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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Das Wupperthal als Hort der Orthodoxie.
Ein Culturbild von Fritz Dannemann.

Das reichbevölkerte, intelligente Wupperthal hat sich schon seit Jahren durch die Ausdehnung und Mannigfaltigkeit seiner Industrie einen geachteten Namen erworben; Wohlhabenheit und bürgerlicher Gemeinsinn gehen dort zumeist Hand in Hand und haben für die Bildung des Herzens und des Geistes manche schöne Anstalt in’s Leben gerufen. Die Organisation des Armenunterstützungswesens z. B. dürfte in ihrer zweckdienlichen und spendungsreichen Einrichtung wohl kaum ihres Gleichen haben und hat schon mancher Gemeinde als mustergültiges Vorbild gedient. Daneben ist aber auch eine zu mächtigem Einflusse gelangte Eigenthümlichkeit gezeitigt worden, welche nirgendwo anders in gleicher Stärke sich bemerklich macht und bereits von den bedenklichsten Culturerscheinungen begleitet gewesen ist. Ich meine die dem kirchlichen Sinne der Wupperthaler Bevölkerung entsprungene pietistische Richtung, welche dem Mysticismus Thür und Thor geöffnet hat und in ihrer verknöcherten Orthodoxie geradezu einzig dasteht. Man könnte ja nach dem Ausspruche des großen Friedrich, „Jedermann nach seiner Façon selig werden zu lassen“, auch jenen wunderlichen Heiligen eine gewisse Existenzberechtigung einräumen, wenn diese sich nicht auf Kosten einer gesunderen Entwickelung unseres vorwärts drängenden Staats- und Gesellschaftslebens breit zu machen drohte. Dieser Umstand kennzeichnet aber eben die Gemeingefährlichkeit dieser Richtung, welche gleich der ultramontanen allenthalben nach unbeschränkter Herrschaft nicht allein auf kirchlichem, sondern auch auf communalem und staatspolitischem Gebiete trachtet und unter der unseligen Mühler’schen Aera bekanntlich schon ihre reactionären Orgien feierte. Glücklicher Weise sind diese Tage vorüber, daß aber jene Partei der „Stillen im Lande“ mit unermüdlichem Fanatismus an dem Wiederaufbau ihrer gestürzten Autorität arbeitet, sahen wir deutlich an der jüngsten Wahlbewegung zu Gunsten einer sogenannten deutsch-conservativen Partei. Wir haben also ganz besondere Ursache, der Agitation jener Finsterlinge auf die Finger zu sehen.

In der That aber ist es etwas Wunderbares um die weitsichtige Taktik und rührige Parteidisciplin der vielberufenen Sippe, aus welcher uns das umstehende humoristische Blatt einer genialen Künstlerhand einige originelle Typen so wahr und drastisch vor Augen führt. Diese Leutchen, welche mit Vorliebe im abgeschlossenen Dunkel ihrer Häuslichkeit brüten und nur an Sonn- und Festtagen in dichten Reihen sich um die Kanzel ihrer unfehlbaren Gemeindepäpstlein schaaren, oder abendlich zur biblischen Erbauung, respective Gebetsandacht ihren Vereinshäusern zuströmen, wie oft sah ich sie nicht auch bei rein weltlichen Vorkommnissen, als welche doch politische und communale Wahlen zu gelten haben, allenthalben auf leisen Sohlen emportauchen und ihre geräuschlose, aber einheitliche und darum erfolgreiche Thätigkeit mit unermüdlichem Eifer in's Werk setzen! Da fehlte auch nicht ein Einziger, und sie waren stets auf das Genaueste vom Stande der Dinge unterrichtet, kannten die Namen und Schwächen ihrer Gegner, die sie mit unvergleichlicher Ausdauer und Geschmeidigkeit im Stillen auszunutzen verstanden, und hatten bereits den Sieg in Händen, wenn jene noch von dem ihrigen zu fabeln wußten.

Eben diese stille und schleichende Weise des Kampfes macht die professionsmäßig „frommen“, anscheinend so harmlosen Mitbürger zu den gefährlichen Strategen in unserem Culturstreite. An ihren Erfolgen mögen wir unsere fahrlässige Halbheit und Saumseligkeit erkennen; denn in geschlossener Phalanx stehen sie allezeit gerüstet, einig und unentwegt auf ihrem Posten, auf lächelnden Lippen das wunderwirkende Schlagwort: „Zur Ehre des Herrn!“ Man unterschätze sie also nicht, jene Grenadiere der evangelischen Orthodoxie! Sie sind wahrlich nicht minder furchtbar als die wohldisciplinirten Jesuitensoldaten der streitbaren römischen Kirche. „Sanft wie die Tauben und klug wie die Schlangen“, dieses Princip ihres socialen Verhaltens hat auch ihrer äußeren Erscheinung jene merkwürdige Signatur aufgedrückt, welche sie von den gewöhnlichen Weltmenschenkindern auf den ersten Blick unterscheiden läßt. Ich zeichne hier genau nach dem Leben. Diese unbeschreibliche Vermischung von Demuth und Verschmitztheit, Naivetät und Sinnlichkeit, Entsagung und Anmaßlichkeit finden wir ausschließlich nur auf den Gesichtern der Trabanten und Leibeigenen der Orthodoxie.

