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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


die Pilger zogen in Masse nach München und jedem der hohen Unternehmer konnte das Geld scheffelweise zugewiesen werden.

Da man auch den größten Unsinn glaubte und sich so leicht betrügen ließ, fiel zuletzt bei den Lieferanten jede Scheu fort und Gegenstände wurden als heilig, anbetungswerth, weltlichen und ewigen Segen verheißend vorgeführt, die unter anderen Verhältnissen mindestens Zuchthausstrafe für die Urheber nach sich gezogen hätten. Es wurden dem verblendeten Volke Dinge zum Kusse dargereicht, die sich die Feder sträubt beim Namen zu nennen, Dinge, die das Heilige in den tiefsten Schmutz zogen und die mit darauf berechnet waren, die Sinnlichkeit in versteckter Form zu reizen. Nichts existirte zuletzt mehr, das nicht ihren Zwecken brauchbar schien. Man zeigte für Geld den Pfahl im Fleische, der dem heiligen Paulus so viel Jammer machte, – die Hörner Mosis und einen Strahl von dem Sterne, der den Weisen aus dem Morgenlande leuchtete, – Mannah aus der Wüste, – den Stein, mit dem der Teufel Jesum in der Wüste versuchte, – das Schminkfläschchen der heiligen Magdalena, – den Athem des heiligen Joseph, aufgefangen in dem Handschuh des Nikodemus, – etwas von dem Glockenschall, als Jesus in Jerusalem einzog, und ein Büchschen mit dem Wort, das Fleisch geworden war, – den Bart des Noah, – die Ketten des heiligen Petrus und einen rothgefärbten Armknochen desselben, da es bei dem dreimaligen Krähen des Hahnes in der Schrift heißt: „Er wurde roth bis auf die Knochen“, – die Stange, worauf der Hahn krähte, auch einige schöne Schwanzfedern desselben, – Palmzweige vom Palmsonntag, – die eherne Schlange, – die Knochen des heiligen Esels von Jerusalem, sorgfältig in die Haut des zu Verona eingefügt, – man zeigte Dornen von dem feurigen Busch, – Hobel und Bohrer des heiligen Joseph, sogar einige seiner Seufzer, welche er ausstieß, wenn er astiges Holz zu hobeln hatte – ein Stück vom Schurze des Schlächters, der bei der Wiederkehr des verlornen Sohnes das Kälbchen schlachtete, – das versteinerte Gehirn des Petrus (bestand aus Bimstein), – den Schemel, auf dem der Hohepriester Eli den Hals brach, – den Geldbeutel des Judas, einen der Silberlinge, die Diebslaterne, welche er trug, als er seinen Herrn verrieth, und den kolossalen Strick, an dem er sich endlich aufknüpfte, – die Gurgel des heiligen Georg, – das Messer, womit Delila ihren Simson schor, – den Finger des Johannes, mit welchem er auf Jesum zeigte, als er die Worte sprach: „Das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“, – ein Stück von Elias’ zerfetztem Mantel und so viel Knochen der unschuldigen Kinder zu Bethlehem, daß man daraus einen Schluß auf die uns unbekannte bedeutende Bevölkerung zu ziehen berechtigt ist. In ähnlicher Weise wären alle anderen Heiligthümer aufzuführen, doch möge es genug sein mit dieser kleinen Blütenlese.

Die Kraft der Aufklärung hat freilich mächtig in das stets bergabrollende Rad der kirchlichen Verdummung und des Aberglaubens hineingegriffen, doch ganz zum Stillstehen ist es noch lange nicht gekommen. Die Zeiten haben sich darin seit dem Mittelalter, wo der Reliquienschwindel in seiner höchsten Blüthe stand, sehr geändert, und der größte Theil des Volkes zuckt zu derartigem Wahnsinn mitleidig die Achseln; dennoch giebt es viele Tausende, welche auch heute noch vor nichtssagenden Kleiderfetzen, Puppen und Bildern götzendienerisch andächtig knieen, um von ihnen Vergebung ihrer Sünden und das ewige Seelenheil zu erlangen.

v. B.




Blätter und Blüthen.


