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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


keinen Schritt mehr thun, ohne sich neuem Verdachte auszusetzen, ohne die Haft des Vaters und Bruders noch härter zu machen; sie mußten endlich der Unmöglichkeit weichen.

Die Fürstin hatte unmittelbar nach dem Tode ihres jüngsten Sohnes Wilicza verlassen und war gänzlich nach Rakowicz übergesiedelt. Die Welt fand es sehr natürlich, daß sie ihre verwaiste Nichte jetzt nicht allein ließ, Waldemar verstand besser, was seine Mutter forttrieb. Er hatte es schweigend hingenommen, als sie ihm ihren Entschluß ankündigte, und nicht den geringsten Versuch gemacht, sie zu halten; er wußte, daß sie weder den Aufenthalt in seinem Schlosse noch seinen täglichen Anblick mehr ertrug, war er ja doch die Ursache jener unglückseligen That Leo’s gewesen, die diesem den Tod und den Seinigen das Verderben brachte. Vielleicht war es für Nordeck auch eine Erleichterung, daß die Fürstin ging, jetzt wo er gezwungen war sie täglich und stündlich zu verletzen durch die Art, wie er die Zügel der Herrschaft in Wilicza führte. Seine Hand, die sie mit so eiserner Willenskraft ergriffen hatte, wußte sie auch eisern zu regieren, und das war in der That nothwendig. Er hatte Recht, es war ein Chaos, was die zwanzigjährige Beamtenwirthschaft unter seinem ehemaligen Vormunde und die vier letzten Jahre unter dem Baratowski’schen Regimente ihm auf seinen Gütern geschaffen hatte, aber er ging mit einer unglaublichen Energie daran, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Im Anfange hatte Waldemar freilich genug zu thun, wenn er sich mit allen Kräften der auch auf seinem Gebiete drohenden Rebellion entgegenstemmte, aber sobald er sich nur wieder frei regen konnte, sobald der Aufstand, der mit tausend geheimen Beziehungen auch nach Wilicza hinübergriff, zu erlöschen anfing, begann dort ein Umwälzungsproceß, der seines Gleichen suchte. Was sich von den Beamten nicht unbedingt fügte, wurde entlassen und jeder Zurückgebliebene der schärfsten Controlle unterworfen. Die Forstverwaltung wurde durchweg mit neuen Persönlichkeiten besetzt, die Pachtgüter, zum Theil mit bedeutenden Geldopfern, aus den Händen der bisherigen Pächter befreit und der Herrschaft selbst zugetheilt, an deren Spitze der junge Gutsherr ganz allein stand. Es war eine Riesenaufgabe für einen Einzelnen, das Alles zu bewältigen, jetzt, wo all’ das Alte zusammenstürzte und das Neue erst geschaffen werden sollte, wo noch nichts sich fügte, nichts ineinander griff, aber Waldemar zeigte sich dieser Aufgabe gewachsen. Er war doch schließlich Sieger geblieben im Kampfe mit seinen Untergebenen; zwar die eigentliche Bevölkerung von Wilicza blieb ihm nach wie vor feindlich gesinnt; sie haßte fortgesetzt in ihm den Deutschen, aber auch sie hatte die Hand des Herrn fühlen und sich ihr beugen lernen. Mit der Entfernung der Fürstin verlor der Ungehorsam seine stärkste Stütze, und mit dem Erlöschen des Aufstandes drüben im Nachbarlande sanken auch hier Trotz und Widerstand zusammen. Von ruhigen, geordneten Verhältnissen, wie sie auf den Gütern in anderen Provinzen herrschten, war freilich noch keine Rede, dazu hätte es anderer Zeiten und Umgebungen bedurft, aber der Anfang war doch wenigstens gemacht, die Bahn gebrochen, und das Uebrige mußte der Zukunft aufbehalten bleiben.

Der Administrator Frank befand sich noch in Wilicza und hatte seine beabsichtigte Entfernung um ein Jahr hinausgeschoben. Er gab darin hauptsächlich dem Wunsche des Gutsherrn nach, dem viel daran lag, den tüchtigen, erfahrenen Mann noch eine Zeit lang zur Seite zu haben. Erst jetzt, wo das Nothwendigste geordnet war, hatte Frank seine definitive Entlassung genommen und zugleich den langgehegten Plan ausgeführt, sich selber anzukaufen. Das hübsche, gar nicht so unbedeutende Gut, das er erworben, lag in einer anderen Provinz des Landes, in angenehmer Gegend und befand sich, im Gegensatz zu der „polnischen Wirthschaft“, die der Administrator zwanzig Jahre lang bekämpft hatte und die er so gründlich verabscheute, in durchaus geordneten, friedlichen Verhältnissen. Er sollte erst in zwei Monaten in die Hände des neuen Besitzers übergehen, und so lange blieb dieser noch in seiner alten Stellung.

