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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

weißen Netzwerke gerinnt. Die wahre Diphtherie oder Rachenbräune unterscheidet sich dagegen vom Croup insofern, als neben dem Belege auf der Mandeloberfläche die ganze Schleimhaut im Innern verschieden reichlich mit den weißen, Blutkörperchen ähnlichen Zellen durchsetzt ist. Diese Zellen mehren sich bei der brandigen Diphtheritis so sehr, daß sie sogar die Circulation unterdrücken und den Ernährungszufluß abschneiden. Selten gelangt der Proceß schon auf einer Mandel zum Abschlusse; gewöhnlich erscheinen binnen Kurzem die gleichen Belege auf der andern Mandel, fließen zu einer weißen Haut zusammen und verbreiten sich auf die Gaumenbögen und das Zäpfchen, sodaß in schlimmen, aber immerhin nicht verzweifelten Fällen die ganze hintere Mundhöhle mit einer glänzend weißen Masse bedeckt ist. Die Lymphdrüsen an den äußeren Seiten des Halses, von den Laien oft fälschlich Mandeln genannt, sind ansehnlich geschwollen; der Arzt wird zuweilen nur dieser Drüsenanschwellung wegen geholt und noch um Entschuldigung gebeten, daß man ihn des unbedeutenden Bauernwetzels wegen belästigt. Der Athem ist sehr übelriechend, das Schlucken äußerst schmerzhaft, und zur Vermeidung von Schlingbeschwerden wird der vermehrte Schleim und Speichel durch den geöffneten Mund ausgeschieden. Trotz des hohen Fiebers ist das Gesicht eher bleich als roth und etwas gedunsen. Der Tod kann durch die Höhe des Fiebers, die allgemeine Körpervergiftung, Diarrhöe oder Erschöpfung herbeigeführt werden. Bei glücklichem Verlaufe gewinnen die Belege ein immer mehr durchweichtes oder auch trockenes gelbliches Aussehen, bis sie nach und nach durch die Schluckbewegungen abgespült werden. Innerhalb drei Wochen ist gewöhnlich die Störung beendet.

Die Hauptgefahr bildet das Ueberspringen auf Kehlkopf und Luftröhre. Das feste Gewebe gestattet hier keine erhebliche Betheiligung der ganzen Schleimhaut, nur die oberste Zellenschicht mit dem darauf befindlichen Belege stößt sich ab und erfüllt als häutiger Ausguß das Innere. Der Proceß kann sich allmählich bis in die Lunge hinein fortsetzen und führt bei der Enge der kindlichen Luftwege entweder den Erstickungstod oder bösartige Lungenentzündungen herbei. Gewöhnlich vor dem fünften Tage treten als Zeichen des Croups zu dem oft die Diphtherie begleitenden sonst ungefährlichen Kehlkopfkatarrh trockner gellender Husten und Erstickungsanfälle hinzu. Auch hier ist, vorzüglich wenn das Kind das zweite Lebensjahr überstanden, Heilung möglich. Der gelockerte Croupbeleg wird herausgehustet oder durch den Luftröhrenschnitt entfernt, und die erkrankte Schleimhaut kehrt wieder zu ihrer gesunden Beschaffenheit zurück. Die Möglichkeit des Luftröhrenschnittes beruht auf dem von uns früher („Gartenlaube 1875 S. 308) geschilderten Mechanismus des menschlichen Brustkorbes. Die Operation ist selten gefährlich, doch nur dann zu unternehmen, wenn wirkliche Erstickungsanfälle vorhanden sind.

Andere Organe werden mehr oder minder betroffen. Auf gleiche Weise wie auf den Kehlkopf kann sich die Veränderung in die Nasenhöhle fortsetzen; die Nieren zeigen am häufigsten einen gleichen Katarrh, auch auf dem Magen finden sich in manchen Fällen ganz ausgeprägte Crouphäute. Die merkwürdigste Verbindung und zugleich das sicherste Zeichen einer überstandenen wirklichen Diphtherie bildet das Eintreten von diphtheritischen Lähmungen.

Ein achtjähriges Mädchen erkrankte kürzlich an einem Croup hauptsächlich der rechten Mandel. Die Krankheit verlief sehr schnell, so daß sie schon nach einigen Tagen als gesund entlassen werden konnte. Nach drei Wochen erschien die Kleine wieder wegen eines schnarrenden Beiklangs beim Sprechen, welcher ihr in der Schule Lesen und Singen unmöglich machte. Die Untersuchung ergab eine Lähmung der rechten Hälfte des Gaumensegels. Beim Sprechen zog sich nur der linke Theil zusammen, während der rechte, hin- und herschwingend, die Stimmveränderung bewirkte. Nächst der Gaumenlähmung tritt vielfach die der Augenmuskeln, also Schielen ein, doch kommt es auch zu vollständigen Lähmungen ganzer Körpertheile, welche aber sämmtlich unter geeigneter Unterstützung zu verschwinden pflegen. Daß auch die kleinen als Pilze bezeichneten Organismen selbstständig gefährliche Veränderungen nach sich ziehen, zeigt folgende Krankengeschichte. Das Kind eines Arztes wurde am zwölften Lebenstage von Diphtherie angesteckt, magerte ab und starb in der zwölften Woche. Die Section zeigte die rechte Gehirnhälfte größer und beinahe die ganze Hirnsubstanz durchsetzt mit einer Unzahl Mikrococcen, welche die Nervenelemente so zerstört hatten, daß eine Normalfunction unmöglich war.