Der Berliner Seelöwe. (Mit Abbildung S. 877.) Die beiden bedeutendsten Thierseltenheiten in Berlin sind gegenwärtig der bekannte Gorilla und der Seelöwe. Der erstere, das Landthier, befindet sich im dortigen Aquarium, und der zweite, das Seethier, im zoologischen Garten.

Wenn man das Meerungethüm, welches unser heutiges Bild in verschiedenen Stellungen zeigt, in nassem Zustande betrachtet, so fragt man sich vergebens, wie dasselbe zu dem Namen „Seelöwe“ gekommen ist, denn nichts von den Haupteigenschaften des Löwen ist dann an ihm zu beobachten; insbesondere ist von einer Mähne, an welche man bei der Vorstellung eines Löwen doch zuerst denkt, nicht die leiseste Spur vorhanden, obgleich das Thier ein entweder ganz oder doch fast erwachsenes Männchen ist. Aber sobald man es trocken sieht, was allerdings wohl nur am frühen Morgen, vor dem Inswassergehen des Thieres möglich, ist das Räthsel gelöst, denn dann tritt die gelbe Farbe, welche der des Löwen genau gleicht, so deutlich hervor, daß man wohl auch ohne den Namen auf diesen Vergleich kommen müßte. Sogar der dunklere Hals trägt dazu bei, und so hilft denn diese Färbung wesentlich mit zu dem schönen Eindrucke, den dieses Seegeschöpf auf den Beschauer macht. Freilich wenn man außer der Fütterungszeit den Seelöwen besucht, ist der Genuß ein sehr mäßiger; er hockt dann gewöhnlich bis an den Kopf im Wasser und schaut unverwandt nach seinem Nachbar, einem ganz gemeinen Seehunde, der, sonst genug bestaunt, jetzt, sein er einen so gewaltigen Nachbar hat, fast ganz übersehen wird.

Der allein sichtbare Kopf des Seelöwen giebt bei seiner unansehnlichen Form keinen Begriff von dem Eindrucke des ganzen Thieres; dieser Eindruck ist daher ein ganz unerwarteter, wenn zur Fütterungszeit der Wärter seinem Pflegling einen Fisch auf das Ufer wirft und das Ungethüm heraussteigt. „Heraussteigt“ kann man wohl sagen oder besser vielleicht noch „herausklettert“; denn der Seelöwe richtet sich senkrecht an der Wand des Bassins auf den Hinterflossen auf und gebraucht seine Fischgliedmaßen so gewandt als Beine, daß man bei deren zum Gehen ganz unpassender Form um so erstaunter ist. Und wenn er sich nun, emporgestiegen, nach dem Fraß vorstreckt, wenn dann sein Hals sich um das Doppelte verlängert, so erscheint der groteske Vergleich mit einem sich streckenden und wieder zusammenziehenden Blutegel wohl als der passendste. Wunderbar schön ist nun aber das Schauspiel, wenn ein Fisch in das Wasser geworfen wird. Mit einem gewaltigen Sprunge, in schönem, bei seiner scheinbar ungeschickten Gestalt erstaunlich graziösem Bogen stürzt der Seelöwe sich in’s Wasser, welches rauschend über ihm zusammenschlägt, und nun sucht er, in prachtvollen Bogenlinien auf- und niedertauchend, unter dem Wasser nach seiner Beute. Das Ungeheuerliche der Form in Verbindung mit dem Graziösen und zugleich Machtvollen dieser Bewegung ruft bei den versammelten Zuschauern stets staunende Bewunderung hervor, und wohl Niemand kann sich von dem Schauspiel vor dessen Beendigung trennen, obgleich der Seelöwe dabei sehr oft zum Heraussteigen aus dem Wasser und dann wieder zum Hineingehen in dasselbe genöthigt wird.