Charakteristisch ist auch bei Männern und Frauen dieser Richtung das eigenthümliche Festhalten an dem sogenannten altfränkischen Toilettengeschmack, der bei den Frauen bis zu einer seltsam zwanglosen Einfachheit des Schnittes der Kleider, der Frisur, der Kopfbedeckung etc. geht, bei den Männern in der bis zur Komik übereinstimmenden Neigung zu jenen veralteten Hüten und langschößigen Röcken besteht, die sie in der Regel über die tadellos blanke Wäsche bis unter das glatt rasirte, auf einer steif gewundenen Cravatte ruhende Kinn zuzuknöpfen pflegen. Die Bewegung des Kopfes und Halses hat in Folge dieser stabilen Einschnürung etwas Schildkrötenartiges und Müdes bekommen, neigt meist ein wenig zur Seite und mag ihnen deshalb im Munde des Volkes wohl hauptsächlich den spöttischen Beinamen „Kopfhänger“ eingetragen haben. Noch allgemeiner und ortsgebräuchlicher ist eine andere Bezeichnung, man nennt sie hier nämlich die Kaste der „Feinen“ (plattdeutsch: „Fienen“), weil sie sich im Gegensatz zu der ehrlich-derben Ausdruckweise der Lebe- und Weltmenschen durchgehends einer salbungsvollen, vorsichtig gewundenen, oft doppelsinnigen und symbolischen Rede bedienen, wie sie das tägliche Lesen von kirchlichen Erbauungsschriften, überspannten Predigten und der Verkehr mit pathetisch angelegten Pastoren und Zionswächtern nothwendig erzeugen muß.

Je ausgewählter und erleuchteter nun die Qualität irgend einer Sippe der großen „Gemeinschaft im Herrn“ heranreift, um desto überschwänglicher wird auch der wunderlich-mystische Sprachschatz der also vom heiligen Geiste Begnadeten in die Erscheinung treten. In den sogenannten „Brüdergemeinden“ z. B. ist diese apostelartige Erleuchtung schon so allgemein geworden, daß die Herren Seelsorger sich häufig der Mühe des Predigens überhoben sehen, sintemalen die inspirirten Gemeindeglieder an ihrer Statt die Kanzel besteigen und mit wunderbarer Beredsamkeit den glaubenseifrigen Zuhörern das Wort des Herrn verkünden. Die sogenannten „Heidenmissionäre“ gehen fast ausschließlich aus dieser hochbegnadeten Kaste erleuchteter Autodidakten hervor. Man muß ihre süßlich exaltirten Berichte hören, ihre den ultramontanen Legendenspuk vollständig in Schatten stellenden Missions-Tractätchen lesen, um sich einen richtigen Begriff von der bizarren Ausdrucksweise solch wunderlicher Menschennaturen zu bilden. Ein gewisser abenteuerlicher Hang, sowie die Aussicht auf eine gut dotirte, bequeme Versorgung treibt die noch jugendlichen Streber mit der inzwischen erkorenen, gleichgestimmten Gattin nach den entlegensten Zonen und Gestaden hinaus, wo sie als „Apostel christlicher Cultur“ ihre Stimmen erheben und nebenbei „klug wie die Schlangen“ die armen Heidenschafe zu scheeren wissen.

Die Missionsfeste bilden einen wesentlichen Bestandtheil des Programms der Wupperthaler Festwoche, welche in Elberfeld und Barmen regelmäßig in den Hundstagen mit einer gewissen Ostentation in Scene gesetzt wird, deren Theilnehmer alsdann gleich Ameisenhaufen von Nah und Fern herbeiströmen und sich zu christlicher Erbauung um ihre Heiligen und Zionswächter versammeln. Es ist unstreitig das bunteste, eines Genremalers würdige Stelldichein orthodoxer Pastoren und Pädagogen, hochchristlicher Geschäftsleute und Familienväter, heilskräftiger Jünglinge und Jungfrauen blühenden und vorgerückten Alters (letzteres namentlich unter dem „ewig Weiblichen“ in erstaunlicher Menge und verschiedener Spielart vertreten). Sie bildet eben die schon lange herbeigesehnte Brücke zu allerlei Geschäfts- und Familienverbindungen, zu neuen conservativen Gründungen im Herrn etc., und nach der Andacht thun sich die mehr oder weniger harmonisch Gestimmten zu jenen „erheiternden Gesprächen fröhlicher Gotteskinder zusammen, welche der frivole Volksmund schnöder Weise als „frommen Klatsch“ bezeichnet. Sei dem nun wie ihm wolle, wer unter die Lupe dieser „erheiternden Gespräche“ geräth, der wird bald so durchsichtig wie die Lupe selbst; es bleibt keine Naht, kein Faden mehr an ihm verborgen; in Herz und Nieren dringt der gemeinsam verschärfte und prüfende Blick, dem kein Fleckchen, kein Federchen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_046.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)