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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


daß er in der letzten Zeit irgend eine bedeutende Zahlung gemacht oder Verbindlichkeiten getilgt hätte. Ich hörte wohl, daß er vor etwa drei Wochen eine kurze Reise gemacht habe, aber ich konnte nicht herausbekommen, wohin. Eine Thatsache jedoch, die mir anfänglich von großem Werth schien, kam mir zu Ohren, nämlich die, daß Herr Böttcher in der letzten Zeit öfter des Nachts wegen Schlaflosigkeit aufstehe und in seinem Garten spazieren gehe.

Die Folge davon war, daß ich zwei Nächte im Garten hinter dem Böttcher’schen Hause auf der Lauer lag. Es befand sich viel Gebüsch in demselben, und ich versteckte mich derart, daß Niemand, der in der Nacht in den Garten kam, mich hätte finden können. Aber wer in der Nacht nicht in den Garten kam, war Herr Böttcher, und im Garten selbst war auch keine Spur davon zu sehen, daß dort irgend Etwas vergraben war. Ich befand mich in reiner Verzweiflung. Was sollte ich thun? Auf der einen Seite die feste Gewißheit, daß ich den Schurken entdeckt hatte, auf der anderen kein Anhaltspunkt, der sicher genug gewesen wäre, um zu einer Verurtheilung zu führen! Hatte ich doch nicht einmal die nöthigen Indicien erbracht, um bei diesem bisher ganz unbescholtenen Manne eine Haussuchung vornehmen zu können.

Eines Nachmittags ging ich in meinem Zimmer mit langen Schritten auf und ab. Plötzlich klopfte es, und auf mein „Herein!“ trat der Postbote ein. Er brachte eine Depesche von meinem Chef, welche lautete: „Sofort zurückkehren; wenn noch nicht genug ermittelt, aufgeben; Ihre Anwesenheit hier nothwendig. Z.“

Das Telegramm traf mich wie ein Donnerschlag. Der Chef war offenbar mißmuthig über mein langes Ausbleiben. Sollte ich einfach abreisen oder noch einen Wurf wagen? Ich beschloß das Letztere. Heute Abend mußte noch ein entscheidender Schritt gethan werden, damit ich am andern Morgen abreisen könnte.

Im Club des Städtchens saßen etwa zwölf Herren hinter dem Schoppen. Ich gesellte mich zu ihnen, setzte mich neben meinen Verbrecher, der über diese Ehre ziemlich erstaunt schien, und begann mit ihm Gleichgültiges zu reden. Als diejenigen, welche dicht neben Böttcher gesessen hatten, zu meiner großen Freude aufgestanden und nach Hause gegangen waren, rückte ich an ihn heran und flüsterte ihm in’s Ohr:

„Herr Böttcher, ich habe Ihnen eine wichtige Mittheilung zu machen.“

„Das wäre?“ fragte er sehr ruhig.

„Sie glauben, ich sei Jemand, der hier Lotterielose vertreiben will. Das bin ich nicht. Ich bin Beamter der preußischen Criminalpolizei.“

Herr Böttcher nahm diese Eröffnung mit einer für mich höchst bedeutsamen Miene auf. Er wußte offenbar im Augenblicke nicht, welchen Ausdruck er seinen Zügen geben sollte. Es zuckte in seinem Gesichte, als wolle er erstaunt aussehen, und dann zog er Falten um seinen Mund, als sollten sie die größte Gleichgültigkeit zur Schau tragen. Nach einer Secunde, während welcher ich ihn wie die Schlange das Kaninchen studirt hatte, sagte er in sehr gezwungenem Tone:

„Ja, was geht mich denn das an, lieber Herr?“

„Hören Sie! In T. lebt eine Wittwe Friedow, die um ihr ganzes Vermögen bestohlen worden ist. Die Spuren des Diebstahls zeigen hierhin. Wie ich weiß, sind Sie Verwandter der Wittwe Friedow und an der künftigen Erbschaft betheiligt.“

Während ich diese Worte sprach, hatte ich ihm starr in die Augen gesehen; sie funkelten, wie die einer gehetzten Katze, und als er jetzt mit heiserem Tone ausstieß: „Und darauf hin wollen Sie mich verhaften?“ wäre ich ihm am liebsten sogleich an die Gurgel gesprungen und hätte mein „Im Namen des Gesetzes“ gerufen. Aber ich bezwang mich und mit einer Harmlosigkeit, über die ich heute noch verwundert bin, sagte ich blos:

„Wie können Sie solches Zeug reden? Weil Sie an der Erbschaft betheiligt sind, haben Sie das größte Interesse, mir bei der Entdeckung des Thäters zu helfen.“

