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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Im Zimmer der Gräfin Morynska befand sich diese allein mit Waldemar. Wanda hatte sich sehr verändert; sie war wohl immer bleich gewesen, aber diese Blässe hatte nichts gemein mit jener todtenhaften Farbe, die jetzt ihr Antlitz deckte. Man sah es, was sie gelitten hatte in der Zeit, wo sie den so leidenschaftlich geliebten Vater im Kerker wußte, krank, dem Tode nahe, ohne ihn auch nur auf einen Augenblick sehen zu dürfen, als der Freiheitstraum, für den er sein Leben so begeistert in die Schanze geschlagen, den auch seine Tochter mit voller Seele umfaßte, für immer zu Ende ging. Die Todesangst bis zur Entscheidung des Doppelschicksals, das fortwährende Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung, die Aufregung bei den immer wiederholten Befreiungsversuchen, das alles hatte seine deutlichen Spuren hinterlassen. Wanda war eine jener Naturen, die mit verzweiflungsvoller Energie auch dem schwersten Unglücke Stand halten, so lange noch ein Schimmer von Hoffnung vorhanden ist, die aber, wenn dieser Schimmer erlischt, machtlos zusammenbrechen, und sie schien jetzt nahe bis an diesen Punkt gelangt zu sein. Für den Augenblick lag freilich noch eine fieberhafte Ueberreizung in ihrem Wesen, ein Zusammenraffen der letzten Kräfte, aber es waren eben auch die letzten.

Waldemar stand vor ihr, unverändert in seiner trotzigen Erscheinung, aber er schien wenig von der Schonung zu üben, die das Aussehen der jungen Gräfin so dringend forderte. Seine Haltung war eine beinahe drohende, und in seiner Stimme lag ein Gemisch von Zorn und Schmerz, als er zu ihr sprach:

„Ich bitte Dich zum letzten Male: gieb den Gedanken auf! Du giebst Dir den Tod damit, ohne Deinem Vater helfen zu können. Es ist nur eine Qual mehr für ihn, wenn er Dich vor seinen Augen hinsterben sieht. Du willst ihm folgen in jene furchtbare Einöde, in jenes mörderische Klima, dem die Stärksten unterliegen, Du, die von Jugend auf verwöhnt, mit allem umgeben worden bist, was das Leben nur Angenehmes zu bieten vermag, willst Dich jetzt den schlimmsten Entbehrungen aussetzen. Was die stählerne Natur des Grafen vielleicht noch aushält, dem erliegst Du in den ersten Monaten. Frage den Arzt, frage Dein eigenes Aussehen, und sie werden Dir sagen, daß Du nicht das nächste Jahr dort erlebst.“

„Glaubst Du vielleicht, daß mein Vater es erlebt?“ entgegnete Wanda mit bebender Stimme. „Wir hoffen und verlangen ja auch nichts mehr vom Leben, aber wir wollen wenigstens zusammen sterben.“

„Und ich?“ fragte Waldemar mit bitterem Vorwurf.

Sie wandte sich ab, ohne zu antworten.

„Und ich?“ wiederholte er heftiger. „Was wird aus mir?“

„Du bist wenigstens frei. Du hast das Leben noch vor Dir. Trage es! Ich habe noch schwerer zu tragen.“

Waldemar wollte auffahren; ein Blick auf das bleiche, schmerzdurchwühlte Antlitz verbot ihm das. Er zwang sich zur Ruhe.

„Wanda, als wir uns vor einem Jahre endlich fanden, da stand das Wort zwischen uns, das Du meinem Bruder gegeben hattest. Ich hätte Dich ihm abgerungen um jeden Preis, aber es kam nicht dazu. Sein Tod hat die Schranke niedergerissen, und was jetzt auch von außen herandrohen mag, sie ist nieder zwischen uns. An Leo’s frischem Grabe, in einer Zeit, wo das Todesschwert täglich über dem Haupte Deines Vaters hing, habe ich es nicht gewagt, Dir von Liebe, von Vereinigung zu sprechen, habe es über mich gewonnen, Dich nur selten und flüchtig zu sehen. Du und die Mutter, Ihr ließet mich ja bei jedem Besuche in Rakowicz fühlen, daß ich von Euch immer noch als Feind betrachtet werde, aber ich hoffte auf die Zukunft, auf bessere Zeiten – und nun trittst Du mir mit einem solchen Entschlusse entgegen. Begreifst Du denn nicht, daß ich dagegen kämpfen werde bis zum letzten Athemzuge? ‚Wir wollen zusammen sterben‘. Das ist leicht gesagt und auch leicht gethan, wenn man wie Leo von einer Kugel mitten in’s Herz getroffen wird. Hast Du Dir schon klar gemacht, was der Tod in der Verbannung ist? Dieses langsame Dahinsterben, dieser monatelange Todeskampf unter Entbehrungen, die den Geist brechen, noch ehe sie den Körper vernichten, fern vom Vaterlande, abgeschnitten von der Welt und ihren Interessen, von jedem geistigen Lebenshauche, der Dir so nothwendig ist, wie die Luft zum Athmen, erdrückt werden, ersticken unter der Last des Elends! – Und Du verlangst von mir, daß ich das ertrage, daß ich es geschehen lasse, wenn Du Dich freiwillig einem solchen Loose weihst?“

Es ging ein leiser Schauer durch die Gestalt der jungen Gräfin. Sie mochte wohl die Wahrheit seiner Schilderung empfinden, aber sie verharrte im ihrem Schweigen.

