mensch sein, allein die Nachricht von der Ankunft Ihrer Mutter raubt mir den Sonnenschein der kommenden Tage. Wenn man bedenkt, daß ich lange Jahre habe leben können, ohne Sie zu sehen, daß ich absichtlich jeder Gelegenheit aus dem Wege gegangen bin, welche die schmerzvolle Erinnerung an Sie wieder wachrufen konnte, so mag es allerdings wunderbar erscheinen, daß es mich so tief niederdrückt, Ihre Gesellschaft, Ihren Anblick wieder entbehren zu sollen. Aber seit dem gestrigen Abende, als ich Sie so unvermuthet wiedersah, ist es mir zum Bewußtsein gekommen, daß mein bisheriges Leben eigentlich kein Leben gewesen ist, ich fühle es klar, daß Sie nicht mehr sehen, Ihre Stimme nicht mehr hören dürfen meine Tage wieder grau und farblos machen heißt – und dies wird mein Loos sein, so lange Ihre Mutter bei Ihnen weilt.“

„Sie machen sich ein falsches Bild von meiner Mutter, wenn Sie glauben, daß ihre Gegenwart mein Haus weniger gastlich oder mich weniger geneigt machen könne, Ihnen meine Freundschaft zu beweisen,“ entgegnete Helene. „Ich verkenne es nicht, daß auch sie ihre Pflichten hat, und ich werde Niemand, selbst meine Mutter nicht, zwischen die unsere treten lassen. Auch wird sie selbst das nicht wünschen. Meine Mutter ist eine feine, kluge Frau – ich habe die Hoffnung, daß auch sie Ihnen bei näherer Bekanntschaft eine liebe Freundin werden wird. Ich habe selten Jemand gefunden, der so wie sie mit scharfem Blicke und gerechtem Urtheile die Vorzüge jedes Menschen erkennt und zu würdigen weiß.“

„Sie dürfen mir die weltgewandten Eigenschaften Ihrer Mutter nicht erst rühmen, Helene,“ entgegnete Schack bitter, „ich habe Gelegenheit gehabt, dieselben kennen zu lernen, und werde sie mein Leben lang nicht vergessen.“

Helene blickte überrascht zu ihm auf.

„Ich verstehe Sie nicht, mein Freund,“ sagte sie leise, „seit wann kennen Sie meine Mutter?“

„Seit wann? – Nun, seit jener Zeit, als sie den armen Jungen, der verzagten Herzens vor ihr stand, auf die liebenswürdigste Weise gehen hieß und ihn lächelnd und höflich zur Thür geleitete. Sie hatte einen so feinen Blick gehabt, daß ich nicht nöthig gehabt hatte zu sprechen. Ich verstand die feinen Redewendungen der gnädigen Frau und wußte, daß ich meinen Abschied in der Tasche hatte, ehe ich mich dessen versah. Und der alte Diener, der mich durch den Vorsaal zur Hausthür führte, machte dieselbe hinter mir so nachdrücklich zu, daß ich mir den Schwur ablegte – denn, Helene, meinen Mannesstolz hatte ich doch, obgleich ich ein armer, unbedeutender Bursche war – die Schwelle dieses Hauses nicht wieder zu betreten. Ich habe diesen Schwur gehalten – allein mein Leben hatte seinen Zweck verloren seit jenem Tage. Verdenken Sie es mir daher nicht, daß ich den Anblick jener Dame zu vermeiden suchen werde!“

Helene hatte, während er sprach, ihm starren Blickes in’s Gesicht geschaut. Jetzt bedeckte sie ihre Augen mit den Händen,

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