Was Gretchen betraf, so hatte der Vater bei ihrer Verheirathung bewiesen, daß sie in der That sein Liebling war, ihre Mitgift übertraf all die Berechnungen, die Assessor Hubert so genau und gründlich für – einen Andern angestellt hatte. Die Hochzeit war schon im letzten Herbste gefeiert worden, und das neue Ehepaar lebte in J., wo Professor Fabian nun wirklich die ihm angebotene Stellung angenommen hatte, und wo „wir ganz außerordentliche Erfolge haben“, wie die Frau Professorin ihrem Vater schrieb. In der That überwand Fabian seine Scheu vor der Oeffentlichkeit weit schneller und besser, als er glaubte, und rechtfertigte all die Erwartungen, die man von dem so schnell berühmt gewordenen Verfasser der „Geschichte des Germanenthums“ hegte. Sein bescheidenes, liebenswürdiges Wesen, das im schärfsten Gegensatze zur der schroffen Selbstüberhebung seines Vorgängers stand, gewann ihm die allgemeine Sympathie, und seine junge, hübsche Frau, die in ihrer reizenden, durch die Großmuth des Vaters mit allen nur möglichen Annehmlichkeiten ausgestatteten Häuslichkeit so anmuthig die Honneurs zu machen wußte, trug das Ihrige dazu bei, auch seine gesellschaftliche Stellung zu einer höchst angenehmen zu machen. Gegenwärtig wurde das junge Paar zu dem ersten Besuche im Vaterhause erwartet und sollte in den nächsten Wochen eintreffen.

Nicht so gut war es dem Assessor Hubert ergangen, obgleich ihm im Laufe des Jahres eine ganz unerwartete und ziemlich bedeutende Erbschaft zugefallen war, aber sie kostete ihm leider die Familienberühmtheit. Professor Schwarz war vor einigen Monaten gestorben, und da er unverheirathet war, ging sein Vermögen auf die nächsten Verwandten über. Die pecuniären Verhältnisse Hubert’s hoben sich dadurch bedeutend, aber was half ihm das? Die Braut, auf deren Besitz er mit solcher Sicherheit gerechnet hatte, gehörte einem Anderen, und er selbst war noch immer nicht Regierungsrath und hatte auch vorläufig keine Aussicht, es zu werden, obwohl er sich im Amtseifer überstürzte, obwohl er jede Minute das Polizeidepartement von L. mit seinen sogenannten Entdeckungen alarmirte und Alles aufgeboten hatte, um in diesem Revolutionsjahr auch für seinen eigenen Staat ein paar Hochverräther aufzugreifen, was ihm bekanntlich nicht gelungen war. Aber dieser Staat benahm sich in einer wahrhaft himmelschreienden Weise gegen seinen treuesten Diener; er schien gar kein Verständniß für die Aufopferung und Hingebung desselben zu besitzen, sich vielmehr der Auffassung Frank’s anzuschließen, der in seiner derben Weise behauptete, der Assessor mache jetzt „eine Dummheit nach der anderen“ und werde sich damit noch den ganzen Staatsdienst unmöglich machen. In der That wurde Hubert bei jeder Beförderung in einer so absichtsvollen Weise übergangen, daß die Collegen zu sticheln anfingen; da reifte ein finsterer Entschluß in der Seele des Tiefbeleidigten. Die Schwarz’sche Erbschaft machte ihn ja völlig unabhängig – weshalb sollte er noch länger Verkennung und Zurücksetzung ertragen, weshalb noch länger dieser undankbaren Regierung dienen, die seine glänzenden Fähigkeiten so beharrlich verkannte, während sie unbedeutende Menschen, wie den Doctor Fabian, zu den ehrenvollsten Stellungen berief und mit Auszeichnungen überhäufte?!

Hubert sprach davon, seine Entlassung zu nehmen; er wiederholte das sogar im Gegenwart des Präsidenten und mußte die Kränkung erleben, daß dieser ihm mit vernichtender Freundlichkeit beistimmte. Seine Excellenz meinten, der Herr Assessor habe bei seinem Vermögen eine Anstellung ja gar nicht nöthig und thue ganz recht, sich der anstrengenden Thätigkeit zu entziehen; er sei ohnehin etwas zu „nervös“ für einen Beamten, von dem man doch in erster Linie Besonnenheit verlange. Der Wink war deutlich genug. Hubert fühlte etwas von dem Menschenhaß und der Weltverachtung seines berühmten Verwandten in sich, als er stehenden Fußes nach dieser Unterredung nach Hause ging, um sein Entlassungsgesuch aufzusetzen. Es wurde abgeschickt und auch wirklich angenommen. Noch waren der Staat und das Polizeidepartement von L. darüber nicht aus den Fugen gegangen, aber es geschah vielleicht noch nachträglich, wenn die Entlassung eine Thatsache wurde, was im nächsten Monat bevorstand. Der Assessor war viel zu sehr der Neffe seines Onkels, dessen verunglücktes Manöver er nachgeahmt hatte, um nicht auf den Eintritt einer solchen Katastrophe zu warten. –

Im Hofe von Rakowicz stand das Pferd des jungen Gutsherrn von Wilicza. Es geschah nur äußerst selten, daß er herübergeritten kam, und auch dann dauerten seine Besuche stets nur kurze Zeit. Die Kluft, welche ihn von seinen nächsten Verwandten trennte, wollte sich noch immer nicht schließen, die letzten Ereignisse schienen sie nur noch weiter aufgerissen zu haben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_818.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)