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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

dachte ich darüber nach, welch einen juristischen Titel Sie jetzt wohl führen könnten. Haben Sie die Beamtencarrière aufgegeben?“

„Seit längerer Zeit schon,“ entgegnete er. „Es waren damals eben andere Zeiten als jetzt. Und als ich einsehen gelernt hatte, daß Kenntnisse, Pflichttreue und Arbeitslust nicht ausreichten, mich in meiner Laufbahn vorwärts zu bringen, daß man noch außerdem ein gänzliches Aufgeben meiner selbständigen Ansicht von mir verlangte – da wählte ich einen andern Beruf. Ich habe bis jetzt keine Ursache gehabt, es zu bereuen.“

„Das glaube ich, sagte der Doctor. „Die Verwandlung eines geplagten, unbesoldeten Assessors in einen freien, wohlhabenden Gutsbesitzer ist sicherlich für Jedermann eine ganz angenehme Sache. Aber nicht Jedem geht es so gut, so zu rechter Zeit der Erbe einer reichen, alten Tante zu werden. Du hattest aber immer Glück bei den alten Damen. Das hattest Du Deinen braunen Locken und Deinem mädchenhaften Erröthen zu verdanken.“

„Ja, wir pflegten uns immer brüderlich zu theilen,“ entgegnete Jener mit melancholischem Lächeln, „Dir fielen die jungen und mir die alten Damen zu. Indessen kann ich nicht leugnen, daß es eine Zeit gab, wo mir diese Einrichtung manches Herzeleid bereitet hat.“

Man war während dessen bis an die Stufen gelangt, die an der Hinterseite des Hauses zu einer offenen Vorhalle hinaufführten, von welcher man eine freie Aussicht auf die See hatte. Eine von der Decke herabhängende Ampel erleuchtete den Raum und warf ihr Licht auf den darunter stehenden Tisch, der mit glänzendem Damastgedeck, feinem Porcellan und Silber zierlich servirt war.

„Onkel Doctor! Onkel Doctor!“ rief eine jubelnde Kinderstimme den Ankommenden entgegen, und ein kleiner Knabe streckte von dem Rollstuhle, auf welchem er saß, seine Arme nach dem Manne aus, der sich liebevoll zu ihm niederbeugte. Er beschäftigte sich in den nächsten Minuten so ausschließlich mit dem Kinde, welches seine Arme um seinen Hals geschlungen hatte, daß er außer einer flüchtigen Verbeugung im Vorübergehen der jungen Dame, die mit ungeduldig umwölkter Stirn hinter dem Theetische stand, keine weitere Aufmerksamkeit schenkte. Sie hatte seine Verbeugung mit einem hochmüthigen Neigen des Kopfes erwidert und sich dann mit dem dampfenden Theekessel zu schaffen gemacht. Auch als Frau Helene zu ihr herantrat, blickte sie nicht auf.

„Du hast Dich so lange erwarten lassen, Mama,“ sagte sie dabei in mißmuthigem Tone, „daß es Dich nicht überraschen darf, den Thee vom langen Stehen trübe und bitter zu finden. Ich glaube, es ist bereits neun Uhr – hoffentlich setzen wir uns jetzt.“ –

„Laß mich Dir zuerst einen alten Bekannten vorstellen, liebes Kind,“ entgegnete die Angeredete, „einen Freund, den ich ganz unvermuthet als unsern Nachbar auf Schloß Hirschberg wiedergefunden habe – Herr Gerhardt von Schack – meine Tochter, Fräulein Rosa von Malwitz.“ –

Die Worte, in ruhigem, gleichmäßigem Tone und mit einer weichen, vollen Altstimme gesprochen, bildeten einen scharfen Contrast zu der ungeduldigen Redeweise der jüngern Dame und zu der lebhaft vibrirenden Stimme derselben. Mit einer schnellen Bewegung hob sie den Kopf empor und erröthete, als sie die ernsten Augen des Fremden mit einem unzufriedenen Ausdrucke auf sich gerichtet fand.

„Und hier haben Sie noch eine Bekanntschaft zu machen,“ fuhr die junge Hausfrau fort – „die meines Knaben. Hiermit wäre unser kleiner Kreis geschlossen, und wir können Rosa's Wunsch erfüllen und uns setzen.“

„Die Bekanntschaft Ihres Herrn Gemahls zu machen, darf ich heute nicht hoffen?“ fragte Schack, der sich vergebens nach dem Hausherrn umgesehen hatte.

„Meines Mannes?“ erwiderte Frau Helene, „so wissen Sie nicht, daß ich ihn verloren habe, schon vor sechs Jahren?“

Er zuckte zusammen und richtete die Augen auf das Gesicht der jungen Frau, welches ernst zu ihm aufblickte.

