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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

„Marc Anton“ gespielt. Im folgenden Mai reiste er nach Berlin, um seinen Zustand auch von dem berühmteren Gräfe, dessen frühzeitiges Hinscheiden im besten Mannesalter wenige Monate später beklagt wurde, prüfen zu lassen. Er erkundigte sich nach der geeigneten Zeit, zu welcher der vielbeschäftigte Mann in der eigenen Wohnung sich consultiren ließe. „Kommen Sie,“ hatte ihm der Diener gerathen, „um neun Uhr Abends hierher! Dann will ich versuchen, daß Sie vor Mitternacht vorgelassen werden.“

Punkt neun Uhr erscheint Weilenbeck in Gräfe’s Haus, vor dem sich eine stattliche Anzahl eleganter Equipagen angesammelt hat. Das Wartezimmer füllt sich mit Patienten. Es wird halb zehn Uhr, ehe der erste vorgelassen wird. Um elf Uhr ist die Reihe noch nicht an Weilenbeck gekommen. Da endlich wird er aufgerufen. Der Diener geleitet ihn aus dem Erdgeschoß in den ersten Stock, zu dem eine hellerleuchtete Marmortreppe führt.

Weilenbeck wird in ein großes, von einer Lampe matt erhelltes Zimmer geführt, in dessen Mitte an einem Tische, umgeben von Büchern und Instrumenten, eine Gestalt sichtbar wird, deren Gesichtszüge er erst, als er nahe herangetreten, erkennen konnte. Da saß ein junger Greis, der den Patienten fast leise mit den Worten anredete: „Was macht Sie so unglücklich, meine Hülfe zu suchen?“ Die Consultation war kurz. Weilenbeck schied ohne das Labsal empfangener Hoffnung. Um nun die Abnahme der Sehkraft wenigstens nach Möglichkeit zu verzögern, ließ er kein Mittel unversucht. Welche Reisen hat er unternommen, welchen Curen sich unterzogen! In der Schweiz am Gießbache und in Ungarn in der Büdös-Höhle an der Grenze Siebenbürgens suchte er Hülfe. Alle Bemühungen waren fruchtlos. Die Zeitungen durchlief zwar wiederholt die Nachricht, der Künstler befinde sich „auf dem Wege der Besserung“; einmal hieß es sogar, er habe durch den Gebrauch eines Heilwassers das Augenlicht wieder erlangt, aber statt dessen hatte in Wahrheit das Uebel sich nur verschlimmert, und bald konnte Weilenbeck die selbst in nächster Nähe ihn umgebenden Gegenstände nur noch als farblose und wie durch einen dichten Schleier erkennen.

Trotz dieses Zustandes, von dem der damals sonst kerngesunde Künstler betroffen wurde, blieb Weilenbeck seinem Berufe treu, und darin liegt das Problematische seiner Erscheinung. „Wüßte die Welt,“ schrieb er an mich, „welche Geisteskraft, welche Geduld, welche Selbstbeherrschung dazu gehört, dem furchtbaren Geschicke der Erblindung zu trotzen, und wie wunderbar es doch ist, welchen Fleiß, welchen Muth es erfordert, Andere das schauen zu lassen, von dem man selbst keine sinnliche Anschauung hat!“ Ein blinder Schauspieler! Nicht ein Rhetor, der von dem sichern Port des Katheders aus declamirt! Ein Schauspieler, der, obwohl es finstere Nacht um ihn her ist, der lebensvollen Darstellung verschiedenartigster Charaktere fähig bleibt! Man versuche einmal, nur wenige Minuten lang mit geschlossenen Augen in einem Zimmer frei zu agiren, und man wird die Schwierigkeit des Versuchs erkennen. Wie viel bedenklicher wird es für einen wirklich Blinden sein, sich auf die heißen Bretter der Bühne zu wagen, und wie viel schwieriger, vor einem großen Publicum, von dem er weiß, daß Aller Augen auf ihn gerichtet sind, sich ungezwungen und mit jener Sicherheit zu bewegen, die den Zuschauer seine Blindheit nicht erkennen läßt oder, falls er Kenntniß von ihr hat, nicht derart an sie erinnert, daß seine Illusion zerstört wird. Daß Weilenbeck den erforderlichen Grad jener Sicherheit besitzt, bezeugt der Umstand, daß bei dem ersten Berliner Gastspiele die sich im Publicum allmählich verbreitende Kunde seiner Blindheit ungläubig oder mindestens doch als ein stark übertriebenes Gerücht aufgenommen wurde.

