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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Blätter und Blüthen.


Ein Jubiläum der „Natur“. (Mit Abbildung S. 844 und 845.) Die Gründung einer freisinnigen, der Bildung und dem Fortschritte auf neuen Bahnen dienenden Zeitschrift ist immer ein gewagtes Unternehmen, doppelt gewagt aber, wenn dieselbe in einer politisch-trübseligen Zeit geschehen muß. Um so freudiger wendet sich unsere Theilnahme einem Blatte zu, das alle Bitterkeiten und Hemmnisse einer Reactionsperiode glücklich überstanden und redlich mitgeholfen hat, durch Verbreitung bildenden Wissens und klarer Anschauungen im Volke eine bessere Zeit herbeizuführen. Ein solches Blatt ist „Die Natur“, eine populär-naturwissenschaftliche Zeitung, die sich in kurzer Zeit und sowohl in wie außer Deutschland zu einem vielgerühmten Muster ihrer Art aufgeschwungen hat. Unsere jüngere Generation hat kaum eine Ahnung davon, welcherlei Gegner vor vierundzwanzig Jahren, kurz nach der Niederwerfung der großen Bewegung von Achtundvierzig, sich dem Unterfangen jeder Popularisirung der Wissenschaft entgegenstemmten. In erster Reihe waren es die Fachgelehrten selbst, die in dem Bestreben, die Resultate der wissenschaftlichen Forschungen endlich dem Volke zu Gute kommen, seiner Bildung förderlich werden zu lassen, in ihrem Pferchhochmuthe eine Entweihung ihres Heiligthums bekämpften und abwehrten. Am erbittertsten wurde aber dieser Kampf von der schwarzen Flanke der Theologie her geführt, als gerade die Lehren und Aufklärungen der Naturwissenschaften gewählt wurden, um den Blick des Volks für den ungeheuren Unterschied zwischen den Gesetzes-Machwerken der Willkür und den unwandelbaren Gesetzen der Natur zu schärfen. Wie die gleichalterige „Gartenlaube“ erwarb auch „Die Natur“ sich sehr bald den Titel eines „Teufelsblattes“ im Pfaffenmunde, eine Anerkennung, welche das Volk durch immer wärmere Theilnahme für das Blatt zu ehren wußte.

Allerdings ging der Ruf der Gründer gleich mit auf ihre Zeitung über. Karl Müller, der mit dem Verleger (und bekannten geistreichen Dichter) Dr. G. Schwetschke in Halle den Anstoß zur Gründung einer populär-naturwissenschaftlichen Zeitschrift gab, fand in den damals ohne Zweifel bedeutendsten Kräften auf diesem Gebiete, Otto Ule und E. A. Roßmäßler, Mitbegründer, deren wissenschaftliche Tüchtigkeit auch von den Gegnern alles Populararisirens der hoch über allem Volke und doch auf dessen Kosten thronenden Gelahrtheit anerkannt werden mußte. Braucht man nicht zu verschweigen, daß die politische Vergangenheit der beiden Zuletztgenannten nicht wenig zur Belebung der Theilnahme für das neue Blatt beigetragen, so wurde diese doch erhalten und noch vermehrt durch die auf diesem wissenschaftlichen Gebiet neue, auch künstlerisch vollendete Form der Darstellung, die durch Klarheit und Anmuth Geist und Gemüth zugleich befriedigte, und durch die Mannigfaltigkeit der auch der Illustration nicht entbehrenden Artikel. Es ist also ein mit Ehren errungenes Glück, welches der „Natur“ seit ihrem Erscheinen treu blieb. Roßmäßler schied wohl nach einem Jahre aus der Redaction, aber Ule widmete ihr durch fast vierundzwanzig Jahre hindurch sein reiches Wissen und seine erstaunliche Thätigkeit, bis der Tod ihn, ein Opfer seines menschenfreundlichsten Berufes, in diesem Jahre uns entriß.

Karl Müller führt die Redaction fort, und unter seiner Leitung beginnt nun „Die Natur“ (zugleich mit der „Gartenlaube“) ihren fünfundzwanzigsten Jahrgang und geht somit ihrem Vierteljahrhundert-Jubiläum entgegen. Blicken wir auf ihre vierundzwanzig vor uns liegenden Jahrgänge zurück, so müssen wir anerkennen, daß sie ihre Aufgabe: „allen Freunden der Naturkunde die fast täglich neuen Erscheinungen oder Veränderungen, Entdeckungen und Beobachtungen auf allen Gebieten des naturwissenschaftlichen Forschens (sei es Zoologie, Botanik, Mineralogie, Astronomie, Physik, Chemie, Ethnographie, Geographie etc.) in klar, faßlich, mannigfaltig und anregend geschriebenen Aufsätzen, Mittheilungen und Literaturberichten darzubieten“, in vollstem Maße erfüllt hat und daß wir hoffen dürfen, daß die Redaction auch für die Zukunft dieser ihrer Aufgabe treu bleiben wird.

