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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


gebar die Lea einen Knaben, aber er starb nach sechs Tagen. Der Arzt meinte, an einem Gehirnschlag, wie er bei Neugeborenen so oft eintritt. Lea zerfloß in Thränen, aber als der Rabbi nun selber kam und seine einstige Frage wiederholte, sagte sie auch diesmal kurz und fest. „Nein, Rabbi!“

Im nächsten Sommer fühlte sich Lea zum dritten Male Mutter. Die Erinnerung an ihre beiden schmerzlichen Verluste durchzitterte sie unablässig und ward ihr zur bangen Ahnung. Aengstlich wachte sie über sich und Ruben wich kaum mehr von ihrer Seite. Aber als der Versöhnungstag herankam, da ließ sie sich’s trotz seiner Abmahnung und trotz des ärztlichen Verbots nicht nehmen, den ganzen Tag fastend in der alten Betschule zuzubringen.

Das sollte ihr zum Verderben werden. Es herrscht an diesem Tage in der alten Betschule, in welcher auch sonst die Luft just nicht mit Arabiens Wohlgerüchen geschwängert ist, eine fürchterliche, verpestete Schwüle, erzeugt durch die unzähligen Wachskerzen und die Ausdünstung so vieler Menschen, welche da so lange Stunden beten, weinen und leider auch schwitzen. Es war also eine Atmosphäre, in der auch der gesündeste Mensch hätte ohnmächtig werden können, um so mehr ein zartes Weib in solchem Zustande, wie damals Lea. Die Sinne vergingen ihr – mit einem leisen Angstschrei sank sie vom Betschemel.

Die Weiber drängten herbei und mühten sich um sie. Sie lösten ihr die Kleider und brachten der Ohnmächtigen zwanzig Riechfläschchen zugleich an die Nase.

Aber plötzlich stoben sie blitzschnell auseinander – ein hundertstimmiger, gellender Schrei – und dann wieder Stille, die Stille tiefsten Entsetzens.

Der „Scheitel“ der Lea hatte sich verschoben und darunter quoll das zusammengedrückte Goldhaar unwiderstehlich hervor und legte sich wie eine lichte Wolke um das todtenblasse, schöne Antlitz.

Das war das Geheimniß der Lea gewesen.

Was nun folgte, läßt sich nicht beschreiben, kaum andeuten. Die Stille wich wildem Zetern, Fluchen und Toben. Blitzschnell durchzog die Kunde auch jenen Raum, wo die Männer beteten, und übte hier gleiche Wirkung. Zuerst standen Alle wie gelähmt über den ungeheueren Frevel. Und dann brach die Wuth ungemessen los, und unter wilden Verwünschungen drängten die Rasenden in die Weiberschul’. Hätte die Lea soeben gestanden, daß sie ihre Kinder selbst getödtet – und Kindesmord gilt unter den Juden als gräßlichstes Verbrechen, ärger als Vatermord – die Wuth hätte kaum größer sein können. Aber in den Augen der Verblendeten hatte ja das Haar der Lea in der That dieses stumme, furchtbare Geständniß abgelegt.

Es war am heiligsten Tage des Jahres, und Jene, gegen welche die Wuth sich richtete, war ein schwaches Weib in einem Zustande, der den Rohesten zu zügeln vermag. Gleichwohl läßt, sich nicht übersehen, wozu damals der fromme Wahn die Verblendeten hätte führen können. Aber da drängte Ruben wild durch die Reihen. Schmerz und Zorn verzehnfachten seine Kraft; er hob die Ohnmächtige auf den linken Arm wie ein Kind – mit dem rechten bahnte er sich einen Weg durch die Menge, daß Alles, was ihm entgegenstand, nach rechts und links auseinanderflog. So stürmte er die Treppe hinab und durch die Gassen heim, von Flüchen und Verwünschungen verfolgt; das Haar des Weibes umpeitschte im Octoberwinde sein furchtbar blasses Gesicht, aus dem die Augen glühend, wie im Wahnsinn starrten.

Es gelang bald, die Ohnmächtige zu erwecken, aber als sie um sich schaute und ihr gelöstes Haar erblickte, schrie sie gellend auf und verfiel in heftige Krämpfe. Der Arzt eilte herbei, aber er vermochte nur das Leben der Mutter zu wahren, nicht das junge Leben, das in ihr keimte. Und am nächsten Morgen konnten die Juden von Barnow einander erzählen, daß sich das Gericht Gottes zum dritten Male an der Sünderin erfüllt.

Ruben war wie versteint im Schmerz. Und als er an demselben Morgen vor des Rabbi Gericht entboten ward, da ging er so unbewegt dahin, als ginge ihn die Sache eigentlich nichts an. Auch auf die Verwünschungen, mit denen man ihn empfing, hatte er keine Antwort und gab im Verhör kurzen und unerhört verwegenen Bescheid. Er ward gefragt, ob er um den Frevel seines Weibes gewußt? Er habe darum gewußt. Warum er die Sünde geduldet? Weil es in seinen Augen keine Sünde sei. Ob er nun Gottes Strafgericht erkenne? Nein, denn er glaube an einen allweisen, allgütigen Gott. Ob er nun wenigstens seinem Weibe den sündigen Schmuck vom Haupte schneiden wollte? Nein, weil das gegen sein Versprechen als Bräutigam wäre. Ob er die Strafe kenne, der er entgegengehe? Er kenne sie und werde sie abzuwehren wissen.

