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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

„Gräulich anzuhören! Das glaube ich gern, mein Kleiner. Ich wünschte nur, ich wüßte ein Schutzmittel, das Euch sicher stellte gegen die Unbilden des entfesselten Elementes.“

Die Lippen des jungen Mädchens zuckten spöttisch.

„Sie kennen ja so Vielerlei, Doctor – Simonis,“ sagte sie, „vielleicht möchte es Ihnen auch gelingen, eine chinesische Mauer um den Badeort zu bauen. Ich denke, das würde dem gewünschten Zwecke entsprechen.“

„Das ginge über meinen Zweck hinaus,“ entgegnete er ernsthaft. „Mein Wunsch beschränkt sich darauf, die Bewohner dieses Hauses, nicht die ganze Badegesellschaft zu schützen.“

„Es wäre viel christlicher, wenn Sie diesen Wunsch auf die Allgemeinheit ausdehnten.“

„Christlicher?! Können Sie im Ernste einem Abkömmlinge von Juden und Judengenossen die Zumuthung stellen, sich einer christlichen Nächstenliebe zu befleißigen? – Auch ich bin gewöhnt, nur da Hülfe zu leisten, wo solche noth thut, hier aber thut sie dringend noth.“

„Und weshalb hier mehr als anderswo?“ fragte das junge Mädchen, indem sie hastig den Kopf erhob und einen finstern Blick auf den Gast warf.

„Weil Frau von Malwitz und Felix von zarter Gesundheit sind und weil sie den Lärm stets in nächster Nähe haben.“

„Dachte ich's doch!“ rief das junge Mädchen mit zuckender Lippe, „dachte ich's doch, daß es wieder auf eine Beleidigung abgesehen war! Ich möchte Sie in allem Ernste bitten, mein Herr, Ihre Worte besser zu bedenken.“

Der Doctor blickte mit einer unschuldig verwunderten Miene von seiner Theetasse auf.

„Mein gnädiges Fräulein,“ sagte er, „ich sehe mit Ueberraschung, daß Sie meinen harmlosen Worten einen versteckten Sinn unterlegen. Ich sollte denken, daß dieselben kaum mißzuverstehen sind. Da dieses Haus das letzte in der Villenstraße und das nächste der See ist, so wird mein Ausspruch kaum noch einer Erklärung bedürfen.“

Die junge Dame antwortete nicht, aber ein verächtlicher Zug, der sich um ihren ausdrucksvollen Mund legte, sprach deutlicher, als Worte es vermocht hätten.

„Sie müssen wissen, lieber Freund,“ wandte sich Frau Helene lächelnd zu dem neben ihr sitzenden Gaste, „daß zwischen meiner Tochter und dem Doctor ein fortwährender Krieg stattfindet. Täglich hoffe ich, daß die fortgesetzte Anstrengung des Kampfes eine Erschöpfung beider Parteien zur Folge haben werde, die sie zum Frieden geneigt machen möchte. Bis jetzt aber hat sich zu meinem Bedauern meine Hoffnung nicht erfüllt.“

„Ist das meine Schuld, Frau Helene? Ich wünsche aufrichtig den Frieden, allein das gnädige Fräulein kann ohne Kampf nicht leben. Es ist das mehr ihr Verhängniß, als eigene Wahl. Das Blut ihrer erlauchten Vorfahren, das Blut von Rittern und Kriegern braust durch ihre Adern – ich unglücklicher Mensch bin derjenige, welcher am meisten darunter leidet.“

„Wenn dies der Fall ist,“ antwortete Rosa schnell, „dann wundert es mich, daß Sie sich Ihrer Abstammung gemäß nicht friedliebender zeigen. Kampfesmuth pflegt man im Allgemeinen Ihrem Volke nicht zum Vorwurf zu machen.“

Dem Doctor zuckte es um die Lippen. „Wahr, mein Fräulein! Ich habe auch schon darüber nachgedacht, was mich so hat aus der Art schlagen lassen, und da habe ich herausgefunden, daß es der Tropfen versprengten Ritterblutes sein muß, der einst durch die Heirath meines Großvaters mit der Schwester des Ihrigen in unsere Familie gekommen ist. Meine schöne Großmutter muß doch keine so große Antipathie gegen die Abstammung des kecken, eben getauften Bankiers gehabt haben, der es wagte, sie aus einem Fräulein von Malwitz zu einer einfachen Frau Simonis zu machen. Ich muß mir diesen Umstand immer wieder in's Gedächtniß zurückrufen, um mein Gemüth daran aufzurichten, wenn es durch Ihre Grausamkeit, gnädige Cousine, niedergedrückt wird.“

