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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


des Parquets übertönt und durch das Geräusch der Zuspätkommenden gestört. Nach und nach wird das Publicum aufmerksamer und folgt bald mit größerm, bald mit geringerm Interesse dem Gange der Handlung. Zuweilen applaudiren schon am Schlusse des ersten Actes einige Freunde des Dichters, und die Claque, welche nicht fehlt, macht einen schwachen Versuch, den beliebten Helden oder die erste Liebhaberin herauszurufen.

Im zweiten Acte steigert sich im günstigen Falle die Theilnahme oder die Spannung. Einzelne besonders gelungene Scenen und poetische Schönheiten werden beifällig aufgenommen und lebhaft beklatscht und die eleganten Toiletten der Schauspielerinnen von den anwesenden Damen bewundert. Mitunter verdankt der Dichter dem schönen Kleide und dem reizenden Aussehen einer beliebten Künstlerin einen Erfolg, den er am wenigsten erwartet hat, oder der Ungeschicklichkeit eines untergeordneten Statisten, der eine falsche Meldung macht und über seinen Degen stolpert, eine Störung, die ihn zur Verzweiflung bringt.

Entscheidend ist der dritte Act, in dem sich gewöhnlich der dramatische Conflict steigert, die Charaktere wachsen und die Handlung ihren Höhepunkt erreicht. In diesem Falle, wenn die Schauspieler noch dazu Gelegenheit finden, ihr Talent zu zeigen, und für überraschende Scenen und glänzende Abgänge gesorgt worden ist, wird der Beifall allgemein und rauschend. Selbst der erste Rang applaudirt gegen seine sonstige Gewohnheit, und der glückliche Dichter wird so lange gerufen, bis er die Neugierde der Zuschauer durch sein Erscheinen befriedigt und mit der hergebrachten linkischen Verbeugung dankt. Nicht immer leuchten die Sterne so günstig, und weit öfter ist der Erfolg ein zweifelhafter oder trauriger. Der Vorhang fällt, ohne daß sich eine Hand rührt, oder ein ominöses Zischen macht sich bereits bemerkbar. Manchmal kämpfen noch die bösen mit den guten Geistern und in den Applaus der Freunde und der Claque mischen sich die minder angenehmen Laute der Opposition, bis die eine oder andre Partei den Sieg behält.

In den darauf folgenden Zwischenakten eilt die Menge nach dem Corridore und der Conditorei, theils um frische Luft zu schöpfen, theils um die materiellen Bedürfnisse neben den geistigen zu befriedigen, wobei Bekannte und Freunde ihre Meinungen und Urtheile über das neue Schauspiel austauschen. Hier wird der Mangel an Handlung getadelt, dort die poetische Sprache und die Charakteristik gelobt, das Spiel der Künstler gerühmt oder bemängelt. Am härtesten urtheilen die Collegen des Dichters, deren Stücke entweder zurückgewiesen oder durchgefallen sind, die Agenten und Recensenten der Theaterblätter, welche mit dem Verfasser oder der Intendanz nicht auf freundschaftlichem Fuße stehen. Um die tonangebenden Kritiker der großen politischen Zeitungen, meist hochgebildete und unabhängige Männer, sammeln sich mehr oder minder dichte Gruppen, begierig die Ansichten derselben zu hören und eine geistreiche Bemerkung zu erlauschen, um dieselbe sich anzueignen und weiter zu colportiren. Mancher Recensent, dem es an selbstständigem Urtheile fehlt, schöpft seine Weisheit aus diesen flüchtigen Unterhaltungen des Corridors in den Zwischenacten.

Das Zeichen mit der Glocke unterbricht die Conversation und ruft das Publicum auf seine Plätze. Der vierte und der fünfte Act, diese besonders scharfe Klippe für den Verfasser, verlaufen ohne besondere Störung, außer daß sich vielleicht das Interesse gegen das Ende sehr abschwächt. Am Schlusse müssen die Hauptdarsteller und der Verfasser noch einmal erscheinen, wenn das Stück gefällt, und die erste Liebhaberin erhält wohl auch von einem begeisterten Verehrer ein prächtiges Bouquet oder einen Lorbeerkranz zugeworfen. Im entgegengesetzten Falle folgt ein tiefes Schweigen oder ein lautes Zischen, das sich nur selten zu einem wirklichen Theaterscandale steigert.

