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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


erzählt Pastor Rinck, „ist es wohl Vielen erwünscht, an sein Leben, seine Glaubens- und Liebeswerke erinnert zu werden.“ Er ist im Jahr 1805 geboren; wenn er von seinem Jugendleben berichtet, so lautet das gar nicht fein. Seinem Vater gegenüber, der Steuereinnehmer zu Heimersleben (Sachsen) war, blieb er nicht immer auf geradem Wege, wenn es galt von anvertrautem Gelde Rechenschaft abzulegen. Georg Müller begann seine Studien auf dem Gymnasium in Halberstadt, blieb aber ein leichtfertiger Patron, der meist nur Romane las und allerlei sündlichen Gewohnheiten fröhnte. Seinem Seelenhirten, der ihm den Confirmationsunterricht ertheilt hatte, veruntreuete er die ihm vom Vater bestimmte Gebühr. Durch sein üppiges Leben kommt er in solche Noth, daß er einem in demselben Hause einquartierten Soldaten das harte Commißbrod entwendet. Dann hilft er seinem Vater einen Bau beaufsichtigen und verjubelt die eincassirten Gelder auf heimlichen Vergnügungsreisen. So geht's fort, bis der sechszehnjährige Jüngling als Vagabond auf vier Wochen in's Gefängniß gesteckt wird. Sein Vater erlöst ihn aus der Haft, bezahlt seine Schulden und übergiebt ihn der strengeren Zucht des Gymnasiums zu Nordhausen im Harz, wo er im Hause des Directors wohnt und emsig studirt. Aber seiner geheimen Sünden sind noch so viele, daß er ernstlich erkrankt. Am Schluß seines Lotterlebens in Nordhausen spielt er eine Komödie, als ob ihm der Koffer erbrochen und alles Geld gestohlen worden, worauf einige Freunde ihm die angeblich gestohlene Summe ersetzen. Als Mitglied der Halleschen Universität bekommt er sogar das Recht, in den lutherischen Kirchen zu predigen. Vorsätze für ein eifriges Studiren, „damit ihm eine gute Pfarrei nicht entgehe“, faßt er wohl, bald aber verpfändet er seine Habe und borgt Geld, wo er's bekommen kann. Durch schlechte Lebensweise wird er abermals krank; kaum genesen, unternimmt er mit einem Freunde eine Lustfahrt, wozu sich Beide das Geld durch Verpfändung ihrer übrigen Habe verschaffen. Dann reisen sie in die Schweiz. Müller hatte Geld und Pässe besorgt, ersteres durch Verpfändung ihrer Bücher, letztere durch gefälschte Briefe. Müller führt die gemeinsame Casse und veruntreut, wie Judas, einen Theil des ihm anvertrauten Geldes. Nach der Rückkehr kommt er zufällig in das Haus eines christlichen Handwerkers; man setzt sich und singt ein geistliches Lied; dann betet ein christlicher Bruder. „Schon das Niederknieen, versichert Herr Pastor Rinck, „machte einen tiefen Eindruck auf unsern Freund.“ Nach der gelesenen Predigt sang man wieder, und der Hausherr betete. Dieser Abend war der Wendepunkt in Müller's Leben. Missionsblätter weckten in ihm den Gedanken, selber ein Missionär zu werden, aber Verschiedenes trat ihm in den Weg, zuerst eine vorübergehende, aber intensive Neigung zu einer frommen Jungfrau, „durch welche sein Gebet gehemmt wurde“, dann fand er bei seinem Vater äußersten Widerstand. Drei Jahre lang mußte er sich kümmerlich durchschlagen, bis ihm sein Vater die Einwilligung zum Eintritt in’s Seminar der Londoner Judengesellschaft gab. Bald verließ er dasselbe, um sich ganz der „Reisepredigt und Seelenrettung“ zu widmen, wurde an die Spitze einer Gemeinde dieser Richtung nach Bristol berufen und heirathete die Tochter eines persischen Missionärs. Herr Pastor Rinck schließt seinen Roman mit den Worten: „Obschon Müller keinen festen Gehalt bezog, sondern nur von dem lebte, was ihm für den persönlichen Unterhalt in's Haus geschickt wurde, hat es ihm doch nie am Nöthigen gefehlt.“