„Mit dem größten Vergnügen,“ unterbrach er mich – er hatte sich ganz merkwürdig schnell wieder gefaßt – „so viel in meinen schwachen Kräften steht, bin ich natürlich dabei, aber wenn ich Sie unterstützen soll – was wünschen Sie zunächst von mir?“

„Zunächst möchte ich zu Ihnen kommen, womöglich morgen früh; ich setze Ihnen die Sache auseinander und operire auf Grund Ihrer Kenntniß der hiesigen Personen.“

„So so,“ sagte er mühsam nach Athem ringend. „Jedoch, ich – ich – es thut mir von Herzen leid, aber ich habe eine Depesche bekommen, die mich zwingt, morgen in der frühesten Dämmerung von hier abzufahren; vielleicht finde ich zu Hause ein zweites Telegramm vor, das mich diese Nacht schon fortzugehen veranlaßt. Es handelt sich um einen Schuldner, der seine Zahlungen einstellen will; vielleicht kann ich eine größere Forderung noch beitreiben, wenn ich früh genug zu ihm komme. Sie wissen: Zeit ist Geld.“ Bei diesen Worten hatte er ängstlich bald mein Gesicht, bald meine Uhrkette betrachtet. Mir kostete es die größte Mühe, meine Freude zu unterdrücken. Der Lasso, den ich auf ihn geworfen hatte, war ihm auf das Schönste um den Hals geflogen, und ich wußte, daß es nur noch eines Ruckes bedurfte, um die Schlinge zuzuziehen.

„Geniren Sie sich um Gotteswillen nicht, Herr Böttcher!“ erwiderte ich möglichst gleichgültig auf seine Lüge. „Ich habe sehr viel Zeit; ich brauche erst in acht Tagen wieder in T. zu sein, und wenn Sie innerhalb dieser acht Tage wieder zurückkommen, kann ich immer noch mit Ihnen über die Sache sprechen.“

„Ja, ja,“ erwiderte er eifrig, „ich werde hoffentlich schon übermorgen zurück sein und stehe Ihnen dann vollständig zu Diensten, aber beantworten Sie mir vorher gütigst die Frage: Steht der Doctor Meiling in Beziehung zu der That?“

„Kennen Sie den?“

„Von Ansehen.“

„Er sollte mir helfen,“ sagte ich, ihm offen in’s Gesicht blickend, das jetzt entsetzlich alt, spitz und verstört aussah, „er sollte mir helfen, den Verbrecher zu recogcosciren.“

„Und ist ihm das gelungen?“

„Vollständig; er hat in einem hiesigen Arbeiter einen Mann wieder erkannt, den er am Tage nach der That in der Nähe des Wohnortes der Bestohlenen gesehen hat.“

„Wie heißt der Arbeiter?“ fragte Böttcher in athemloser Spannung.

„Ebbing.“

„Den kenne ich nicht,“ sagte er aufathmend.

„Das glaube ich wohl; er hält sich hier auch nur vorübergehend auf.“ Dann brach ich das Gespräch ab, stand auf, schüttelte ihm auf das Herzlichste die Hand und ging, anscheinend höchst ruhig, um mich in die Nähe seines Hauses zu schleichen.

Ich mußte hier eine starke Viertelstunde in der Dunkelheit harren, dann fuhr richtig ein Einspänner vor. Böttcher sprang heraus, eilte in’s Haus und kam nach einigen Minuten, irgend einen Gegenstand unter dem linken Brusttheil seines Rockes festhaltend, wieder heraus. Es mochte etwa um neun Uhr sein.

Kaum war er von der einen Seite in die Droschke gestiegen, als ich auch schon von der andern hineinsprang, ihn am Arm ergriff und dem Kutscher zurief: „Fort!“ Der Gefaßte schien plötzlich stumm geworden; er machte nicht die geringsten Widerstandsversuche und saß wie eine Bildsäule da. Als ich ihm jetzt leise sagte: „Sind das die Papiere der Wittwe Friedow, die Sie da unter dem Rock haben?“ entgegnete er gepreßt: „Ja, sie sind es.“ Ich ließ den Kutscher halten und brachte den Arrestanten in sicheren Gewahrsam. Keine Dummheit ist so groß, daß sie nicht von dem Verbrecher, der plötzlich entdeckt, daß man ihn verfolgt, ausgeführt werden könnte. Auf diese Dummheit hatte ich gerechnet, und wie richtig ich gerechnet, das zeigte die Thatsache, daß mein Opfer mir geradezu in die Hände lief. – Die Geschworenen verurtheilten Böttcher zu sechs Jahren Zuchthaus. Seine Helfershelfer sind nie ermittelt worden.

Lothar S.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_847.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)