Seite:Die Gartenlaube (1876) 784.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


nachzukommen, und ließ drüben auf dem Gutshofe die nöthigen Anstalten zur Unterkunft der Verwundeten treffen. Er ging selbst in Begleitung des Unterofficiers hinüber.

Die Fürstin war inzwischen allein zurückgeblieben. Sie hatte die Nachricht nicht gehört und von der Meldung, die ihren Sohn abrief, keine Notiz genommen – es waren ganz andere Gedanken, die sie beschäftigten.

Was nun? Diese Frage erhob sich immer wieder wie ein drohendes Gespenst, das sich nicht bannen läßt; hinausgeschoben konnte die Entscheidung wohl werden, aber damit wurde sie nicht aufgehoben. Die Fürstin kannte ihre Söhne hinreichend, um zu wissen, was zu erwarten stand, wenn sie sich als Feinde begegneten, und Todfeinde mußten sie von dem Augenblicke an werden, wo Leo die Wahrheit entdeckte. Er, dessen Eifersucht schon bei einem ersten unbestimmten Verdachte aufflammte, daß sie ihn fast seiner Pflicht abwendig machte, wenn er jetzt erfuhr, daß der Bruder ihm in der That die Liebe seiner Braut geraubt hatte, wenn Waldemar’s nur äußerlich gebändigte Wildheit bei dem Streite mit ihrer alten Macht hervorbrach – die Mutter bebte zurück vor dem Abgrunde, der sich mit diesem Gedanken vor ihr aufthat. Sie wußte, daß sie dann machtlos sein würde, auch ihrem Jüngstgeborenen gegenüber, daß in diesem Punkte ihre Gewalt über ihn zu Ende war. Waldemar wie Leo hatten das Blut ihrer Väter in den Adern, und welche Contraste Nordeck und Fürst Baratowski auch sonst gewesen sein mochten, in einem waren sie gleich, in der Unmöglichkeit, die einmal aufgereizten Leidenschaften zu zügeln.

Die Thür des Nebengemaches wurde geöffnet. Vielleicht kehrte Waldemar zurück; er war ja mitten aus der Unterredung abgerufen worden, aber der Schritt war schneller, unruhiger als der seinige. Jetzt rauschten die Falten der Portière, die von dem Eintretenden hastig bei Seite geschoben wurden, und mit einem Schrei des Schreckens und der Freude fuhr die Fürstin von ihrem Sitze empor.

„Leo! Du hier!“

Fürst Baratowski lag in den Armen seiner Mutter. Er erwiderte die Umarmung wohl, aber er hatte kein Wort des Grußes. Schweigend und heftig preßte er sie an sich; die Bewegung verrieth nichts von der Freude des Wiedersehens.

„Woher kommst Du?“ fragte die Fürstin, bei der schon im nächsten Augenblicke die Besinnung und damit auch die Besorgniß die Oberhand gewann. „So plötzlich, so unerwartet! Und wie kannst Du so unvorsichtig sein, bei hellem Tage in das Schloß zu kommen? Du weißt ja, daß Dir hier überall die Verhaftung droht. Die Patrouillen streifen durch unser ganzes Gebiet. Warum wartest Du nicht bis zum Eintritte der Dunkelheit?“

Leo richtete sich aus ihren Armen empor. „Ich habe lange genug gewartet. Seit gestern Abend bin ich fort – die ganze Nacht habe ich wie auf der Folter gelegen; es war unmöglich, die Grenze zu passiren – ich mußte mich verborgen halten. Endlich beim Tagesgrauen gelang es mir hinüber zu kommen und die Wälder von Wilicza zu erreichen – und dann kostete es neue Anstrengung, bis ich das Schloß gewann.“

Er stieß das alles aufgeregt und abgebrochen hervor. Die Mutter sah erst jetzt, wie bleich und verstört er aussah. Sie zog ihn fast gewaltsam auf einen Sessel nieder.

„Erhole Dich! Du bist zu Tode erschöpft von dem Wagniß. Welche Tollkühnheit, Leben und Freiheit auf’s Spiel zu setzen um eines kurzen Wiedersehens willen! Du mußtest Dir doch sagen, daß bei uns die Angst um Dich jede Freude überwiegt. Ich begreife überhaupt nicht, wie Bronislaw Dich fortlassen konnte. Ihr seid ja mitten in Kampfe.“

„Nein, nein,“ fiel Leo ein. „In den nächsten vierundzwanzig Stunden geschieht nichts. Wir sind genau unterrichtet über die Stellungen des Feindes. Uebermorgen, morgen vielleicht kommt es zur Entscheidung; bis dahin ist Ruhe. Wenn ein Kampf bevorstände, würde ich nicht hier sein, so aber mußte ich nach Wilicza, und hätte es mir auch Leben und Freiheit gekostet.“

Die Fürstin sah ihn unruhig an. „Leo, Du hast doch Urlaub von Deinem Oheim?“ fragte sie plötzlich, wie von einem unbestimmten Verdacht ergriffen.

