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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


in den Staub fällt, und der Calvinismus diejenige Form, in deren Eigenthümlichkeit sein Denken und Fühlen sich hineingebildet hatte. Die Luft, die diesen altkirchlichen Bau durchwehte, athmete er ein wie ein Parfüm; er forderte gewöhnlich von seinem Kopfe, daß er glaube, und von seinem Herzen, daß es empfände, wie die Tradition es verlangte, aber er hörte zuweilen auf zu fordern, und dann war er er selbst.

Er trank den letzten Schluck aus seiner Tasse und lehnte sich in den Rohrsessel zurück. Eine eigenthümliche Müdigkeit überkam ihn, und es war ihm, als verdunkle sich die Luft, und als er in leisem Schrecken vor sich hin griff, stieß er die Tasse um, ohne sie gesehen zu haben. Er richtete sich jäh empor und empfand plötzlich einen heftigen Stich in der rechten Seite; von diesem Moment an wurde es zwar wieder ein wenig heller vor seinen Augen; aber alle Linien schwammen flimmernd durcheinander. Es war ihm unmöglich, den Umrissen auch nur eines Gegenstandes scharf zu folgen.

„Ewige Barmherzigkeit,“ ächzte der Commerzienrath, „soll das mein letztes Stündlein sein? Ich will nicht sterben, in dieser gefährlichen Zeit am allerwenigsten. Ich habe ja ein Kind, und das ist noch so jung.“

Er tastete mit bebenden Händen nach der Stelle, wo die Klingel lag, und schellte heftig.

„Ich habe es immer gesagt,“ fuhr er mit fieberhafter Angst fort, „und Urban wollte es nicht glauben. Nun nehme er den Glauben in die Hand, wenn er kommt! Ich fürchte, es ist ein Schlaganfall.“ Als er nahende Schritte vernahm, klammerte er sich an die Umgitterung des Schreibtisches, um sich eine feste Haltung zu geben, und wandte der Thür den Rücken, um sein Gesicht zu verbergen. An der Frage nach seinen Wünschen hörte er, daß es das Stubenmädchen war, welches eintrat.

„Sagen Sie dem Johannes, daß er auf der Stelle den Doctor Urban zu mir bittet!“ sprach er so fest wie möglich. „Ich hätte dringend nöthig mit ihm zu reden.“

Kaum war das Mädchen hinaus, so brach seine künstliche Haltung zusammen. Er empfand wieder den Schmerz in der Seite und schwankte stöhnend ein Stück in die Stube hinein, kehrte aber dann um und sank gekrümmt in den Lehnstuhl, das Gesicht geröthet, helle Tropfen auf der Stirn. Er lockerte sich hastig die Halsbinde und brauchte die doppelte Zeit dazu, die er sonst nöthig hatte.

„Richte mich noch nicht, himmlische Barmherzigkeit!“ murmelte er wie mechanisch; „ich habe deinen Namen hochgehalten unter einem gottlosen Geschlecht, aber ich bin noch nicht reif zur Ernte –“ die folgenden Worte verloren sich in beständigem Aechzen. Er machte noch einmal Anstalten nach der Klingel zu greifen, gab die Absicht wieder auf und schellte endlich doch. Das Mädchen, welches in den Hof gegangen war, mußte ihn auch gehört haben, denn sie erschien nach einiger Zeit, und der Commerzienrath bestellte ein Glas Wasser.

Er hatte sich wieder zusammengerafft, und als die Thür sich geschlossen hatte, sagte er mit einiger Festigkeit. „Ich darf keine Scene wieder aufführen, wie damals, als ich sie Alle herberufen, um sie Abschied von mir nehmen zu lassen, und ich doch zu ängstlich gewesen war. Verwünschte Farce, die! – Mein Auge ist trübe, und wie das Herz klopft! Vielleicht bin ich auch diesmal zu ängstlich, und es geht vorüber. Wenn nur Urban bald käme!“

Wieder war es ruhig im Zimmer; der Commerzienrath trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Man hörte die Fliegen summen und von einem entfernten Zimmer her die gellenden Touren eines Canarienvogels.

Aber der Commerzienrath vernahm auch noch etwas Anderes, und das waren zwei Menschenstimmen, die vom Hofe heraufklangen, diejenige Toni's und eine andere, welche dem gebückt Dasitzenden plötzlich Leben einflößte. Er stürzte nach der Thür hin und schob mit zitternden Fingern den Riegel vor.

„Nimmermehr,“ sagte er mit jammerndem Tone; „sie wäre die Letzte, die mich in diesem Zustande sehen sollte. Nur ihr diesen Triumph nicht! Ich werde nicht sterben, und ich darf nicht sterben, denn es wäre ihre Erlösung und wahrscheinlich die Erfüllung ihrer Gebete. Sie wird Gott auf den Knieen anflehen jeden Abend, daß der Karl Seyboldt den Morgen nicht erlebe. Aber ich habe sie noch nicht genug gedemüthigt, und sie darf nicht sehen, daß der Feind des Lebens seine Krallen in mein Fleisch geschlagen hat. Hier – hier –“ und er preßte die Hand fest in die rechte Seite und biß die Lippen zusammen und setzte sich wieder in den Stuhl.