Man würde jedoch Unrecht thun, wenn man den Erfolg einer ersten Vorstellung für maßgebend halten wollte. Die Erfahrung lehrt zuweilen, daß Stücke, welche mit vielem Beifall gegeben worden sind und in denen der Verfasser mehrere Male gerufen wurde, schon nach wenigen Aufführungen wieder vom Repertoire verschwinden und sich nicht behaupten können. In der That ist das Publicum mit seinen Launen und Stimmungen unberechenbar, heute überaus freundlich und nachsichtig, morgen kalt und streng. Dazu kommen noch verschiedene Zufälligkeiten, von denen der Erfolg mehr oder minder abhängt. So erzählt Herr von Putlitz, der bekannte Dichter, in seinen „Theater-Erinnerungen“ von einer Aufführung seines Schauspiels „Die blaue Schleife“: „Das Publicum war freundlich, aber nach und nach schien es mir, als ließe die Theilnahme nach und man finge an, sich zu langweilen. Da verfiel die liebenswürdige Frau von Lavallade, mit der ich seit längerer Zeit befreundet, und mit der ich an dem Abend zufällig in derselben Parquetloge zusammengetroffen war, auf ein freundliches Mittel. Sie fing an, sich zu amüsiren, spielte so vortrefflich die Amüsirte, sprach das so sichtlich aus, daß die ganze Umgebung auf sie aufmerksam werden mußte. Das Mittel half wirklich. ‚Nun, wenn die Dame sich so unterhält bei dem Stücke und es so reizend findet, muß es wohl amüsant sein,‘ dachten die Leute, und die Theilnahme, die schon im Erschlaffen war, belebte sich auf’s Neue. Das Mittel ist zu empfehlen, aber es bedarf einer so wohlwollenden Freundin, die zugleich so vortreffliche Darstellerin ist, als Frau von Lavallade es war.“

Es vermag, wie diese kleine, charakteristische Geschichte lehrt, ein einziger wohlwollender Freund eine günstige Stimmung hervorzurufen, aber die Feinde vermögen auch das Gegentheil zu bewirken. Wie Heiterkeit und Lachen, so ist auch Langeweile und Unruhe ansteckend, und das Publicum in seiner Gesammtheit für jeden äußern Eindruck weit leichter empfänglich, als der einzelne Zuschauer. Ein Wort, eine komische oder böswillige Aeußerung, selbst eine Miene kann ein Stück zum Falle bringen, wie ich das selbst schon erlebt habe. In dem Drama „Columbus“ eines berühmten Aesthetikers rief in der ergreifenden Scene, wo der Held die neue Welt erblickt und seine Begleiter „Land! Land!“ jubeln, ein Besucher der Galerie: „Das steht ja in Becker’s Weltgeschichte.“ – Der schlechte Witz wurde applaudirt, belacht und zerstörte die ganze Illusion, sodaß die werthvolle Dichtung nur einen Achtungserfolg errang.

In einem anderen Schauspiele eines ältern, namhaften Berliner Schriftstellers und Kritikers, in dem der sterbende Franz von Sickingen, auf den an seinem Todtenlager stehenden Philipp von Hessen deutend, sagt: „Was ich gewollt, wird Euch dieser verkünden,“ riefen einige lustige Studenten nach dem Fallen des Vorhanges zur Verwunderung des übrigen Publikums nicht den Hauptdarsteller, sondern den Schauspieler, welcher die unbedeutende Nebenrolle des Philipp gab, so lange hervor, bis derselbe endlich erschien. Eine tiefe Baßstimme fragte den Ueberraschten: „Was hat Franz von Sickingen gewollt?“ – und versetzte dadurch dem Stücke einen schweren Streich, von dem es sich nicht wieder erholte. – Ebenso kann die Ungeschicklichkeit eines verlegenen Statisten, die verzeihliche Gedächtnißschwäche eines Schauspielers, ein zweideutiger oder verkehrt gesprochener Satz ein unauslöschliches Gelächter hervorrufen und den schädlichsten Einfluß auf die Stimmung üben.

Nicht selten vernichten die an den folgenden Tagen in den Zeitungen erscheinenden Besprechungen den bereits errungenen Erfolg des ersten Abends. Obgleich man der Mehrzahl der Berliner Kritiker ein richtiges Verständniß, eine tüchtige Bildung und meist auch eine große Unparteilichkeit nachrühmen muß, so liegt es doch einigermaßen in der Natur ihres Amtes und in dem ganzen angeborenen Wesen des Berliners, mehr die Fehler, Schwächen und Lächerlichkeiten hervorzuheben, als die Vorzüge und guten Seiten einer neuen Erscheinung anzuerkennen. So mancher frische Lorbeerkranz des zwei oder drei Mal gerufenen Dichters wird noch hinterher mit schonungsloser Hand zerpflückt und der durch die Bemühungen der Freunde und der Claque erworbene Triumph in eine nachträgliche Niederlage umgewandelt. Nur eine ganz kleine Zahl von dramatischen Arbeiten besteht die Feuerprobe einer ersten Vorstellung, welche übrigens meistens ebenso interessant für die Zuschauer, wie schwierig und gefährlich für den Dichter und die Schauspieler ist.

Max Ring.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_066.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)