„Ich bitte um Verzeihung,“ sagte er nach einer Pause mit unsicherer Stimme. „Ohne es zu ahnen, habe ich durch meine Frage Ihnen Schmerz bereitet. – Seitdem ich erfuhr, daß Sie sich verheirathet, habe ich keine Gelegenheit gehabt, von Ihrem Ergehen zu hören. – Und Ihr kleiner Knabe hat den Vater schon so früh verlieren müssen? Das arme Kind!“

Er beugte sich zu dem Knaben nieder, der von dem Arzte indessen an den Tisch geschoben worden war, und blickte prüfend in sein Gesicht. Es waren unverkennbar fremde Züge darin, aber die Augen und der schön geformte Mund erinnerten ihn lebhaft an die Mutter. Er hob das feine zartgeschnittene Gesichtchen empor und küßte es.

„Du mußt mich besuchen,“ sagte er. „Ich habe einen kleinen Ponywagen, den Du selbst lenken sollst. Auch segeln wir einmal nach dem Leuchtthurm hinüber und sehen uns die großen Seeschiffe im Hafen an. – Was sagst Du dazu?“

Die Augen des Kindes leuchteten.

„Wenn ich ganz gesund sein werde, will ich gern kommen,“ sagte es.

„Felix hat einen schweren Winter hinter sich,“ berichtete die Mutter, „wenn er sich aber noch einige Tage still und geduldig verhält, dann verspricht Onkel Doctor ihm ein so gesundes Füßchen, daß er damit den ganzen Tag laufen und springen kann.“

Sie hatte sich neben das Kind gesetzt und winkte Gerhardt an ihrer Seite Platz zu nehmen.

„Ich hoffe, mein gnädiges Fräulein,“ sagte in diesem Augenblicke der Arzt mit einer tiefen, ceremoniellen Verbeugung, in welcher unverkennbar etwas Spott lag – „ich hoffe, Sie werden es mir verzeihen, daß ich als später Gast an Ihrem Theetische Ihnen Mühe bereite.“

„Das thun Sie durchaus nicht,“ erwiderte sie, und während sie sprach, hob sich ihre kurze Oberlippe empor, daß darunter die weißen, kleinen Zähne hervorblitzten. – „Sie sind nie im Stande, mir Mühe zu bereiten. Der Thee ist fertig, wie Sie hören konnten, und eine Tasse mehr oder weniger thut nichts zur Sache. Es geht eben in eins hin.“

Der Doctor lächelte und verbeugte sich abermals, dann nahm er seinen Platz zwischen dem schönen Knaben und dessen Schwester mit der Miene eines Mannes ein, dem man eben etwas sehr Angenehmes gesagt hat.

Während des Schweigens, welches der unliebsamen Antwort folgte, und das nur durch das Klappern der Tassen unterbrochen wurde, hatte der Fremde Zeit das ungeduldige kleine Fräulein näher zu betrachten. Sie war augenscheinlich noch sehr jung, etwa sechszehn- oder siebenzehnjährig. Ihre Gestalt war, obgleich unter Mittelgröße, von vollendeter Symmetrie und reizender Fülle und zeigte sich in allen Bewegungen behende, anmuthig und leicht. Ihr wundervolles, glänzendes Blondhaar fiel in natürlichem Gelock um Hals und Schultern und wurde zuweilen in einer Art zurückgeschüttelt, die von dem erregbaren Temperamente der Besitzerin zeugte. Dazu stimmten auch die lebhaften braunen Augen, welche zuversichtlich in die Welt blickten, das feingeformte Näschen, das durch eine kleine, eine ganz kleine Neigung, sich in die Höhe zu heben, dem Gesichte einen pikanten, kampfbereiten Ausdruck gab, sowie die Haltung der schlanken Gestalt, die etwas Festes, Selbstbewußtes hatte und die Absicht der jungen Dame auszudrücken schien, die einmal eingenommene Position tapfer gegen jeden Angriff zu vertheidigen. Alles zusammen genommen, machte die Erscheinung den Eindruck, als könne in gewissen Fällen die Gesellschaft des jungen Mädchens unbehaglich, nie aber langweilig werden.

„Es hat stark bei Ihnen gestürmt, Frau Helene,“ sagte der Doctor, „man merkt das an dem Nachgrollen des Wetters. Ich spreche Ihnen mein herzlichstes Beileid zu dem schlechten Anfange aus.“

Die Worte wurden in harmlosem, freundlichem Tone gesprochen; das Gesicht des Doctors sah unschuldig aus wie das eines neugebornen Kindes – und dennoch schien für Fräulein von Malwitz ein Angriff darin zu liegen. Sie gab durch ein schnelles Zucken der Wimpern und ein hastiges Heben des Kopfes Kunde davon.

„Warum sagst Du das nur der Mama und nicht auch mir, Onkel? Ich habe auch den Sturm gehört, und er war gräulich anzuhören – das kannst Du mir glauben.“

Der Kleine sprach die Worte mit der Eifersucht eines kranken, verzogenen Kindes, das daran gewöhnt ist, sich zum Gegenstande allseitiger Aufmerksamkeit gemacht zu sehen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_059.jpg&oldid=- (Version vom 10.5.2018)