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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


die „Gazette“, „kamen Hunderte von Auswanderern durch unsere Stadt; dieselben redeten nur polnisch. Zur Verständigung mit ihnen zogen die Auswanderungsagenten einen polnischen Geistlichen herbei, der an einer Kirche der Stadt angestellt ist. Dieser ließ sich von den Auswanderern Adressen von polnischen Preußen geben, welche ebenfalls auszuwandern dächten. Gestützt auf diese Adressen, bot der Geistliche, der in dem erwähnten Briefe Grochowski oder Jarowski, in Journalen Gerowski oder Jurowski benannt wird, dem brasilianischen Generalkonsul die Lieferung von dreitausend polnischen Colonisten an und zu gleicher Zeit wandte er sich an das Haus Lobedanz u. Cie. in Antwerpen, welches im Auftrage der brasilianischen Regierung auf deren Kosten Auswanderer zu ermäßigten Preisen nach Brasilien befördert, mit dem Antrage eines Compagniegeschäfts, wobei er polnische Auswanderungsprospecte unter seinen Landsleuten verbreiten wollte. Der Generalconsul und das genannte Haus antworteten ihm ablehnend, worauf er williges Ohr bei einem anderen Hause zu Antwerpen fand, nur mit der Abänderung, daß statt nach Brasilien die Einladung zur Auswanderung nach Venezuela, unter Verheißung der Beförderung auf Kosten der dortigen Regierung, gemacht wurde. Diese Versprechungen lockten die armen Menschen nach Antwerpen, aber da die Regierung von Venezuela keine Gelder zu ihrer Beförderung geschickt hatte, so half es ihnen nichts, daß sie bereitwillig waren, sich nach diesem Lande einschiffen zu lassen, wo sie ebenso wenig Unterkommen, Arbeit oder wohlfeiles Land antreffen, wie in Brasilien.“

Die gräßliche Noth dieser Leute brachte ganz Antwerpen in Aufregung; indem man für augenblickliche Abhülfe der Noth sorgte, schritt die Polizei und das Gericht ein, um die Angabe des polnischen Geistlichen und des mit ihm verbündeten Hauses, daß sie einen ihnen verheißenen Dampfer des Hauses Colombier von Bordeaux erwartet hätten, zu untersuchen.

Nach dem Antwerpener „Précurseur“ wurden die nothleidenden Menschen in öffentlichen Gebäuden untergebracht und Sammlungen für sie veranstaltet; einige erhielten Beschäftigung als Cigarrenmacher, Schuhmacher und dergleichen und Mädchen als Dienerinnen; andere konnten durch die Vermittlung des deutschen Generalconsuls die Rückkehr in die Heimath antreten. Späteren Mittheilungen zufolge wurden die in Antwerpen verbliebenen Auswanderer durch ein französisches Schiff nach Venezuela befördert.

Ob es begründet ist, daß die preußischen Polen durch die Vorspiegelung ihrer Geistlichen, die katholischen Pfarrer würden in Preußen wegen ihrer Glaubenstreue verfolgt und es sei darauf abgesehen, sie alle protestantisch zu machen, zum Verlassen der Heimath angefeuert worden seien, können wir nicht entscheiden, auffallend ist es jedoch, daß eine so massenhafte Auswanderung aus katholischen Landstrichen erfolgte, deren Bewohner schon wegen ihrer Sprache nur wenigen einflußreichen Personen ihr Ohr leihen können; da schon einmal ultramontane Bemühungen für die Organisirung einer ausgedehnten Auswanderung nach Nordamerika zur Sprache gebracht worden sind und jetzt wieder ein polnischer Geistlicher thätig erscheint, so wird der Glaube an die Wahrheit der Aussagen der Auswanderer in Antwerpen schwer zu erschüttern sein.

Hoffen wir, daß die Bemühungen der belgischen Behörden Kern genug in dem Antwerpener Vorfalle entdecken, um auch der preußischen Regierung, der man die Begünstigung der Auswanderung nicht vorwerfen kann, Anhalt zum wirksamen Vorgehen zu verschaffen. Seit mehr als dreißig Jahren hat die Presse vor der Auswanderung nach Südamerika, namentlich nach Brasilien gewarnt, wo es in der Zeit eines Vierteljahrhunderts nur zwei oder drei kleinen Colonien in abgelegener Gebirgsgegend durch günstige Umstände gelungen ist, sich in bescheidener Dauer – denn eine nachhaltige Blüthe läßt sich auch bei diesen nicht hoffen – zu erhalten, und immer wieder wird der Versuch unternommen, leichtgläubige Leute in ein Land zu verlocken, dessen Klima und dessen romanische Bevölkerung nicht für das germanische Element taugen; denn nicht blos die deutschen Colonisten gehen dort zu Grunde, sondern auch die englischen, wie man aus einer Warnung der englischen Regierung vor der Auswanderung nach Brasilien (siehe „Shipping and Mercantile Gazette“ vom 21. November dieses Jahres) entnehmen kann.