„Und Dein Vater nimmt dieses unglaubliche Opfer an,“ fuhr Waldemar in immer wilderer Erregung fort, „und meine Mutter läßt es zu? Freilich, es gilt ja, Dich meinen Armen zu entreißen; um den Preis weihen sie Dich selbst dem Lebendigbegrabenwerden. Wäre ich an Leo’s Stelle gefallen, und den Grafen hätte das jetzige Schicksal erreicht, er hätte Dir befohlen zu bleiben, so würde meine Mutter mit vollster Energie die Rechte ihres Sohnes vertreten und Dich zurückgehalten haben; jetzt haben sie Dir selbst den Märtyrergedanken eingegeben, obgleich sie wissen, daß er Dir den Tod bringt, aber er macht ja jede Verbindung zwischen uns auch für die fernste Zukunft unmöglich, und das ist ihnen genug.“

„Laß’ die Bitterkeit!“ unterbrach ihn Wanda. „Du thust den Meinigen Unrecht damit; ich gebe Dir mein Wort, daß ich den Entschluß allein gefaßt habe. Mein Vater steht an der Schwelle des Greisenalters; die Wunden, die lange Gefangenschaft, mehr als das Alles unsere Niederlage haben ihn geistig und körperlich gebrochen. Ich bin das Einzige, was ihm geblieben ist, das letzte Band, das ihn noch an das Leben knüpft – ich gehöre zu ihm. Was Du vorhin so furchtbar schildertest, das ist sein Loos. Glaubst Du, ich könnte auch nur eine Stunde ruhig an Deiner Seite leben, wenn ich wüßte, daß er allein und verlassen einem solchen Schicksale entgegengeht, daß ich selbst ihm den letzten bittersten Schmerz seines Lebens bereite durch die Vermählung mit Dir, den er doch nun einmal als Feind betrachtet? Das Einzige, was ich jenem erbarmungslosen Urtheilsspruche abringen konnte, war die Erlaubniß, den Vater zu begleiten, und auch das habe ich nur mit Mühe erreicht. Ich wußte, daß es einen schweren Kampf mit Dir geben würde; wie schwer er ist, das zeigst Du mir erst jetzt. Schone mich, Waldemar! Ich habe nicht viel Kraft mehr übrig.“

„O nein, für mich nicht!“ sagte Waldemar bitter. „Was Du an Kraft und Liebe besitzest, das gehört allein Deinem Vater; was aus mir wird, wie ich die Trennung ertrage, darnach fragst Du nicht. Ich war ein Thor, als ich der Aufwallung glaubte, die Dich damals im Momente der Todesgefahr in meine Arme warf. Nur einen Augenblick lang warst Du mir Wanda; als ich Dich am nächsten Tage wiedersah, hörte ich schon wieder die Gräfin Morynska aus Dir sprechen, und sie spricht auch heute zu mir. Meine Mutter hat Recht: Eure nationalen Vorurtheile sind das Lebensblut, mit dem Ihr genährt seid von Jugend auf, von denen Ihr nicht lassen könnt, ohne das Leben selbst zu lassen; denen opferst Du uns Beide, denen opfert Dein Vater sein einziges Kind. Er hätte nun und nimmermehr Deine Begleitung angenommen, wenn es ein Pole wäre, der Dich liebte. Da ich es bin, willigt er in Alles, was Dich von mir reißt. Was thut es denn auch, wenn er sie nur vor dem Schicksale bewahrt, einem Deutschen anzugehören, wenn er nur dem alten Nationalhasse seine Schuld abträgt! Könnt Ihr Polen denn nur hassen und nichts als hassen, selbst über Tod und Grab hinaus?“

„Wäre mein Vater frei,“ sagte Wanda tonlos, „ich hätte vielleicht den Muth gefunden, ihm und Allem zu trotzen, was Du Vorurtheil nennst, um Deinetwillen. Jetzt kann ich es nicht, und“ – hier flammte ihre ganze Energie wieder auf – „jetzt will ich es auch nicht, denn es wäre Verrath an meiner Kindespflicht. Ich gehe mit ihm, und müßte ich wirklich sterben daran. Ich lasse ihn nicht allein in seinem Unglück.“

Die Art, wie sie die letzten Worte sprach, zeigte, daß ihr Entschluß nicht zu erschüttern war, und auch Waldemar schien das einzusehen. Er gab den Widerstand auf.

„Wann willst Du abreisen?“ fragte er nach einer Pause.

„Im nächsten Monat. Ich darf den Vater erst wiedersehen, wenn ich in O. mit ihm zusammentreffe; dann wird es wohl auch der Tante erlaubt werden, ihn noch einmal zu sprechen. Sie begleitet mich bis O. Du siehst, wir brauchen nicht heute und

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