„Ja – ja!“ stieß der junge Fürst heraus, aber er vermied es, die Mutter dabei anzusehen. „Ich sage Dir ja, daß alles gesichert, alles vorhergesehen ist. Ich stehe mit meinem Commando in den Waldungen von A. in völlig gedeckter Stellung. Mein Adjutant hat einstweilen den Oberbefehl, bis ich zurückkomme.“

„Und Bronislaw?“

„Der Onkel hat die Hauptmacht bei W. zusammengezogen, ganz dicht an der Grenze. Ich decke ihm mit den Meinigen den Rücken. Aber nun laß mich, Mutter, frage nicht weiter! – Wo ist Waldemar?“

„Dein Bruder?“ fragte die Fürstin, befremdet und erschreckt zugleich, denn sie begann den Zusammenhang zu ahnen. „Kommst Du etwa seinetwegen?“

„Waldemar suche ich,“ brach jetzt Leo mit furchtbarem Ungestüm aus. „Ihn allein und sonst Keinen! Er ist nicht im Schlosse, sagt Pawlick, aber Wanda ist hier. Also hat er sie wirklich nach Wilicza gebracht, wie eine eroberte Beute, wie sein Eigenthum, und sie hat das geschehen lassen? Aber ich werde ihm zeigen, wem Wanda gehört, ihm – und ihr.“

„Um Gotteswillen, Du weißt –?“

„Was auf der Grenzförsterei geschehen ist, ja, das weiß ich. Osiecki’s Leute stießen gestern zu mir; sie brachten mir Bericht über das, was sie mit angesehen. Begreifst Du nun, daß ich um jeden Preis nach Wilicza mußte?“

„Das habe ich gefürchtet,“ sagte die Fürstin leise.

Leo war aufgesprungen und stand nun mit flammenden Augen vor ihr. „Und Du hast das geduldet, Mutter, hast es mit angesehen, wie meine Liebe, meine Rechte mit Füßen getreten wurden, Du, die sonst Jeden beherrscht und zum Gehorsam bringt!? Zwingt denn dieser Waldemar Alles nieder? Giebt es Niemand mehr, der es wagt, sich ihm in den Weg zu stellen? Ich Thor, der ich mich damals beim Abschiede zurückhalten ließ, ihn zur Rede zu stellen und Wanda aus seiner Nähe fortzureißen, daß eine fernere Begegnung zwischen ihnen unmöglich war! Aber –“ hier ging seine Stimme in den bittersten Ton über – „mein Verdacht beleidigte sie ja, und Du und der Onkel rechneten mir meine ‚blinde Eifersucht‘ als ein Verbrechen an. Seht Ihr es nun mit eigenen Augen? Während ich auf Leben und Tod für die Freiheit und Rettung des Vaterlandes kämpfe, da setzt meine Braut ihr Leben ein für Den, der sich offen zu unseren Unterdrückern bekennt, der uns hier in Wilicza den Fuß auf den Nacken gesetzt hat, wie es nur je die Tyrannen da drüben gethan haben, da verräth sie mich, vergißt sie Vaterland, Volk, Familie, Alles, um ihn vor der Gefahr zu schützen, die ihn bedroht. Vielleicht versucht sie das auch mir gegenüber, aber sie mag sich wahren! Ich frage jetzt nichts mehr danach, wer von uns zu Grunde geht, er oder ich, oder sie mit uns Beiden.“

Die Fürstin faßte wie beschwörend seine Hände. „Ruhig, Leo! Ich bitte Dich, ich fordere es von Dir. Stürme Deinem Bruder nicht mit diesem wilden Hasse entgegen; höre mich erst an!“

Leo riß sich los. „Ich habe schon zu viel gehört, genug, um mich zur Raserei zu bringen. Wanda hat sich in seine Arme geworfen, als ihn Osiecki’s Kugel suchte, sie hat ihn mit ihrem eigenen Körper gedeckt, ihre Brust zu seinem Schilde gemacht, und ich soll noch zweifeln an dem Verrathe! Wo ist Waldemar? Er wird doch endlich zu finden sein?“

Die Mutter versuchte vergebens ihn zu beruhigen – er hörte nicht auf sie, und während sie noch überlegte, auf welche Weise es möglich sei, die verhängnißvolle Begegnung zu verhindern, geschah das Aergste, was überhaupt geschehen konnte: Waldemar kam zurück.

Er trat rasch ein und war im Begriffe, auf die Fürstin zuzugehen, als er Leo erblickte. Es war mehr als Ueberraschung, es war ein tödtlicher Schreck, der sich bei diesem Anblicke in den Zügen des älteren Bruders malte. Erbleichend maß er den Jüngeren vom Kopfe bis zu den Füßen, dann flammte es in seinem Auge auf wie Zorn und Verachtung, und langsam sagte er:

„Also hier bist Du zu finden?“

Leo’s Gesicht verrieth eine Art wilder Genugthuung, als er endlich den Gegenstand seines Hasses vor sich sah.

„Du hast mich wohl nicht erwartet?“ fragte er.

(Fortsetzung folgt.)

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 784. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_784.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)