Den besten Beweis für seine Kraft und Behendigkeit hat er übrigens dadurch geliefert, daß er schon zweimal aus seiner Umhegung entwichen ist, einmal indem er, wenn ich mich recht erinnere, die Eingangsthür eindrückte und in’s Freie lief, das andere Mal, indem er über das Gitter, welches ihn von seinen Nachbarn der andern Seite, den Fischottern scheidet, in aller Form hinüberkletterte. Wenn die Bewegung des Kletterns bei unserm Seelöwen eine unregelmäßige, sich je nach den Umständen richtende ist, so verdient hingegen die Art, wie er sich auf dem Lande fortbewegt, einige schildernde Worte. Beim gemeinen Seehund besteht die Fortbewegung in einem ungeschickten Hüpfen, der Seelöwe dagegen wirft das Hintertheil abwechselnd nach rechts und links, ungefähr wie sich ein Pferd, mit dem Schweif nach rechts und links schlagend, die Fliegen abwehrt. Die großen, im Gegensatz zum gewöhnlichen Seehund nach vorn gerichteten Hinterflossen geben dieser Bewegungsweise etwas doppelt Eigenthümliches, und auch hier fehlt wohl ein eigentlich passender Vergleich.

Die Beweglichkeit des Thieres wird man aus einigen der kleineren Zeichnungen ersehen können; so kann es sich z. B. mit großer Leichtigkeit vermittelst seiner Hinterflosse am Kopfe kratzen; daß dabei, wie die eine kleine Zeichnung zeigt, die Flosse abwärts gebogen ist, hat seinen Grund darin, daß die drei auf den inneren Zehen sitzenden Nägel merkwürdig weit zurückstehen, aber selbstverständlich die eigentlichen Werkzeuge zum Kratzen sind. In ruhiger Stellung erinnert übrigens das Thier durch seinen gewaltigen Hals außerordentlich an einen Stier, könnte also auch ebenso gut „Seestier“ genannt werden.

Der Berliner Seelöwe wohnt erst seit dem September 1876 im dortigen Zoologischen Garten und wurde bei der jährlich in diesem Monate wiederkehrenden Thier-Versteigerung des Antwerpener Zoologischen Gartens dort vom Director Bodinus für den Berliner erstanden. Ein kleineres Exemplar derselben Thierart befindet sich noch im Antwerpener Garten. Dasselbe bewohnt ein mehrere Meter tiefes Bassin nebst einem daran gelegenen über ein Stockwerk hohen Felsen; es soll ein prachtvolles Schauspiel gewähren, wenn dem auf der Felsenspitze lagernden Seelöwen Futter in das Bassin geworfen wird und er sich nun direct von dem Felsen in großem Bogensprunge nach seiner Beute in das Wasser stürzt.

Ohne nun in die Naturwissenschaft „pfuschen“ zu wollen, will ich noch bemerken, daß es der californische Seelöwe ist, von dem hier gesprochen wird. Eine Colonie dieser Thiere lebt bekanntlich nahe bei San Francisco auf einer unweit der Küste liegenden Inselgruppe und wird dort durch strenge Gesetze vor Verfolgung geschützt, sonst wären diese Seelöwen bei der Vernichtungs- und Geldgier der civilisirten Menschheit wohl schon längst dort ausgerottet worden. Nur zum Fangen einiger lebenden Exemplare wird mitunter ausnahmsweise Erlaubniß ertheilt; auf diese Weise sind die hier erwähnten Thiere erlangt worden, ebenso die zwei, welche sich vorübergehend im Hamburger Garten befanden und jetzt in Paris sind; auch die Seelöwengruppe, welche den von einem Privatmann in San Francisco angelegten zoologischen Garten ziert, ist von dort entnommen; sie bot überhaupt die erste Gelegenheit, diese Thiere näher zu beobachteten. Sie gehören zu den „Ohrenrobben“ und haben ein wenn auch sehr wenig imponirendes äußeres Ohr. Aus dem Schauspiel, welches die gefangenen Thiere geben, läßt sich schließen, daß die Beobachtung der freilebenden einen noch viel dankbareren Stoff für eine anregende und belehrende Schilderung dieser bisher fast noch unbekannten gewaltigen Wesen abgeben müßte, aber von Amerikanern dürfen wir eine derartige Schilderung wohl kaum erwarten; ihr Charakter neigt nicht zu dergleichen, und man muß es schon mit großer Freude begrüßen, daß man jenseits des Oceans überhaupt so viel Rücksicht genommen hat, die Thiere vor der Ausrottung zu schützen. Angesichts der bekannten Thatsache, daß schon verschiedene Thierarten durch den Menschen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 881. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_881.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)