Er horchte, wie die silberne Stimme Toni's näher und näher kam, und seine Augen glänzten fieberisch und unsicher. „Nehmen Sie gefälligst einen Augenblick Platz, Frau Hornemann! Ich denke wohl, Papa wird noch nicht wieder ausgegangen sein.“

Es klinkte an der Thür, aber sie ging nicht auf und wich auch dem stärksten Drucke nicht.

Der Kranke rührte sich nicht.

„Papa, hast Du Dich eingeschlossen?“

Keine Antwort. Die Lippen des Commerzienrathes drinnen bewegten sich unhörbar.

„Ach,“ sagte das junge Mädchen bedauernd, „es scheint, daß er doch nicht hier ist. Sie müssen schon verzeihen, liebe Frau Hornemann. Aber vielleicht, daß er in der Fabrik ist, oder im Comptoir; lassen Sie uns einen Versuch machen! Wenn wir ihn nirgends finden, schicken Sie vielleicht Milli den Nachmittag einmal her, damit Sie sich den Gang ersparen.“

Es war wirklich Frau Hornemann, die bei dem grauen Plaschfauteuil stand, im eng schließenden Stoffhute, der über der Stirn mit künstlichen weißen Rosen untersetzt war, das türkisch gemusterte Tuch umgeschlagen und ein Ledertäschchen in der Hand. Der Zug von Hochmuth und Kälte im Gesicht, mit dem sie in's Zimmer getreten, war gewichen, als Toni die Ueberzeugung aussprach, daß ihr Vater abwesend sei, und hatte einer sichtlichen Abspannung Platz gemacht. Aber bei der letzten Bemerkung des jungen Mädchens kräuselten sich ihre schmalen Lippen in spöttischer Bitterkeit, und sie sagte: „Der Herr Vater haben es lieber, wenn ich selbst komme. Ich besuche ihn ohnehin nicht oft genug.“

„O liebe Frau Hornemann, dann sollten Sie auch etwas ablegen und ein Weilchen mit mir vorlieb nehmen,“ rief Toni und sah die alte Frau mit ihrem bezaubernden Lächeln so unschuldig an wie ein bittendes Kind. „Verzeihen Sie meiner Theilnahme die Frage, ob Sie etwas beunruhigt? Kann ich den Vater in irgend einer Sache mit bitten, Ihnen zu helfen? Ich glaube, Sie sehen ein wenig unzufrieden aus, und ich hatte gemeint, Sie müßten in lauter Mutterfreude schwimmen. Aber erst will ich Ihnen selber helfen. Nicht wahr, Sie setzen sich zu mir und warten, bis der Vater kommt?“ Und sie ging zu Frau Hornemann und bückte sich rasch, um ihr die Schleife der Hutbänder zu lösen. Aber diese trat zurück und wehrte so bestimmt ab, daß sie einhielt.

„Es wäre das erste Mal, mein Kind, daß ich als Gast in diesen Mauern säße. Bemühen Sie sich nicht! Ich werde sofort gehen.“

Toni sah sie befremdet an. „Ich sollte eigentlich beleidigt sein,“ schmollte sie. „Das sagen Sie so, als wäre Ihnen von unserer Seite etwas zu Leide geschehen, was Sie uns gar nicht verzeihen könnten.“

Ueber das Antlitz der alten Frau flog es wie Gluth, und in ihren Augen blitzte es feucht wie Vorahnung zorniger Thränen. Sie schien etwas sagen zu wollen, was sie unterdrückte, und endlich raffte sie sich mit jener Selbstbeherrschung zusammen, welche ihr ganzes Wesen ausprägte und die eine Vergangenheit sie gelehrt haben mochte, welche sich mit tiefen Runen in ihre Züge eingezeichnet hatte. Sie ging zu Toni und sah ihr mit unverhohlener Rührung in die Augen.

„Gott segne Sie, mein liebes Kind! Wo ein Engel ist, da ist immer Himmelsluft um ihn, und wenn er mitten durch die Hölle flöge. Für Ihr schönes junges Herz ist die Welt eine Schaubühne, auf der lauter Lustspiele aufgeführt werden von muntern Acteurs; Sie sehen die Kleider glänzen und die weiß- und rothgeschminkten Menschen und die gemalte Leinwand und glauben, das sei Alles, was sie Leben nennen. Gott bewahre Ihnen diesen Glauben und lasse Sie nie hinter dem Glanze das Dunkel sehen und das Elend, den Zank und Hader und die Täuschungen!“ Sie hielt einen Augenblick inne. „Sie verstehen mich nicht, mein Kind,“ sagte sie dann; „man muß es gesehen haben, um es zu begreifen, und ich will Ihr liebes junges Herz nicht schwer machen mit Räthseln. Wenn Sie Ihren Vater fänden, wäre es mir recht sehr lieb; ich möchte den Martergang nicht gern wiederholen.“

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_096.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)