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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


der abseits in seinem unter Weiden versteckten Häuschen wohnte. Ich ging gerades Weges in das Häuschen hinein und traf dort nur eine hünenhafte Person an, welche erklärte, sie sei die Tochter des Fährmanns und setze die Reisenden über, wenn ihr Vater, wie heute, abwesend wäre. Ich suchte ihr Vertrauen zu gewinnen, brachte das Gespräch auf den Verkehr über die Fähre und fragte sie, ob in der letzten Zeit nicht ein guter Freund von mir die Fähre passirt hätte. Er sei sehr eilig gewesen, nach Holland zu kommen, um nicht Soldat werden zu müssen. Die Antipathie, die dort in der Gegend in Beziehung auf das Soldatwerden herrscht, löste ihr sofort die Zunge.

„Ja, ja,“ sagte sie, „da war wohl neulich einer, der es sehr eilig zu haben schien.“

„Er trug eine blaue Blouse und schwarze Hosen – nicht wahr?“

„Das kann wohl sein, aber – jetzt fällt es mir wieder ein – er muß mit mehreren zusammen durchgebrannt sein.“

„Ja wohl, mit zwei Anderen.“

„Ganz recht, erst kam der Eine, schon in der Morgendämmerung und ließ sich übersetzen. Dann, vielleicht eine Stunde nachher, kam der Zweite, forderte sich einen Schnaps und fragte ängstlich, ob ein Anderer nicht schon hinüber wäre. Als ich dies bejahte, ließ auch er sich nach drüben fahren. Dann wieder eine Stunde später kam der Dritte, Ihr Freund, der mit der Blouse, fragte, ob er der Erste sei, und nachdem ich ihm gesagt hatte, ich hätte schon zwei hinübergefahren, schien er sehr beruhigt und setzte sich auch in’s Schiff.“

„Einer von den Dreien hatte ein Blechkistchen bei sich – nicht wahr?“

„Das habe ich nicht gesehen; ich habe nur bemerkt, daß der Letzte von den Dreien etwas Rundes unter dem Arme trug, das in ein rothes Schnupftuch gewickelt war.“

„Ja, ja,“ sagte ich, „das werden seine Haarbürsten und Pommaden gewesen sein; er ist ein eitler Bursche. Sah er nicht sehr fein aus?“

„Ja wohl, er sah sehr nobel aus.“

„Das muß er gewesen sein,“ rief ich im Tone ungeheuchelter Freude. „Es freut mich, daß er entkommen ist. Aber, um ganz sicher zu gehen – wieviel Fährgeld hat er Ihnen gegeben?“

„Zehn Pfennige, wie Jeder.“

„Mit der rechten Hand?“

„Warum denn nicht?“

„War seine rechte Hand nicht verbunden?“

„Eine verbundene Hand habe ich nicht gesehen; ich weiß nur, daß er die eine Hand immer in der Tasche hielt, ob das aber die linke oder die rechte war, das weiß ich nicht mehr.“

Ich hätte die dicke Person trotz ihrer vierzig Sommer und obwohl sie in ihrer Dummheit irgend eine weitere Beschreibung ihrer Fahrgäste nicht zu liefern vermochte, herzlich umarmen mögen. Es war ja gar kein Zweifel – die drei Spitzbuben hatten sich getrennt, damit sie im schlimmsten Falle nicht zusammen getroffen werden konnten, und der letzte war der Rädelsführer und Hauptmann, da er das Kästchen getragen hatte. Während seines Gespräches mit dem Arzte mochte er es hinter eine Hecke gestellt haben. Ich war auf der Fährte, und auf was für einer prachtvollen Fährte! Nun weiter auf der Jagd! Bald mußte ich ja das Hallali blasen können. –

Aber welche Täuschung! Jenseits der Ems war die Spur verloren. Ich lief landein, landaus; ich belagerte jedes Kötterhaus am Wege und suchte zu erfahren, ob man nicht mein Wild gesehen habe. Ich schloß Freundschaft mit allen Leuten, die viel auf die Landstraße kommen, mit Briefträgern, Botengängern und Chausseewärtern, aber wieder nichts, nichts! Und dennoch – ich mußte sie erreichen. Ich dehnte meine Forschungen zuletzt sogar bis in die kleine Stadt V. aus, die etwa sechs Meilen von jener Fährstelle entfernt liegt, aber hier fand ich erst recht nichts.

Doch endlich sollte meine Mühe belohnt werden. Müde und matt – es war etwa der neunte Tag nach meiner Ankunft in T. – ging ich in V. des Abends in eine Bierwirthschaft, welche vorzugsweise, wie mir gesagt war, von den Honoratioren des Ortes besucht wurde. Im Garten derselben befand sich eine Kegelbahn, die hell erleuchtet war und in welcher augenblicklich etwa zehn Herren kegelten. Ich nahm einen Stuhl, setzte ihn außen ungefähr in der Mitte der Bahn hin, sodaß ich im Dunkeln war, stützte den Kopf in die Hand und dachte in sehr gedrückter Stimmung darüber nach, in welches Licht mich meine Resultate dem Chef und den Collegen gegenüber bringen würden. Plötzlich sprang eine ungeschickt aufgesetzte Kugel von der Bahn ab und rollte so dicht an mir vorbei, daß sie fast meinen Fuß berührte.