Diese Strafe ist der „große Cherem“, der strenge Bann, die herbste Strafe, welche die Gemeinde über eines ihrer Glieder verhängen kann. Wen man in den „Cherem“ gethan, der ist vogelfrei; es ist keine Sünde, sondern ein Verdienst, ihn an Gut und Leben zu schädigen. Nur in feindlichster Absicht darf man seinen Leib oder eine Sache, die ihm gehört, berühren; nur wer ihn verderben will, darf dieselbe Luft athmen, wie der Verdammte. Der „Cherem“ löst die heiligsten Bande, und was sonst schlimme Versündigung, wird hier zum frommen Gebot: die Gattin darf den Gatten verlassen, der Sohn die Hand gegen den Vater erheben. Es ist ein Krieg Aller gegen Einen, ein erbarmungslos geführter Krieg, in welchem alle Mittel gelten. Keine Liebe, keine Freundschaft kann es wagen, den Ring furchtbarster Vereinsamung, Verachtung und Gemiedenheit zu durchbrechen, welcher um den Gebannten gezogen ist. Es ist ein unerträgliches Schicksal, welches den starrsten Willen zu brechen vermag. Wer im „Cherem“ ist, beeilt sich gewöhnlich, schnellstens seinen Frieden mit dem Rabbi zu machen – um jeden Preis, selbst um den der Selbstachtung.

Dem Ruben erschien dieser Preis zu hoch. Wohl ward er durch die Strafe doppelt hart getroffen, denn sie legte auch die Axt an seinen Erwerb: der Kramladen stand verödet. Aber er beugte sich nicht und suchte da Schutz, wo man ihm solchen zu gewähren verpflichtet war, beim k. k. Bezirksgerichte. Der „Cherem“ ist als Erpressungsmittel strafbar, und im besten Falle, wenn er aus guten Gründen verhängt wird, bleibt er ein frecher Eingriff in das Justizrecht des Staates. Der Bezirksrichter von Barnow, Herr Julko von Negruß, hatte in der Sache auch sicherlich den besten Willen und that, was er konnte. Aber er konnte naturgemäß nicht viel thun. Er leitete die Untersuchung gegen den Rabbi ein und strafte jede Beschimpfung oder Schädigung, welche Ruben von einem nachweisbaren Urheber angethan wurde. Aber in den meisten Fällen barg sich die Tücke im Dunkel der Nacht, und die strafgerichtliche Verfolgung des Rabbi mehrte noch die fromme Wuth. Und was vollends den Kramladen betrifft, so konnte auch der Bezirksrichter Niemand dazu anhalten, seinen Zucker und Kaffee beim Rathhauser zu holen.

Der Krieg dauerte den Winter über und in den Frühling hinein. Im April war der Rabbi auf sechs Wochen eingesperrt worden. Als er frei wurde, feierte die Gemeinde das festliche Ereigniß durch eine Beleuchtung und indem sie dem Ruben die Fenster einwarf. Sonst änderte sich nichts; der Mann beugte sich nicht. Er verarmte sichtlich; sein Schwiegervater ließ nicht ab zu flehen und zu beschwören, aber Ruben beugte sich nicht. Ja, noch mehr, die Lea, welche sich in jenem schrecklichen Winter um alle Schönheit und Frische gegrämt, fühlte sich im Frühling wieder Mutter und flehte der Gatten nun selbst an, den verhängnißvollen Schmuck ablegen zu dürfen. Vielleicht, meinte das arme Weib, könne das wirklich dem jungen Leben schaden. Aber Ruben schüttelte finster das Haupt: „Es bleibt dabei. Du behältst Dein Haar. Und wenn es einen Gott giebt, so wird er uns nicht verlassen und ich werde siegen.“

Es ist in den meisten Fällen für den lieben Gott recht gefährlich, wenn man in solcher Weise die Frage nach seiner Existenz stellt. So auch hier. Ruben ist unterlegen. Und was nun folgt, davon habe ich die Empfindung, als ob ich es nur sehr kurz erzählen müßte.

Im November gebar die Lea wieder einen Knaben. Das Kind war frisch und gesund, auch die Mutter befand sich leidlich wohl. Sechs Tage waren verstrichen. Da versammelte der Rabbi seine Getreuesten. „Der Vater ist ein Cherem; die Mutter trägt ihr eigen Haar. Aber das Kind ist schuldlos. Sehen wir wieder thatlos zu, so muß das Kind sterben, wie sein Brüderchen starb, weil die Sünde der Mutter fortwährt.“

So sprach der Rabbi. Das heißt: es steht zu vermuthen, daß er es war, der so sprach. Der Urheber der grauenvollen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 788. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_788.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)