Diese mannigfachen Störungen, welche in Begleitung unserer Krankheit erscheinen, machen eine hohe Sterblichkeitsziffer so begreiflich, daß die Frage fast überflüssig erscheint, ob die Rachenbräune in Wirklichkeit als ein so entsetzlicher Kinderfeind zu betrachten sei. Die ungenügende Statistik trägt die Hauptschuld an der großen Furcht der Laien vor der Diphtheritis. Dieselbe kann hier nur endgültig sprechen, wenn zugleich durch sie die Zahl der Genesenden neben den Todesfällen festgestellt wird. Ein wenigstens annäherndes Bild giebt folgender Auszug von Diphtheritis-Erkrankungen aus den Krankenlisten sämmtlicher Armenbezirke Leipzigs innerhalb eines Jahres. Es wurden durchschnittlich fünfundachtzig Fälle behandelt, wobei zehn Patienten starben. Bei Kindern bis zum zweiten Lebensjahre kamen zehn Erkrankungsfälle vor, von welchen vier, also noch nicht die Hälfte mit dem Tode endigten; es fallen daher auf die andern fünfundsiebzig Patienten nur sechs Todte, sicher ein guter Procentsatz, wenn man die Schwierigkeiten überlegt, mit denen der Arzt bei der ärmeren Bevölkerungsclasse zu kämpfen hat, abgesehen davon, daß er meistens erst bei vollkommen ausgebrochener Diphtherie gerufen wird. Die zahlreichsten Erkrankungen wiesen die Monate October (18), September und März auf, die wenigsten der Juli (1), der Juni und der December.

Zur genauen Erkennung der Diphtheritis ist noch die Schilderung einiger Affectionen beizufügen, welche nicht das Geringste mit ihr zu thun haben, leicht aber damit verwechselt werden. Die größte Aehnlichkeit mit der Diphtheritis hat die sogenannte folliculäre Mandelentzündung, ein ganz ungefährliches Leiden, welches durch eine Eiterung der früher erwähnten Mandeldrüschen zu Stande kommt. Die Mandel ist bedeckt mit weißen Punkten, welche aber stets isolirt bleiben und nur dann einen größeren Umfang erlangen, wenn die Mandeln durch vorhergehende Katarrhe stark zerklüftet sind. Im letzteren Falle führen sie uns sehr leicht, besonders weil die Störung fast immer von hohem Fieber begleitet wird, ein der Diphtheritis ähnliches Bild vor Augen. Man hört oft Laien über die Gefährlichkeit der Diphtherie lächeln; es käme nur auf die Behandlung an; sie oder ihre Kinder würden jährlich mehrmals von dieser Krankheit befallen und das Bestreichen mit Milch oder Citronensäure habe sie jedesmal gerettet, – selbstverständlich bei diesem ohne jedes Zuthun zur Abheilung gelangenden Leiden. Bei kleinen und heruntergekommenen Kindern können auch Schwämmchen Anlaß zur Befürchtung geben. Dieselben bedecken aber und zwar längere Zeit die Backen-Schleimhaut, Zahnfleisch und Zunge; sie lassen sich leicht entfernen und verlaufen ebenso wie die Mundfäule ohne Fieber. Die Mundfäule bildet ebenfalls der Diphtheritis ähnliche mehr speckige Geschwüre, doch befallen dieselben vor Allem Mundwinkel und Backen-Schleimhaut und haften selten auf den Mandeln. Die einfach katarrhalische Schwellung der Kehlkopfs-Schleimhaut verursacht zuweilen dem Croup ähnliche gellende Hustenstöße, doch zeigt bald der gelockerte Husten den ungefährlichen Zustand, abgesehen davon, daß der im Kehlkopf zuerst ohne Diphtherie auftretende Croup jetzt glücklicherweise seltener geworden ist.

Besitzen nun die Eltern wirksame Waffen gegen diese Krankheit? Man verhüte vor Allem ihre Entstehung! Das ist freilich leichter zu rathen als zu befolgen, aber gerade bei der Diphtheritis kann leicht die Ausführung ermöglicht werden. Interessante Versuche an Thieren haben ergeben, daß in die Darmwand eingespritzter diphtheritischer Ansteckungsstoff nur dann in dem Darm eine mit dem Tode des Thieres endigende Diphtherie erzeugt, wenn vorher die Schleimhaut durch Reizung in einen entzündlichen Zustand versetzt worden war, sonst blieb die Einspritzung ohne Erfolg. Im Anschluß an diese Untersuchungen bemerken wir auch in der Praxis, daß am leichtesten Kinder erkranken, die zu Halsaffectionen hinneigen. Man lasse daher die Kinder bei scharfen Nord- und Ostwinden nie Abends das Haus verlassen, präge ihnen ein, auf dem Schulwege allein und langsam zu gehen und mit geschlossenem Munde Athem zu holen, härte sie ab durch kaltes Waschen und lasse sie täglich mit kaltem Wasser gurgeln. Dringend müssen wir aber den Eltern an’s Herz legen, täglich einen Blick in die Mundhöhle ihres Kindes zu werfen; sie erhalten bald die erforderliche Uebung, und die Kleinen gewöhnen sich binnen Kurzem an das Hineinschauen. Sobald man nur irgend eine stärkere

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_036.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)