„Sandhase, Sandhase!“ riefen mehrere Stimmen laut durcheinander, und eine setzte näselnd hinzu:

„Na, Böttcher, Deine Hand ist wohl noch nicht zurecht?“

„Ach,“ sagte da eine andere Stimme, „die muß längst geheilt sein, Du wimmerst ja gar nicht mehr.“

Man befindet sich auf der Jagd; man weiß, der Fuchs ist im Walde; man hört ihn ab und zu im dürren Laube rascheln, aber im Augenblicke ist er wieder fort und muß nach einer andern Seite gelaufen sein. Da – horch! – da raschelt es wieder im Laube; es ist, als ob sich zwischen den Blättern etwas bewegt. Man späht, ohne auch nur ein Glied zu rühren, die Flinte an der Wange, und siehe da, Freund Reinecke steckt, vorsichtig lugend, seinen Kopf über den Graben. Ein Schuß – da liegt er.

Ja wohl, ich sollte noch lange nicht zu Schuß kommen. Obwohl ich instinctiv überzeugt war, daß ich den Fuchs endlich vor mir hatte, galt es doch, für diese innere Gewißheit einen vernünftigen Anhalt zu finden. Ich erkundigte mich daher vorsichtig nach dem Namen des Herrn mit der schlimm gewesenen Hand, erfuhr, daß es der Kaufmann Böttcher sei, und sah dann in die Personenliste der Frau Friedow. Herr Böttcher figurirte dort als der Fünfte unter ihren Verwandten, der auch öfter in ihr Haus gekommen war. Dann, am andern Tage, holte ich mir meinen Doctor, der damals jenem Manne in der Blouse die Hand verbunden hatte. Ich brachte ihn im Wirthshause an einen Ort, wo er Herrn Böttcher sehen konnte, ohne von diesem gesehen zu werden, und bat ihn hoch und theuer, er möge den Kaufmann doch scharf und genau betrachten, ob dieser nicht derselbe Mann sei, dem er die Glassplitter aus der Hand gezogen habe. Der Doctor that sein Möglichstes in dem Studium des Kaufmanns, aber seine Prüfung war resultatlos. Er schwor Stein und Bein, er könne ihn nicht recognosciren, es sei wohl ungefähr dieselbe Gestalt, aber das Gesicht erkenne er nicht wieder. Wenn der Arzt ihn nicht wieder erkannte, dann brauchte ich die Fährmagd gar nicht zu holen. Ich war also auf mich allein angewiesen.

Wir Criminalbeamten haben zwei Grundsätze bei unserer Verfolgung, die wir nach der Art des Falles bald einzeln, bald abwechselnd anwenden. Den einen nennen wir die „lange Leine“, den andern die „kurze“. Die lange Leine besteht darin, daß man den Verfolgten nichts merken läßt, daß man im Gegentheil ihn zu der Annahme zu verführen sucht, er sei dem Verfolger höchst gleichgültig, daß man Alles vermeidet, was ihn stutzig machen könnte, daß man die Miene der größten Harmlosigkeit annimmt, sich möglichst weit von ihm entfernt hält und Alles, was man gegen ihn in’s Werk setzt, mit der größten Heimlichkeit vornimmt. Die kurze Leine dagegen besteht darin, daß man den Verfolgten ahnen läßt, man sei hinter ihm, daß man ihn in Schrecken setzt, ihm auf dem Nacken bleibt und ihn so zu Handlungen treibt, die ihn verrathen. Ich brachte zuerst die „lange Leine“ in Anwendung.

Um Böttcher vertraulich zu machen, ging ich zunächst zu dem Wirthe des Gasthofes, in welchem ich wohnte, und stellte mich ihm vor, aber nicht als Denjenigen, der ich war, sondern als einen Hamburger Agenten, welcher Loose verbotener Lotterien hier abzusetzen wünsche. Der Wirth zog ob meiner Eröffnungen ein ziemlich schiefes Gesicht, und als ich ihn um strengste Geheimhaltung bat, sicherte er mir dieselbe mit einer Miene zu, aus der ich deutlich entnahm, wie wenig Mühe er sich um sie geben würde. In der That sah ich schon am nächsten Morgen zu meinem großen Vergnügen, daß mich mein lieber College, der städtische Polizeisergeant, mit äußerst feindseligen Blicken beobachtete und daß, wenn ich in eine anständige Wirthshausgesellschaft kam, die Herren meine Fragen ziemlich kurz beantworteten. Traf ich in einer solchen den Gegenstand meiner Gedanken, so nahm ich an seiner Miene Gott sei Dank wahr, daß er seinen Argwohn aufgegeben hatte und, wie die Uebrigen, mich für ein „schäbiges“ Individuum hielt.

Inzwischen war ich rastlos thätig. Aber was ich erfuhr, war wieder verteufelt wenig. Ich hörte wohl, Herr Böttcher lebe in schlechten Verhältnissen jedoch ich entdeckte nicht,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_846.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)