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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 5.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Hohe Fluth.
Erzählung von Hans Warring.
(Fortsetzung.)


„Wissen Sie auch, Frau Helene, daß der heutige Abend mich wunderbar an den erinnert, den wir vor zehn Jahren zum letzten Mal zusammen verlebten?“ fragte Gerhardt, als er neben ihr langsam den Weg hinabschritt. „Es war damals auch eine so milde schöne Nacht, wie die heutige. Sie sollten am nächsten Morgen abreisen, um zu Ihren Eltern in die ferne, große Residenz zurückzukehren, und ich war von E., wo ich als jüngster Referendar auf dem Kreisgerichte arbeitete, herausgekommen auf das Landgut Ihrer Tante, um Abschied von Ihnen zu nehmen. Aber das Glück war mir nicht günstig – ich fand das Haus voll von Gästen. Vettern und Basen waren von Nah und Fern gekommen. Sie waren so umringt, Frau Helene, daß ich, als die Stunde der Heimkehr geschlagen hatte, mich mit einer Verbeugung und einigen leisen Worten beim Abschied begnügen mußte. Und doch hätte ich meine Seligkeit darum geben mögen, wenn ich nur zehn Minuten mit Ihnen hätte sprechen können. – Ich glaube, nie vorher und kaum jemals nachher bin ich wieder so unglücklich gewesen, wie in jener Nacht, als ich langsam heimritt durch die blühenden Felder.“

Sie hatte ihm schweigend zugehört. Auch in ihr war die Erinnerung an jenen Abend und an das herbe Weh des Abschieds wieder wach geworden. Sie entsann sich, wie mühsam sie damals ihre Thränen zurückgehalten, wie schwer sie hatte kämpfen müssen, um die ihr schon früh zur Pflicht gemachte Selbstbeherrschung aufrecht zu erhalten. Dann, zurückgekehrt in ihr stattliches, reiches Elternhaus, hatte sie gewartet, still und geduldig. Sie hatte es nicht fassen können, daß Alles vorbei sein – daß sie sich getrennt haben sollten für immer. Aber ein Tag nach dem andern war verflossen; sie waren zu Wochen und Monaten geworden, und keine Kunde war zu ihr gelangt. Ihre Gesundheit hatte zu wanken angefangen – sie entsann sich, wie sie sich darüber gefreut, wie sie gehofft hatte, es werde bald Alles vorüber sein. Ihre Eltern, deren einziges Kind sie war, liebten sie zärtlich und versäumten nichts, was sie retten konnte. Der Arzt hatte Luftveränderung und Zerstreuung angerathen, und unverweilt wurden Reisevorbereitungen getroffen. In der Schweiz hielt man sich längere Zeit auf. Hier, in einer Pension unweit Flüelen, am Vierwaldstätter See war es, wo Helene ihren Gatten kennen lernte. Er war ein stattlicher, ernster Mann in der Vollkraft des Lebens. Seit einiger Zeit Wittwer, zog er sich von allen rauschenden Vergnügungen zurück, schloß sich aber mit großer Herzlichkeit an Helenens Eltern an. Die schöne sanfte Tochter hatte gleich anfangs einen mächtigen Eindruck auf den reifen, hochgebildeten Mann gemacht, der noch gesteigert wurde durch die leidenschaftliche Liebe, welche sein zehnjähriges Töchterchen für Helene faßte. Da er sich schon früh als tapferer Officier ausgezeichnet hatte und schnell avancirt war, so konnte seine Lebensstellung auch die anspruchsvollsten Eltern befriedigen. Helene hatte unterdessen ihren Stolz zum Bundesgenossen aufgerufen; ihr siebenzehnjähriges Köpfchen hatte einen hohen Begriff von der Würde ihres Geschlechts, und sie sagte sich, daß es ihrer unwürdig sei, sich mit Schmerzen nach Jemand zu sehnen, der sich nichts aus ihr mache. Zudem war sie daran gewöhnt, die Wünsche ihrer Eltern als Befehle zu betrachten – sie widerstand ihnen auch jetzt nicht. Sie war noch nicht achtzehnjährig, als sie Herrn von Malwitz ihre Hand reichte und ihm in seine Garnison folgte. Alle diese Erinnerungen waren mit der Plötzlichkeit eines Blitzes wieder vor ihre Seele getreten. Alle Gefühle, von welchen sie damals durchwogt war, lebten in ihr mit voller Klarheit wieder auf, während die Worte des Mannes in ihr Ohr tönten. Er sprach mit bewegter Stimme – wollte er etwa jetzt, da er sie durch Zufall wiedergefunden hatte, die Beziehungen von Neuem anknüpfen, die er damals durch eine zufällige Trennung hatte zerreißen lassen? Er hatte in der Zwischenzeit so wenig an sie gedacht, daß er nicht einmal die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens kannte – wähnte er in ihr noch das leichtgläubige sechszehnjährige Mädchen zu finden, das seine Huldigungen zitternd und wonnevoll empfangen und darauf gläubig und vertrauensvoll das Gebäude ihres künftigen Glückes errichtet hatte? Hielt er sie für eine, nach welcher er, wenn der Zufall sie in seine Nähe führte, nur nachlässig die Hand ausstrecken dürfe? Ihr Stolz empörte sich bei diesem Gedanken – sie war es sich, ihrem verstorbenen Gatten und ihrem Kinde schuldig, die Würde ihres Geschlechts und des Namens, den sie trug; streng zu wahren.

„Wer von uns hat nicht an Stunden zurückzudenken, welche unsere Erwartungen nicht erfüllt haben!“ sagte sie mit ihrer schönen, ruhigen Stimme, welche trotz ihres Wohlklangs dennoch ernüchternd auf ihren erregten Begleiter wirkte, „zumal in der Jugendzeit, wo unsere Wünsche und Hoffnungen gern bis in den Himmel hinein fliegen. In späteren Jahren lernen wir die Kunst, Alles auf das gehörige Maß zu beschränken. Ich habe oft gedacht, ob die Erziehung, welche uns das schon in der Jugend lehren könnte, nicht die verständigste und tüchtigste wäre. Wie es bei Männern sein mag, weiß ich natürlich nicht; allein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_077.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)