„Sie vergessen, daß man die Heirath meiner Großtante auch anders erklären kann, und ich bin überzeugt, daß meine Erklärung die richtige ist. Ihr Großvater war ein reicher Mann und seine Gattin eine arme Waise, als er ihr seine Hand anbot.“

„Ich protestire gegen diese Erklärung,“ rief der Doctor schnell. „Mein Gefühl empört sich dagegen, daß Sie dieser Dame aus erlauchtem Hause denselben Schachergeist zusprechen, der meinen Großvater und alle seine Vorväter beseelt und den Mammon zusammengescharrt hat, der noch manche Generation der Simonis beschweren wird. Nein, mein Fräulein, eine solche Beleidigung kann ich meiner Großmutter nicht anthun lassen. Ich behaupte, es war Liebe – ein beseligender Zug des Herzens, der sie meinem Großvater einte. Widersprechen Sie mir nicht! Es wird Ihnen nie gelingen, mich vom Gegentheil zu überzeugen.“

Um einer heftigen Antwort Rosa's vorzubeugen, zu welcher sie ganz bereit schien, streckte Frau Helene die Hand nach der Glocke aus und gab dem eintretenden Diener einige Befehle. Das junge Mädchen war dem Winke gehorsam und schwieg, aber der Ausdruck ihres Gesichts gab eine desto beredtere Antwort. Ihre Oberlippe hob sich wieder empor, und wieder erschien darunter der perlmutterweiße Streif ihrer kleinen scharfen Zähne.

„Wie lange bleibst Du hier, Onkel?“ fragte der Kleine.

„Morgen den ganzen Tag,“ lautete die Antwort. „Denke darüber nach, wie wir ihn genießen wollen, mein Junge! Und Du, Schack, merke Dir, daß sich morgen das Vergnügungscomité constituirt. – Zeige Dich dankbar und nimm ohne Widerrede Dein Kreuz auf die Schultern!“

„Thorheit, Doctor – ich danke für die Ehre. Ich habe nicht einmal einen Begriff davon, welche Pflichten mir als Mitglied dieses schrecklichen Comités obliegen würden.“

„Man wird sich Deiner Unwissenheit schon annehmen,“ tröstete ihn der Arzt.

„Wer kann mich zu diesem Amte vorgeschlagen haben? Ich bin fast unbekannt hier.“

„Fast, aber doch nicht ganz. – Uebrigens darfst Du mich nicht so strafend ansehen; ich bin unschuldig daran. Hätte ich freilich ahnen können, daß Du Dich als der fragliche Schack auf Hirschberg entpuppen würdest, dann hätte ich mit meiner Stimme nicht zurückgehalten. Denn mir ist noch sehr wohl erinnerlich, daß Du in früherer Zeit ein unverwüstlicher Tänzer warst. Ja, ich entsinne mich sogar, daß es Dir gelang, selbst mich einmal zu bewegen, in einer entsetzlichen Sturmnacht bei strömendem Regen eine drei Meilen lange Fahrt im offenen Wägelchen zu machen, damit Du den Cotillon mit einer gewissen jungen Dame nicht versäumtest.“

„Du sprichst von längst vergangenen Zeiten,“ erwiderte Jener, „und vergissest, daß andere Motive, als bloße Tanzlust damals vorlagen.“

„Diese Motive können wiederkehren. – Nun, es würde mir wirklich eine rechte Freude sein, Dich in die Stimmung Deiner gefühlvollen Jugendzeit zurückfallen zu sehen. Ich werde Dich Bekanntschaften machen lassen, die es Dir beweisen sollen, wie empfänglich Dein Herz noch ist.“

Gerhardt war im Begriffe zu erwidern, daß neue Bekanntschaften dazu weniger im Stande sein dürften, als solche, die aus glücklichen Jugendjahren stammten, allein die Hausfrau, als ob sie diese Entgegnung geahnt hätte und sie unterdrücken wollte, gab das Zeichen zum Aufstehen. Die Stühle wurden gerückt, und man erhob sich. Während der Doctor sich die ein- für allemal gestattete Cigarre anzündete, war Frau Helene langsam die Treppe hinabgeschritten. Gerhardt folgte ihr, und Beide wandten sich dem Mittelgange zu, der durch die Gartenanlagen bis zu der Balustrade führte, hinter welcher der Berg schroff zur See abfiel. Während man drinnen verweilt hatte, war auch der letzte Schimmer der Tageshelle verschwunden, dafür aber war der Mond aufgegangen, und in seinem Lichte glänzten die bewegten Wogen wie flüssiges Silber. In den blühenden Büschen zwitscherte hin und wieder ein Vogel wie im Traum, und unter den Bäumen rechts und links vom Wege glänzten Johanniskäfer im thaufeuchten Grase.

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_060.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)