Die erste Nummer des fünfundzwanzigsten Jahrganges bringt ihren Lesern eine von R. Hartmann mit einem trefflichen Text begleitete Illustration von unserm Leutemann; es gereicht uns zur Freude, dieselbe in unserem Blatte mittheilen und damit den neuen Jahrgang der „Natur“ empfehlen zu können.

Die Leutemann’sche Illustration stellt als Karavanenbild eine Scene aus dem alltäglichen afrikanischen Reiseleben der Hagenbeck’schen Expeditionen zum Ankauf fremdländischer Thiere dar, die unseren Lesern aus den Jahrgängen 1869 der „Gartenlaube“ (Artikel „Casanova und Hagenbeck“) und 1874 (Artikel „Ausladung fremdländischer Thiere“) bereits bekannt sind. Im Hintergrunde unseres Bildes ragen einige Hauptvertreter der afrikanischen Flora, die Schirmakazie, Tamarisken und der gigantische Affenbrodbaum mit seinen in der trockenen Jahreszeit kahlen Aesten, und im Vordergrunde sitzt der Agent des Thierhandelsherrn (Hagenbeck) in leichtem Reisekleide auf dem hageren, eckigen Reitkameele (oder Hedjîn). In nicht geringem Grade ziehen die wohlgebildeten Menschen aus jener Heimath der wilden Thiere unsere Aufmerksamkeit auf sich: die sogenannten Homrân, ein mächtiger Stamm im ägyptischen Sudan, der westlich von Basen und nördlich vom Setit wohnt und aus dessen Mitte jene kühnen und gewandten „Schwertjäger“ hervorgehen, welche das von ihnen verfolgte Wild dadurch überwältigen, daß sie ihm mit einem Hiebe ihres scharfen Schwertes die Hinterbeinsehnen zerhauen. Auf unserem Bilde mühen diese „Homrân“ im Dienste Hagenbeck’s sich ab, die oft sehr störrischen wilden Geschöpfe an ihren Zäumen und Stricken von der Stelle zu zerren, während der schwarze mit der buntseidenen Kufîeh geschmückte Kammerdiener, auf kleinem Eselein reitend, die Befehle seines weißen Herrn entgegennimmt. So gewährt das Leutemann’sche gestaltenreiche Bild uns den Anblick einer solchen Expeditions-Karavane kurz vor ihrem Aufbruch, der sie endlich zu uns führen soll zur Erweiterung unserer Kenntniß über die fremde Thierwelt, und so ist dieses Bild zugleich eine sinnige Einführung in den neuen Jahrgang der „Natur“.


Die Luft- oder Vacuum-Bremse. Im Jahrgange 1875 der „Gartenlaube“ sprachen wir über pneumatischen Dienst, speciell über die projectirte Leichenbeförderung nach dem Wiener Central-Friedhofe mittelst Luftdrucks. Bei dieser Gelegenheit fühlten wir uns damals berechtigt, die Voraussetzung auszusprechen: daß dem Drucke der atmosphärischen Luft im Dienste der Menschheit künftig ein bedeutendes Feld der Benutzung vorbehalten sein dürfte – eine Prophezeiung, welche in jüngster Zeit auf dem Gebiete der Eisenbahntechnik in Erfüllung gegangen ist. Wir meinen die von dem englischen Ingenieur Smith erfundene und auf einigen continentalen Gebirgseisenbahnen mit dem außerordentlichsten Erfolge erprobte Vacuum-Eisenbahnbremse, die in ihren Leistungen Alles überbietet, was an Hemmvorrichtungen bis zu dieser Stunde bekannt gewesen ist. Für Gebirgsländer, wie die Schweiz und Oesterreich es sind, auf welchen lang ausgedehnte jäh ansteigende Steigerungen, respective abstürzende Gefälle befahren werden müssen, dürfte diese Erfindung ganz besonders von hervorragendem Interesse sein. – Demzufolge fand sich die österreichische Südbahn-Gesellschaft zu Anfang December d. J. veranlaßt, auf der weltbekannten Gebirgsbahnstrecke des Semmering mit der Vacuum-Bremse Versuche anzustellen, und die damit erzielten Resultate sind in der That erstaunenswerth ausgefallen. Ein mit der Schnelligkeit von vierundachtzig Kilometer (gleich elf deutschen Meilen) in der Zeitstunde dahinbrausender Zug wurde unter der Anwendung dieses Apparates in vierzig Sekunden ohne bemerkbaren Ruck zum Stillstande gebracht; auf einer andern Stelle bei gleich rasender Eile hielt der Zug in dreißig Secunden man könnte sagen mauerfest, ohne daß die Passagiere auch nur die geringste Erschütterung empfunden hätten. Am glänzendsten aber gestalteten sich die Leistungen des Vacuum-Apparates auf der eigentlichen Gebirgsstrecke selbst, zwischen Payerbach und Spital, wo Steigerung und Gefälle sich auf lange Strecken wie 1 : 42 verhalten.