Der britische Gesandte zu Rio de Janeiro, heißt es in dieser ministeriellen Kundgabe, warnt vor der noch immer vorkommenden Auswanderung nach der Niederlassung Kittoland in der Provinz Parana in Südbrasilien, da dieselbe sich nach eidlichen Berichten glaubwürdiger Personen in dem jammervollsten Zustande befindet; dieselbe besitzt äußerst wenig baufähiges Land, ist vielmehr mit dichtem Walde bedeckt und, mit einem Worte, unbewohnbar. Nicht ein einziges Haus war im Juni dieses Jahres errichtet; keine Straße im Umkreise von zwanzig englischen Meilen; drei Engländer, die in der Colonie waren, lebten unter Zelten. Ein Engländer, der acht Jahre in Curitiba lebte, bestätigte diese Aussagen. Die englische Auswanderungs-Commission räth deshalb von der Auswanderung nach Kittoland und irgend einer andern Niederlassung in Brasilien ab; jeder, der es wagen will, sich nach diesem Lande zur Ansiedelung zu begeben, hat wohl zu prüfen, ob ihm genügende Sicherheiten für sein Fortkommen geboten werden, denn er muß es auf seine eigene Gefahr versuchen.

Diese Aufkündigung des Schutzes, den Großbritannien seinen Angehörigen sonst in ausgedehntestem Maße angedeihen läßt, ist wahrlich die beredteste Widerlegung der Vorspiegelungen, womit man, gleichviel wer, schlichte Landleute ohne Urtheil über solche Angelegenheiten nach dem „gesegneten Lande“ Brasilien zu locken sucht, und da die Vertretung der deutschen Nation noch zu jung ist, als daß sie in fernen Ländern überall helfend zur Hand sein könnte, so ist es gut, daß die deutsche Presse ungehindert im Vaterlande ihre Stimme erheben darf; dieser oder jener, der sich zu dem thörichten Schritte der Auswanderung nach Südamerika schon halb verleiten ließ, vernimmt doch wohl ihren Mahnruf und bleibt im Lande, statt schon unterwegs zu verderben oder in der Fremde in Noth und Elend zu verkommen. Also nicht nach Brasilien!




Aus dem Beamtenleben.
Nr. 7. Die schlimme Hand.


Am 22. Mai 1875 stand ich in unserem Büreau hinter dem Pulte und trug Journalnummern ein, als der Chef mit einem Briefe in der Hand eintrat und auf mich zukam. „Herr College,“ sagte er, „Sie können wieder den Polizisten spielen; hier empfange ich die Nachricht, daß in T. zweihundertfünfundfünfzigtausend Mark gestohlen worden sind und die dortige Polizei den Thäter nicht ermitteln kann. Man ersucht uns, einen Criminalbeamten dorthin zu senden. Ich will wieder Ihnen die Vollmacht geben, aber ich bitte mir aus, daß Sie nicht so viel Zeit brauchen wie das letzte Mal. Unser Ruf leidet darunter, und die Diäten werden zu hoch.“

Ich verbeugte mich hocherfreut, und nachdem ich meine Deputirungs-Verfügung in Ausfertigung erhalten hatte, reiste ich voll Spannung nach T. ab. Dort angekommen, meldete ich mich unter Vorzeigung meiner Legitimationen sofort bei dem Polizeiverwalter, dem Bürgermeister, und erfuhr nun folgenden höchst einfachen Thatbestand.

Vor dem Thore des Städtchens, das ungefähr viertausend Einwohner zählt, wohnte in einer kleinen Villa die Wittwe eines Rentiers Friedow. Frau Friedow besaß ein sehr ansehnliches Vermögen und hatte den Hauptstamm desselben, bestehend aus Prioritäten, Coupons und einigem baaren Gelde, im Ganzen fünfundachtzig- bis neunzigtausend Thaler, bisher stets in einer in ihrem Schlafzimmer stehenden Commode aufgehoben. Das Schlafzimmer lag im ersten Stocke und hatte nur ein Fenster, welches auf den Hof hinausging. Obwohl ihr vertraute Freunde öfter gerathen hatten, das Geld an einem sichereren Orte zu verwahren, war sie diesen Rathschlägen doch nie gefolgt. Einem Banquier wollte sie das Geld nicht anvertrauen. Den Mangel eines Geldschranks hatte sie mit der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_842.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)