Seite:Die Gartenlaube (1877) 120.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


sähe er es nicht, und trank ruhig sein Glas aus. Lajos’ heftiges Temperament wollte aufflammen, aber schon trat dessen Tänzerin dazwischen, bald an den Einen, bald an den Andern der Gegner begütigende Worte richtend. Lajos’ leicht erregbares Gemüth schien sich unter dem sanften Einfluß des jungen, schönen Weibes ebenso rasch zu beruhigen, denn unmittelbar darauf erhob er sein Glas, dem Csikos zuzutrinken, als aber dieser auch jetzt finster abweisend verharrte, da schleuderte der Beleidigte das volle Glas zu Boden, daß es klirrend in Scherben ging, ergriff dann den Arm seiner Tänzerin, um sie hinwegzuführen, und nahm endlich die Widerstrebende, als wäre sie nur ein Kind, in die Arme, worauf er mit seiner hübschen Last laut aufjauchzend wieder in die Reihe der Tanzenden stürmte.

Allein diesmal erweckte der wilde Jubelruf ein gar seltsames Echo. Es war ein langgedehnter, offenbar aus weiter Entfernung dringender Ton, der mehr dem Geheul eines hungernden Wolfes, als einer menschlichen Stimme glich und grell den Tanzrhythmus des Orchesters durchschnitt. Dieser Ton aber übte auf Lajos und seine Tänzerin eine zauberhafte Wirkung. Wie erstarrt standen Beide und horchten in die Nacht hinaus, während sich die übrigen Paare in ihrem Vergnügen nicht im mindesten stören ließen. Noch einmal und ein drittes Mal erscholl das unheimliche Signalgeheul, und noch ehe es ganz verhallte, war das schönste Paar vom Tanzboden verschwunden.

Ich blickte nach den Tischen, aber auch der weißhaarige Mann und der Csikos hatten sich entfernt, und da das Schauspiel mit dem Verschwinden der mir bekannten Personen den Hauptreiz für mich verloren, ließ ich einen meiner Leute durch die Schenkin herbeirufen und wanderte, von diesem geführt, meiner Nachtherberge zu.




Hohe Fluth.
Erzählung von Hans Warring.
(Schluß.)


Ein Theil der Frauen umringte die Mutter, die ohnmächtig auf den Strand niedergesunken war. Andere bemühten sich um Helene, deren Kräfte sie gleichfalls zu verlassen drohten. Sie aber wehrte jede Unterstützung ab und raffte sich gewaltsam auf. Mit angstvoll gespanntem Blicke, während ihr Herz mit schmerzhafter Heftigkeit pochte, beobachtete sie die Bewegungen der Menschen, die ihr beide gleich theuer waren. Sie sah, wie der Doctor sich den Rettungsgürtel hatte umlegen lassen, wie er den Frauen Anweisung ertheilte wegen Handhabung der daran befestigten Leine. Dann warf er sich muthig in die Wogen. Wieder und immer wieder wurde er an’s Ufer zurückgeworfen – allein er ermattete nicht. Stets von Neuem begann er den Kampf. Mit fast übermenschlicher Kraft rang er mit den Wassern; Helene sah, wie er allmählich, ganz allmählich vorwärts kam. Fast unmerklich vergrößerte sich die Entfernung zwischen dem Ufer und dem kühnen Schwimmer. Jede Welle warf ihn zwar wieder zurück, aber jedes Mal, wenn sein dunkler Kopf aus den Fluthen auftauchte, hatte er Raum gewonnen. So erreichte er allmählich die Barrière. Auch Rosa’s Kräfte schienen wieder zu wachsen, als sie sah, daß Hülfe nahte. Nun nur noch ein kurzes Ringen. Helene legte die Hand über die Augen; die Aufregung wurde so qualvoll, daß sie meinte, sie nicht länger ertragen zu können. Ihr schwindelte, und mit ausgestreckter Hand suchte sie nach einer Stütze. Da tönte ein Freudenschrei in ihr Ohr – wie durch einen Nebelschleier sah sie die Gestalt des Arztes, der Rosa in den Armen hielt. Sie entsann sich noch, daß sie mit ausgebreiteten Armen vorwärts gestürzt sei, daß sie Rosa’s Haupt an ihrer Brust gefühlt habe – dann senkte sich Nacht über sie.