Die Smith’sche Luftbremse, äußerst einfach, wird von der Locomotive aus durch einen Dampfstrahl in Bewegung gesetzt. Längs dem Tender und jedem Wagen befinden sich horizontal liegende Kautschuk-Cylinder, und aus diesen wird die Luft von der Lokomotive ab ausgesaugt. Die nächst hieraus folgende Wirkung ist, daß diese Cylinder zusammengezogen und dadurch die Bremshölzer auf die Räder gepreßt werden. Hat der Locomotivführer das entsprechende Dampfventil geöffnet, so erfolgt momentan die Aufsaugung und die Pressung der Klötze auf die Räder mit der Kraft von beiläufig zwei Drittel Atmosphären oder zehn Pfund auf den Kreiszoll. Soll die Bremse zurückgestellt werden, so wird das Dampfventil geschlossen und eine mit der Rohrleitung in Verbindung stehende Klappe geöffnet; das Vacuum hört auf, und die Hölzer kehren in ihre ursprüngliche Lage zurück.

Die großen Vortheile der Sicherheit, Schnelligkeit und der elastischen Wirkung, welche die Luftbremse bietet, sind so in die Augen springend, daß sie nicht allein von den Eisenbahntechnikern, sondern von Jedermann anerkannt werden dürften. Eine momentane Handbewegung des Zugführers schützt vor vielen jetzt noch möglichen Eisenbahngefahren, und es kann außerdem durch die Anwendung dieser Erfindung die Schnelligkeit jedes Zuges, insbesondere auf Gefällen, in der präcisesten Weise geregelt werden. Wie viele Unglücksfälle werden uns im Laufe eines Jahres durch Ueberfahren von Menschen berichtet, in denen beim Gebrauch der jetzt in Verwendung stehenden Hemmmittel die Tödtung von Personen eine nicht zu vermeidende Misère blieb! Danken wir dem Genie, welches die treueste Begleiterin unserer Erde, die Luft, uns erneut dienstbar gemacht hat!

Z.




Kleiner Briefkasten.

D. H. P. in Düsseldorf und A. St. in H.-Münden. Wir müssen Ihnen Recht geben: es ist in der That nicht länger zu verantworten daß, wenn im Namen des Gesetzes menschliches Irren das größte Unglück über einen Unschuldigen gebracht hat, der Staat sich gleichsam um die Ecke drücken und den in’s Elend Gestoßenen seinem Schicksal und der Barmherzigkeit der Mitmenschen überlassen kann. Das letzte, in jüngster Zeit bekannt gewordene derartige Beispiel von dem Müller Friedrich Schrader in Kroppenstedt, einem durchaus unbescholtenen Manne, der, auf die Anklage eines bereits anrüchigen Menschen hin als Brandstifter zu fünfzehnjährigem Zuchthaus verurtheilt, trotz der begründetsten Begnadigungsversuche nicht begnadigt wurde und achthalb Jahre im Zuchthaus verbracht hatte, während Haus, Geschäft und Familie zu Grunde gingen, und der nun, wo der Ankläger sich selbst als Verbrecher vor Gericht stellt, gebrochen an Leib und Seele und bettelarm dasteht – dieses Beispiel sollte das letzte dieser Art sein. Es wäre der Rechtsmänner des Reichstages würdig, diesen das Rechtsgefühl des Volkes so schwer verletzenden Fall nicht unbenutzt für die neue Reichsgesetzgebung zu lassen. – Für den unglücklichen Schrader haben die Berliner Volks-, die Magdeburger und andere liberale Zeitungen zu Sammlungen aufgefordert, und da auch bei uns, ohne Aufforderung, bereits Gaben für den Unglücklichen eingegangen sind, so erklären wir gern unsere Bereitwilligkeit, Beisteuern zum möglichsten Wiederaufbau eines durch einen irrigen Rechtsspruch zertrümmerten Familienglücks anzunehmen. Wenn wir den Mann auch noch so reich machen, die im Zuchthause verjammerten Jahre der schönsten Manneskraft und die im Elend gestorbene Gattin geben wir ihm nicht wieder!


Als erste Gaben für den unglücklichen Schrader sind eingegangen: H. P. in Düsseldorf 3 Mk.; A. St. in Münden 10 Mk.; Redaction der Gartenlaube 30 Mk.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 848. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_848.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)