Einen Blick noch vergönne man mir auf die in den evangelischen Vereinshäusern versammelten Genossen der Wupperthaler Festwoche. An der Festtafel treffe ich die streitbaren Kämpen alle wieder, welche sich bei uns um ihres Aposteleifers willen schon einen Namen gemacht haben. Da sind die wackeren Barmer Pastoren, welche unlängst auf eine Publication des Theater-Comités mit ihrer stolzen Namensunterschrift geharnischten Protest dagegen erhoben, daß die deutsche Bühne als eine Bildungsstätte des Volkes zu betrachten und deshalb unterstützt werden müsse, dieselben Herren, welche immerdar geneigt sind, jede nichtkirchliche und ohne ihre Erlaubniß und Mitwirkung in Scene gesetzte öffentliche Festlichkeit als „Blendwerk des Satans“ und sündhaften Sinnenrausch zu verdammen. Und dort unter den Elberfelder Kirchenlichtern die eifervolle Gesellschaft jener Prädestinations- und Bekenntniß-Gläubigen, unter deren Regiment einst die weltbekannten Erweckungen im städtischen Waisenhause jener Stadt spielten, jene an den unglücklichen Kindern unbarmherzig geübte Entbehrungsquälerei und Gebetsdressur mit ihrem Gefolge krankhafter Hallucinationen und epileptischer Anfälle. Da sitzt auch der Mann mit dem starren, strengen Gesicht, der in seinem Kirchenblättlein und von der Kanzel herab die Apostel des reinsten Menschenthums, unsere Dichterheroen Goethe und Schiller als Heiden, das Schillerjubiläum aber als einen verabscheuenswerthen Götzendienst bezeichnete, welcher den Zorn des Himmels herausfordere; ein frommer Mann, der seinem sterbenden Kinde die trostreichen Worte zurief: „Gebete und gute Werke sind nichts vor dem Herrn; wenn Du zur Verdammniß geboren bist, dann fährst Du zum Teufel, mein Sohn.

Ein geistlicher Herr mit dem trotzigen, selbstgefälligen Lächeln um die blassen, fleischlosen Lippen ist mir ebenfalls bekannt; er beschäftigte noch vor wenig Monden die Väter der Stadt Elberfeld in ernster Debatte. Im dortigen Krankenhause hatte er die beklagenswerthen Insassen derart mit seinem geistlichen Zuspruch behelligt, daß ihm auf Antrag der Medicinal-Commission ein- für allemal der Besuch des Hospitals untersagt werden mußte. Hier erheben sich auch diejenigen Herren zu salbungsvoller Rede, welche es durchzusetzen wußten, daß die Eröffnungsfeier der neuen städtischen Gewerbeschule – eine öffentliche Anstalt, an der Schüler aller Confessionen Theil haben sollen und in welcher das kirchlich-pädagogische Programm wahrlich nur eine höchst untergeordnete Bedeutung zu beanspruchen hat – mit demonstrativ orthodoxem Pompe in Scene gesetzt werden durfte. Da sind ja auch die beiden frommen Presbyter, welche mit den Criminalgerichten in sehr nahe Berührung gekommen und von diesen bestraft worden sind. Doch wie könnte das ihrer orthodoxen Würde schaden, es waren eben „Prüfungen im Herrn“, die mit christlichem Anstande ertragen wurden und nun glücklich überstanden worden sind. Dort der hagere Priester einer hiesigen lutherischen Gemeinde, welcher bei jeder Gelegenheit mit eindringlich-beweglicher Stimme die „conservative Zusammengehörigkeit aller Gläubigen im Herrn“ betont und mit seinen Parteigenossen erst jüngst in der „Kreuzzeitung“ sich gegen die „reformfreundliche Politik“ des Reichskanzlers erklärte; er ist das streitbarste Rüstzeug anmaßlicher Pfaffennoffensive und eng verwandt mit den welfischen und ultramontanen Antipoden unseres modernen Staatslebens. Doch stille! Die Orgel braust; Posaunen erdröhnen, und die Glocken läuten von den Thürmen der hier versammelten Gemeinden und Secten. Ich höre das alte Kirchenlied:

„Wachet auf! ruft uns die Stimme
Des Wächters von der hohen Zinne,
Wach’ auf, wach’ auf, Jerusalem!“

Ja wohl, ich kenne dieses – Jerusalem. Es ist nicht das Jerusalem, welches die Gartenlaube und ihre Anhänger suchen. Die Leser dieses Blattes wissen, daß wahrer Religion, der Religion der Humanität und des gesunden Denkens, an dieser Stelle stets das Wort geredet worden. Ich schließe daher im Hinblicke auf die Gemeinschaft jener „Gläubigen“, welchen dieser Artikel galt, mit dem Wunsche: Und erlöse uns von dem Uebel! Amen.





Telegrafische Wunder.


Die Idee, flüchtigen Verbrechern statt ihres Signalelements in einem sogenannten Steckbriefe gleich ihr Conterfei nachzusenden, hat in unserer Zeit der Photographie eine sehr große Wirksamkeit gewonnen. Besondere Verbrecher-Albums werden angelegt, um die Portraits von Personen, die öfter derartige Maßregeln erfordern, bei der Hand zu haben, und wenn ein bisher Unbescholtener das Weite sucht, so geht eine der ersten Bemühungen der Polizei darauf hinaus, eine Photographie der ihr interessant gewordenen Persönlichkeit bei ihren Freunden zu ergreifen, um derselben vermittelst der „Gartenlaube“ oder des „Kladderadatsch“ eine weite Verbreitung und dem Urbilde eine unfreiwillige Berühmtheit zu verleihen. Dieses Mittel hat sich sehr häufig als probat erwiesen, aber da die Herstellung des Holzschnittes, die Fertigstellung der Zeitung und ihre Verbreitung eine gewisse

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_048.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)