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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

gefallen wäre, sie bereits angelangt sein müßte. Als die Leute wieder mit Mr. Tourville zurückkamen, erzählten sie, daß die Arme todt unter der Straße, nahe beim Sitze in der Biegung unter dem Flüßchen, liege, welchen Platz sie unmöglich bei einem Falle hätte erreichen können. Niemand glaubte, daß sie dorthin, wo man sie gefunden, gefallen sein könne. Wir schöpften Verdacht und überlegten, was wir mit Mr. Tourville anfangen sollten. Der in Trafoi stationirte Zollinspector Zoller meinte, wir sollten ihn im Zimmer bewachen. Ich hielt dies für gefährlich, da Mr. Tourville ein starker Mann ist und aus aus dem Fenster entweichen konnte, und schlug vor, daß er in seinem Wagen, begleitet von Zoller, fortgebracht werden solle. Zoller nahm diesen Vorschlag an und wollte ihn anfangs nach Glurns bringen, folgte aber dann mir, indem ich ihm rieth, ihn nach Spondinig zu führen.

Vor der Abfahrt wurde Mr. Tourville von mir visitirt, ich fand aber nichts. Als Zoller seine Beinkleider untersuchte, fragte ich ihn, was er in den Taschen habe, worauf er antwortete: ‚Eine Kette.‘ Er gab dieselbe heraus. In dem Wagen befanden sich auf der Rückseite ein Ueberrock, zwei Sonnenschirme und ein Regenschirm. Der Wagen war bereit und verließ uns, begleitet vom Inspector Zoller.“

Die weiteren Angaben Ortler’s beziehen sich auf ein gefundenes Taschentuch und Blutspuren an den naheliegenden Steinen, unter welchen man den Hut und die Ohrringe gefunden hat. Zeuge war der Ansicht, daß deren Lage unter den Steinen nicht allein vom Zufalle herrühre. Schließlich giebt er an, er habe gehört, daß das Ehepaar Tourville nicht im besten Einvernehmen gelebt habe. – Ein anderer Zeuge, der Gensd’armerieofficier Magnus Fritz, hat ausgesagt, daß er Blutspuren an den Beinkleidern Tourville’s entdeckt und daß er solche auch an zwei Fingern eines Handschuhes desselben bemerkt habe, die jedoch herausgerieben worden zu sein schienen. Bei der Todtenbeschauung durch die Gerichtscommission, bei welcher Tourville gegenwärtig gewesen ist, will der Zeuge Fritz denselben genau beobachtet und bemerkt haben, daß er sehr ergriffen gewesen sei und die Todte nur einmal habe ansehen können. Die Verlesung der sehr umfänglichen Zeugenaussage hat fast den ganzen Tag in Anspruch genommen, und ist schließlich vom Richter bestimmt worden, daß Tourville behufs Vervollständigung der Legalisirung anderer officieller Berichte aus Oesterreich noch weiter in Haft zu bleiben habe. Tourville zeigte bei der Verhandlung nur wenig Spuren von Aengstlichkeit.

Neuerdings wird gemeldet, daß Tourville am 30. December unter Escorte eines Policeman von London abgeführt und am 31. December in Hamburg dem Bezirksinspector des Wiener Central-Sicherheitsbüreau, Sabatzka, übergeben wurde, der ihn in Begleitung zweier Detectives nach Bozen gebracht hat. Die Affaire gelangt Anfangs Februar vor die Bozener Assisen, und werden wir noch darauf zurückkommen.

A. D.




Erinnerungen aus dem letzten Kriege.
Nr. 14. Madelon.

Der Waffenstillstand, welcher im Norden Frankreichs abgeschlossen war, hatte für den Süden nicht stipulirt werden können. Trümmer der französischen Armee hielten noch geringe Gebietstheile an der Schweizer Grenze besetzt, und das Unwesen der Franctireurs terrorisirte das Departement Jura. Weite Wälderstrecken und zerklüftetes Gebirge boten sowohl einzelnen Strolchen wie ganzen von Nationalhaß fanatisirten Banden gelegene Schlupfwinkel, und fast kein Tag verging, an welchem nicht dem General-Commando der Mord eines auf dem Marsch zurückgebliebenen Kranken, der Ueberfall eines einzelnen Reiters, die Beraubung einer Feldpost oder dergleichen zu Ohren kam. Diesem Unwesen zu steuern hatte der eiserne General, welcher die deutsche Division im Departement Jura commandirte, die strengsten Repressalien angeordnet, um das Interesse der Provinz zur Unterdrückung dieser Banden wachzurufen, und unter Anderem folgenden Befehl erlassen:

„Es ist am gestrigen Tage eine Ordonnanz des X. Regiments auf der Straße von Pontarlier nach Lous le Saunier hinterrücks ermordet worden. Zur Strafe für diesen Meuchelmord zahlt jede Stadt pro Kopf ihrer Bewohner fünfundzwanzig Franken, jedes Dorf pro Kopf fünfzehn Franken Contribution. Diese Contribution ist seitens der X. Brigade auf der Ostseite, seitens der V. Brigade auf der Westseite des Departements zu erheben.“

Jedem Regiment wurde von den Brigaden ein Bezirk zugewiesen; die Regimenter repartirten die Ortschaften an die Bataillone, und bei unserem Bataillon blieb der heikle Auftrag auf dem Lieutenant Wendt sitzen. Wendt war außerordentlich verstimmt über den Befehl. Von Hause aus Landwirth und Gutsbesitzer, wußte er, wie schwierig das Eincassiren so bedeutender Summen zu solchen Zeiten stets in den Dörfern ist, und wie entsetzlich hart die Leute durch Fortnahme von Vieh getroffen werden mußten. Er beschloß deshalb bei seinem Bataillons-Commandeur vorstellig zu werden. Er brachte vor, er glaube für ein Commando wie das vorliegende nicht recht geeignet zu sein; wenn die Execution bis zum Aeußersten getrieben würde, so werde das ein Weinen und Lamentiren der Weiber geben und dem sei er absolut nicht gewachsen. Der Major lachte und erwiderte, die Ordre sei in ihrer strengen Fassung mehr auf die Franzosen berechnet, um an den Straßenecken angeklebt zu werden; der Lieutenant brauche sie nicht so wörtlich zu nehmen und könne nach eigenem Ermessen die Höhe der Contribution den anscheinenden Vermögensverhältnissen der Ortschaften anpassen. Damit war Wendt zufriedengestellt und marschirte am Nachmittag mit siebenzig Mann Infanterie und zehn Dragonern die Straße nach Lons le Saunier, um dann in einen jener schön chauffirten Vicinalwege einzubiegen, die fast alle Departements ihrem vielgeschmähten dritten Napoleon zu verdanken haben.

Von Seiten des Commandos waren dem jungen Officiere einige statistische Notizen über die strafbaren Ortschaften eingehändigt worden, und das erste Dorf, welches sich äußerst stattlich präsentirte, war darin mit sechshundert Einwohnern verzeichnet. Der Lieutenant besetzte die Ausgänge der Dorfstraße mit einem Unterofficierposten, ließ das Detachement auf dem geräumigen Platze vor der Mairie unter dem Gewehre stehen und den Maire des Dorfes herausrufen. Er forderte den etwas finster dareinstehenden stattlichen Mann auf, den Rath des Dorfes zusammen zu berufen. Bald liefen einige Kinder nach verschiedenen Seiten in das Dorf, und nach wenigen Minuten begannnen sich ältere und jüngere Männer um den Maire zu versammeln und ihrer gespannten Erwartung durch leise Fragen Ausdruck zu geben. Schließlich fand sich auch der wohlgenährte Curé ein, was die Sache in den Augen des Lieutenants nicht besser machte, und die Versammlung war vollzählig.

Wendt trat dicht an die Bauern heran und theilte ihnen kurz mit, daß er den Befehl habe, von dem Dorfe eine Contribution von neuntausend Franken zu erheben, daß er dem Maire eine halbe Stunde Zeit geben werde, diese Summe aufzutreiben, daß er im Weigerungsfalle an Stelle des Geldes das Vieh der Bauern mitnehmen lassen werde und daß solche Contributionen im ganzen Departement erhoben würden zur Strafe für einen gestern an einem preußischen Soldaten verübten Meuchelmord. Dann wandte er sich kurz um und commandirte:

„Patrontaschen auf! Bataillon soll chargiren – geladen!“ Die Schlösser flogen rasselnd auf, die Patronen hinein.

„Gewehr ab, rührt Euch!“ und er zündete sich gleichmüthig eine Cigarre an.

Die Franzosen sahen sich eine Zeitlang bestürzt, schweigend an und begannen sich dann leise zu unterhalten; hin und wieder wurde einer oder der andere sehr heftig, dann begann der Curé sehr eindringlich auf die Streitenden einzureden, und die hochgehenden Wellen der Leidenschaft wurden wieder ebener. Endlich wandte sich der Curé an den Officier. Es sei zu größerer Verständlichkeit gestattet, die sämmtlichen Betheiligten deutsch sprechen zu lassen, obwohl kein einziger der Bauern auch nur ein Wort von unserer Muttersprache verstand.

„Mein Herr,“ sagte der Curé, „in dieser Ortschaft ist kaum

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_054.jpg&oldid=- (Version vom 7.6.2021)