Nach wie vor spielte Weilenbeck seine früheren Rollen, den Franz Moor, den Mephisto, den Selbitz, den Buttler, den Cromwell. Trotz der unsäglichen Anstrengungen ließ er sich nicht zurückhalten, auch neue Partien einzustudiren. Zu diesen neuen gehörten die des „Papst Sixtus“ und die „Karl’s des Neunten“ in Lindner’s „Bluthochzeit“. Dabei kam ihm die seltene Kraft seines Gedächtnisses zu Statten. Häufiges Vorlesen der Rollen genügte, um ihn des Memorirstoffes sicher werden zu lassen. Auf den Proben wurde jeder seiner Schritte auf das Genaueste berechnet. Aber trotz alledem wäre ein Weiterspielen nicht möglich gewesen ohne das bereitwilligste Entgegenkommen der Mitspielenden, das ihm denn auch im reichsten Maße zu Theil wurde. Nur durch ihre unausgesetzte Beobachtung seines Spiels läßt sich z. B. der Fall vermeiden, daß der Blinde während des Dialogs eine ungehörige Position einnimmt und wohl gar demjenigen den Rücken zuwendet, an den er gerade seine Worte zu richten hat. Auch erfreute sich Weilenbeck und erfreut sich noch der besonderen Gunst und warmen Theilnahme des Herzogs von Meiningen, mit welchem der Künstler, während er, um Heilung zu finden, in der Ferne weilte, eine lebhafte Correspondenz unterhielt und der ihn auch äußerlich durch Verleihung des sächsischen Hausordens ehrte, eines Schmucks von besonderem Werthe für einen Blinden, der ihn für Verdienste, in der Blindheit erworben, empfing.

Weilenbeck wird auch ferner seine Kunst üben. Er geht mit dem Plane um, in einer Anzahl von Stücken zu spielen, in welchen ein Blinder die Hauptrolle hat. Diesem Zwecke sollen zunächst eine Bearbeitung des alten guten französischen Volksstücks „Das Weib des Soldaten“ und eine Dramatisirung des Max Ring’schen Romans „John Milton“ entsprechen.

Als Künstler ein Charakterdarsteller, ist Weilenbeck auch als Mensch ein Charakter. Er trägt sein Schicksal mit Muth und Ergebung. Mancherlei Widriges, das ihn neuerdings heimgesucht, eine langwierige Krankheit seiner treuen Pflegerin, an die er seit sechs Jahren gewöhnt war, das ihn oft peinigende Bewußtsein des Alleinstehens in der Welt, die bange Sorge um die spätere Zukunft des durch äußere Glücksgüter nicht gesegneten Mannes, all’ das und manches Andere hat seinen alten Humor nicht zu brechen vermocht. Eine gewisse nervöse Erregbarkeit, die sich leicht seiner bemeistert, ist die Eigenschaft aller Erblindeten – um wieviel natürlicher ist sie bei einem erblindeten Schauspieler! Zu der Lebhaftigkeit seines Geistes, zu der Fülle seiner Kenntnisse, zu seiner reichen Erfahrung und seiner seltenen Erzählergabe, die ihn zu einem anregenden und liebenswürdigen Gesellschafter machen, gesellt sich die Bescheidenheit seines Wesens. Vielleicht sieht er sich selber später einmal veranlaßt, sein reich bewegtes Leben zu schildern; eine Biographie Joseph Weilenbeck’s, des blinden Veteranen der Schauspielkunst, würde in künstlerischer, wie in psychologischer Beziehung von Interesse sein. Was in diesen Zeilen aus seinem Leben mitgetheilt ist, mußte förmlich von ihm erobert werden. „Es dürfte,“ schrieb er, „eine Anforderung der Bescheidenheit sein, daß meine Person in den Hintergrund tritt; Hauptsache bleibt das Merkwürdige der Erscheinung, daß ein blinder Mann weiter spielt, nicht weil es ihm eine Befriedigung der Eitelkeit ist, sondern weil ihn ein höheres, unerklärbares Etwas dazu treibt und ihm auch die Kraft verleiht, das Seltene, man kann wohl sagen: das Unglaubliche zu vollführen.“ Max Remy.


Der Mann im Monde.

Von Moritz Busch.

Wie von vielen anderen Dingen, so weiß das Volk auch von den Erscheinungen am Himmel mancherlei, was Leuten, die sich für gescheidter halten, unbekannt ist. Es weiß, z. B., daß, wo Sternschnuppen hinfallen, ein Schatz liegt, daß die Milchstraße die Leiter ist, auf der Jakob im Traume die Engel auf- und absteigen sah, und daß die drei aneinander gereihten Sterne, welche den Gürtel des Orion bilden, nichts Anderes sind, als der Wunderstab, mit dem Moses das rothe Meer theilte. Wohlbegründete Thatsachen sind ihm, daß die Sonne beim Aufgehen am Ostermorgen drei Freudensprünge thut, und daß sie, am Neujahrstag roth aufgehend, Krieg weissagt, und ebenso verbürgt ist ihm, daß der Regenbogen mit seinen beiden die Erde berührenden Enden stets über zwei Gewässern steht, aus denen er mit zwei goldenen Schüsseln schöpft.

Nun hat der nachdenkliche Sinn, der diese Wahrheiten heraus gefunden, natürlich auch über den Mond nachgesonnen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_806.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)