Seite:Die Gartenlaube (1877) 065.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


hat, worüber gewöhnlich mehrere Wochen vergehen, erhält der Verfasser eine schriftliche Anzeige. Mit Ungeduld erwartet er jetzt die Aufführung, welche sich jedoch Monate lang und in einzelnen Fällen über Jahr und Tag hinauszieht. Bald sind es bereits früher eingegangene Verpflichtungen, bald Ueberbürdung der Schauspieler mit andern dringenden Aufgaben, bald bereits abgeschlossene Gastspiele, welche diese unangenehme Verzögerung herbeiführen. Natürlich kann man der Intendanz nicht verdenken, wenn sie den Werken anerkannter Schriftsteller oder solchen Stücken den Vorzug giebt, von denen sie sich einen besonders günstigen Erfolg verspricht.

Eine nicht geringe Schwierigkeit bietet die Besetzung der Rollen, wobei so viel wie möglich die Wünsche des Verfassers beachtet werden. Aber auch bei dieser wichtigen Angelegenheit kommen die keineswegs so einfach daliegenden Bühnenverhältnisse in Betracht. Gerade die besten Schauspieler, denen der Autor seine Arbeit vorzugsweise anvertrauen möchte, sind am meisten beschäftigt und durch anderweitige Leistungen so sehr in Anspruch genommen, daß sie ohne Störung des Repertoires keine neue Rolle lernen können; zuweilen, wenn auch selten, bietet das sogenannte Rollenmonopol und die gegenseitige Eifersucht der Schauspieler unerwartete Hindernisse, oder ein und der andere Künstler ist mit der ihm zugetheilten Aufgabe nicht zufrieden und sucht sich derselben zu entledigen. In solchen Fällen bedarf es der größten Energie von Seiten der Intendanz, der feinsten Diplomatie von Seiten des Schriftstellers, um die vorgeschlagene Besetzung zu erzielen.

Nach Erledigung dieses wichtigen Punktes wird ein Tag für die Abhaltung der Leseprobe angesetzt, wobei sämmtliche in dem Stück auftretende Schauspieler ihre Rollen in Gegenwart des Regisseurs sich gegenseitig vorlesen, um den Inhalt desselben kennen zu lernen. Leider wird in Deutschland und auch in Berlin der Leseprobe keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und der Dichter nur ausnahmsweise hinzugezogen, obgleich er doch allein den besten Aufschluß über den Geist und die Intentionen seines Werkes, sowie über die Natur der von ihm geschilderten Charaktere zu geben vermag. Dieser Mangel ist um so mehr zu bedauern, als häufig das Schicksal eines Stückes von dem richtigen Verständniß der Dichtung abhängt, die lebendige Wechselwirkung zwischen dem Verfasser und den Künstlern das Interesse an der Aufführung steigert und wesentlich zum Gelingen des Ganzen beitragen muß. Außerdem kann der Autor bei der Leseprobe etwaige praktische Winke und Vorschläge benutzen, nothwendige Streichungen, Anordnungen und Verbesserungen vornehmen, was später, wenn einmal die Rollen gelernt worden sind, schwer oder ganz unmöglich ist.

Wieder vergehen einige Wochen, welche der Regisseur zur Einrichtung und Inscenirung, zur Beschaffung der zu brauchenden Costüme und Decorationen, die Schauspieler zum Auswendiglernen und Studium ihrer Rollen verwenden, worauf die eigentlichen Proben beginnen. Während in Frankreich gewöhnlich fünfzehn bis zwanzig Proben bei einem neuen Stück stattfinden, so daß der Souffleur fast überflüssig wird, läßt man sich in Deutschland in der Regel mit deren drei bis vier genügen. Hauptsächlich dient die erste Probe nur dazu, die verschiedenen Stellungen zu marquiren, die Gruppirung anzugeben und den dabei anwesenden Inspicienten auf die zur Verwendung kommenden Requisiten aufmerksam zu machen. Die Mehrzahl der Schauspieler hat die Rollen noch nicht inne und spricht dieselben ohne Ausdruck und Mienenspiel, wobei der Souffleur fortwährend dem schwachen Gedächtniß zu Hülfe kommen muß. Häufig unterbricht der auf der Bühne sitzende Regisseur den Dialog mit seinen Bemerkungen, indem er bald eine falsche Stellung oder die unrichtige Betonung eines Wortes rügt, bald dem Inspicienten oder den Schauspielern eine nöthige Weisung giebt. Der arme Dichter, welcher indeß nur selten der ersten Probe beiwohnt, empfindet dabei Höllenqualen, wenn er die Gleichgültigkeit bemerkt, mit der die Schauspieler vorläufig das Werk seiner Nächte behandeln.