Während hundert Hände sich regten, während die Rettungsboote in See gingen und die ganze Badegesellschaft in angstvoller Spannung das Resultat erwartete, wechselte Rosa, von Helene unterstützt, ihren Anzug. Sie hatte nach ihrer Rettung sich kaum Zeit gelassen, ihre Mutter zu umarmen, dann war sie neben der Ohnmächtigen niedergeknieet und hatte ihre Hände geküßt. Aber eine herzbeklemmende Angst hatte sie von einer Stelle zur andern getrieben. Sie hatte Alle von sich abgewehrt, die sie glückwünschend umdrängten, mit angstvollen Zügen die Anstalten beobachtet, welche zur Rettung der verunglückten Freundin getroffen wurden. Die Hände ringend, hatte sie um Beschleunigung derselben gefleht, und nur mit Mühe konnte endlich Frau Helene sie bewegen, sich von ihr umkleiden zu lassen. Als endlich Beide allein waren, als Helene die durchnäßten Kleider von dem zitternden Körper des jungen Mädchens entfernt hatte und ihre milden, beruhigenden Worte sich ebenso wohlthuend um ihre Seele legten wie die linde Gewandung um ihren übermüdeten Leib, da löste sich der Bann, der auf ihrem Herzen lastete, in Thränen auf. Schluchzend schlang sie ihre Arme um die Mutter, indem sie an ihr zu Boden sank und ihr Gesicht in ihrem Kleide barg. Und als Frau Helene mit liebkosender Hand über ihr Haar strich und sanft zu Ruhe und Mäßigung mahnte, da trieb die Angst das arme Kind wieder empor und mit einem wilden, verzweiflungsvollen Schrei rief sie aus:

„Keine Ruhe für mich, keine Ruhe für mich weder jetzt noch künftig! O, weshalb hat mein elendes Leben gerettet werden müssen – weshalb ruhe ich nicht neben meinem armen Clärchen in den Fluthen? Mutter, es giebt fortan kein Glück mehr für mich auf Erden – denn wisse, ein Mord lastet auf meinem Gewissen! Sieh mich nicht so entsetzt an! Ich bin nicht wahnwitzig. Sieh, die Arme bat mich, ihr die Hand zu reichen, ich aber sagte in der wilden Aufregung des Kampfes: 'Gehe an’s Land, wenn Du nicht sicher bist! Ich brauche heute meine Arme für mich allein?' – Dann kam Welle um Welle über mich, und als ich mich endlich emporgearbeitet hatte und nach der Gefährtin umschauen konnte, da sah ich sie schon über die Barrière hinaus verschlagen. Wie ein Blitz kam mir da der Gedanke: du mußt dein Leben einsetzen, um das ihrige zu retten. Ich strebte mit allen Kräften, sie zu erreichen. Es war nicht die Macht der Wellen, die mich ihr nachschleuderte; es war mein eigener freier Wille. Damit aber, Mutter, hörte auch meine Sühne auf. Denn mit dem Bewußtsein, daß ich mit dem Tode ringe, mit diesem Bewußtsein kam ein namenloses Grauen über mich; ich kämpfte mit verzweifelnder Kraft um mein – nur um mein Leben. Und dann – als ich sah, wie Er zu meiner Rettung herbeikam – wie er zu mir strebte – wie er rang meinetwegen – da erschien das Leben, das ich ihm verdanken sollte, mir so süß, daß jeder andere Gedanke mir davor entschwand. – Ach, erst in dem Augenblicke, als ich wieder festen Grund unter mir fühlte, als er von mir hinwegeilte, um das zweite Leben zu retten – erst da kamen alle Schrecken einer vergeblichen Reue wieder über mich. – O Mutter! wie soll ich leben mit der Schuld des Mordes auf meinem Gewissen?“

Frau Helene hatte sich über sie gebeugt. Ihre Thränen fielen mild und schwer wie Sommerregen auf die glühende Stirn des armen Kindes. Da tönte Geräusch vom Strande her zu ihnen herein. Neben dem Brausen des Meeres erscholl das Brausen vieler vereinter Menschenstimmen. Aber kein freudiger Aufschrei ließ sich vernehmen – Alles klang gedämpft, wie der dumpfe Ton einer Sterbeglocke. Schaudernd richtete Rosa sich in die Höhe: sie wußte, auch ohne es zu sehen, daß es gelungen sei, die Leiche zu finden. Nun knirschten schwere Schritte über den Sand hin: die Schritte von Männern, die eine Last trugen. Mit einer wilden Bewegung preßte Rosa die Hände an ihre schmerzenden Schläfe. Die Tritte der Träger erschollen näher und näher – jetzt wurde von außen die Wand der Bude gestreift, in welcher die beiden Frauen sich befanden. Dann ließ sich ein Geräusch vernehmen in dem benachbarten Raume: man legte die Leiche dort nieder.

„Komm fort!“ sagte Frau Helene sich aufraffend und sich bemühend, Rosa mit sich fortzuziehen, „komm fort von hier! Laß uns nach Hause zurückkehren und zusammen der Entscheidung harren! Vielleicht, daß Gott Erbarmen hat und das schwere Leid von Dir nimmt! Lasse den Muth nicht sinken, Kind! Wir wollen beten, daß die Rettung gelingt.“

Da ließ sich die wohlbekannte Stimme des Arztes vernehmen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_120.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)