Nicht viel besser geht es auf der zweiten Probe her; erst in der dritten und noch mehr bei der Generalprobe strengen sich die Schauspieler an, ihren Rollen gerecht zu werden, wozu die Gegenwart des General-Intendanten mit beiträgt. Jetzt erst gewinnt das Ganze eine gewisse Abrundung, greifen die Scenen rascher und sicherer in einander, so daß der anwesende Dichter einen klaren Einblick in sein eigenes Werk erhält. Es ist eine Lust, zu sehen, wie durch begabte Darsteller Fluß und Ebenmaß, Zug und Feuer in die Gestaltung und Veranschaulichung eines Stückes kommt, wie alles sich unter Künstlerhand klärt und formt. Dieses Wachsen und Werden, geleitet und gelenkt durch den Regisseur, gewährt ein überaus belebtes, oft durch komische Intermezzos unterbrochenes Bild, und erst wenn alles klappt und stimmt, wenn Wort und Seufzer, Sturm und Donner, Versenkung und Verwandlung präcis und prompt von Statten gehen, treten gleichzeitig die Mängel und Vorzüge des Stücks deutlicher hervor; denn erst bei einigermaßen abgeklärter Darstellung zeigt sich der geistige und künstlerische Werth einer dramatischen Arbeit. Dann kann es wohl auch vorkommen, daß noch in der letzten Stunde die bereits angekündigte Aufführung wegen nöthiger Veränderungen verschoben wird, oder auch gänzlich unterbleibt, wie dies vor nicht langer Zeit einem namhaften Bühnendichter geschehen ist – ein unangenehmer Vorfall, der vielleicht durch eine strenger gehandhabte Leseprobe sich vermeiden ließe.

Endlich kommt der langersehnte Tag der ersten Vorstellung, wenn nicht noch im letzten Augenblicke durch eine plötzliche Erkrankung eine Abänderung nothwendig wird, weshalb der Verfasser mit ängstlicher Sorge die Gesundheit der in seinem Stück beschäftigten Schauspieler überwacht. Gewöhnlich werden bei jeder neuen Aufführung die Billete schnell vergriffen und, wenn das Publicum sich einen besondern Genuß oder einen kleinen Scandal verspricht, die Plätze den Unterhändlern doppelt und dreifach bezahlt. An dem bestimmten Abend füllt sich das Haus vorzugsweise mit den Theaterfreunden, welche so leicht keine Novität zu versäumen pflegen. Gewöhnlich sieht man eine große Anzahl bekannter Personen und dieselben Gesichter immer wieder bei einer solchen Gelegenheit. Wenn auch das Theater nicht mehr die Bedeutung wie in früherer Zeit hat und durch andere Interessen abgelöst worden ist, so übt doch eine erste Vorstellung noch jetzt einen eigenen Reiz auf die Bewohner der Residenz. Das Berliner Publicum zeigt dabei eine ganz eigenthümliche Physiognomie und erscheint besonders im königlichen Schauspielhause weit kritischer, anspruchsvoller, schonungsloser, zur Parteinahme und Opposition mehr geneigt als bei andern dramatischen Aufführungen.

Einen Hauptbestandtheil desselben bilden die Damen und Herren der Börsenaristokratie, welche sich amüsiren und jede neue Erscheinung kennen lernen wollen, um darüber mitsprechen zu können und weil es einmal zum guten Tone gehört. Dann kommen die Freunde und Gegner des Dichters, mit der Absicht, entweder zu nützen oder zu schaden, die Vertreter der Presse und die Berichterstatter der verschiedenen Zeitungen, die gerade zur Zeit anwesenden Fremden und Abgeordneten des Reichstages, die Verwandten und Verehrer der Schaupieler und besonders der Schauspielerinnen, endlich die große Zahl der Indifferenten, stets bereit, sich dem Urtheile einiger Stimmführer oder der Majorität anzuschließen. Zu bedauern ist es, daß gerade der Gelehrtenstand und die intelligente Beamtenwelt nur sparsam erscheint, woran wohl hauptsächlich die hohen Preise und der Mangel an Zeit die Schuld tragen mögen. Weit mehr als in andern, selbst kleinern Städten macht sich aus diesem Grunde in Berlin der Mangel an einem tiefern Verständnisse und an einem höhern Interesse auf dem dramatischen Gebiete bemerkbar, wenn auch unserm großen Publicum keineswegs die Freude am Theater, ein instinctmäßiges Gefühl für das Gute und Schöne und ein meist zutreffendes, scharfsinniges Urtheil abgeht. Leider aber werden diese Vorzüge wieder durch das absprechende Wesen und den negirenden, Alles zersetzenden und bekrittelnden Verstand des Berliners getrübt, der theils aus Ueberhebung, theils aus Furcht, sich durch seine Begeisterung lächerlich zu machen, sich mehr ablehnend als anerkennend verhält und jede neue Erscheinung mit einem gewissen kalten Mißtrauen begrüßt, bis er sich erst von ihrem wahren Werthe vollkommen überzeugt hat.

Mit dieser Stimmung des Publicums hat jede erste Vorstellung mehr oder minder zu kämpfen. Außerdem fehlt es nicht an Gerüchten und Bemerkungen über das neue Stück, welche nicht immer aus der reinsten Quelle fließen und nicht selten im Voraus ein ungünstiges Vorurtheil erwecken. Mit Ungeduld erwarten die Zuschauer das Zeichen zum Beginne der Aufführung. Langsam steigt der Vorhang in die Höhe, und die Exposition nimmt ihren Anfang, häufig von dem Lärme der auf- und zuklappenden Sitze

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_065.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)