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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Johann Christoph P…’s, Gutsbesitzers auf Boxfelde bei der altehrwürdigen Universitäts- und Handelsstadt Rostock im Mecklenburg-Schwerinschen Lande, oder richtiger: in die fidele Physiognomie „Onkel Krischoff’s“, denn der Zuname des alten Herrn war ihm im Lauf der Jahre vollständig abhanden gekommen, und Alt und Jung belegte ihn nur mit jenem verwandtschaftlichen Titel. Es gab freilich auch Leute, die ihn mit „Herr Amtsrath“ anredeten, die aber hielt sich Onkel Krischoff mit außerordentlicher Consequenz nachdrücklichst vom Leibe, denn es bestanden, wie der alte Schlaufuchs behauptete, „düsse schmeichelbaren Kre’turen zu neun Zehntheilen aus „Paradiesiten, die sich mit ihre Pumpventile an meinen Geldbüdel festsetten wollen.“

„Also auch zum Pfingstmarkt herüber gekommen, Onkel Krischoff?“ fragte ich den jovialen, lebenslustigen Herrn, was eigentlich eine durchaus überflüssige und thörichte Frage war. Denn wie wäre der Rostocker Pfingstmarkt, dieses heitere, buntbewegte Volksfest, denkbar gewesen ohne den Onkel Krischoff, den hier jedes Kind kannte, weil er jedem Kinde die Patschen voll Zuckernüsse und Honigkuchen stopfte, und nicht minder jeder Erwachsene, weil eben jeder Erwachsene einmal Kind gewesen und der Onkel Krischoff schon seit einer recht geraumen Reihe von Jahren das Geschäft als Naschkätzchen-Fütterer betrieb.

Es war „Am Strande“ – bei der Einmündung der Grubenstraße oder doch ganz in der Nähe – wo ich den lustigen Kauz traf. Hinter dem „Großen Olimbyschen Cirgus“, in welchem heut Abend die Vorstellungen beginnen sollten, hatte er eine defecte Stelle in der Leinwand-Umzäunung ausgewittert, und durch diese – wie Pyramus „durch’s Loch von solcher garst’gen Wand“ – seine Visage geschoben, um doch auch einmal „hinter die Coulissen“ einer Reiterbude einen Blick zu werfen. Vor diesen „Coulissen“ fehlte Onkel Krischoff natürlich nie, so lange der rothe Wimpel auf der Zeltspitze flatterte und – nota bene – so oft Frau Kaatschen, die Wirthschafterin dem alten Herrn Urlaub ertheilte. Der Gutsherr von Boxfelde hat nämlich einen bedeutenden „Pferde-Verstand“, und es kann auf Gottes weiter Welt keinen Menschen geben, der über die Späße der Clowns „luudhals’ger“ zu lachen vermag, als Onkel Krischoff.

„Nu seh’n Sie blos diesen spaßigen Kerl mit die Apen – mit die Affenjacke!“ wiederholte der alte Herr, und zwar diesmal in einem wunderschönen selbstgemachten Hochdeutsch. Onkel Krischoff hielt nämlich, gleich Fritz Reuter’s unsterblichem „Entspector Bräsig“, sehr auf Sprachreinlichkeit, wenn er sich „ün der guten Gesellschaft“ befand, und nur unter zwei Augen, „mang die Tüftenbuddlers to Huus“ oder wenn er „bi Mau oder Theophil Zorawsky“ dem Rothspohn zu stark gehuldigt, zog er die Schleuße für’s Platt, das ihm übrigens bei weitem kleidsamer zu Munde stand als das elegante „Messingsch“.

Onkel Krischoff brauchte mir seinen Lugaus gar nicht einzuräumen, wie er es in einem Anfall von Galanterie eben zu thun im Begriff stand; ich fand unschwer dicht daneben noch einen zweiten Durchbruch in dem Umfriedigungs-Gespinnst, und nun guckten wir Beide um die Wette recht seelenvergnügt in diese lustige kleine Vagabondenwelt hinein. –

Ich habe von meiner frühesten Jugend an eine unwiderstehliche Neigung für jegliche Gattung Kunst-Zigeuner gehabt, ob sie sich nun Akrobaten, Seiltänzer, „wilde Männer“, Feuerfresser, Affentheaterdirectoren, Herculesse, Somnambulen, Thierbändiger, Puppenspieler oder Riesendamen betiteln. Und mein Interesse war keineswegs immer nur ein passives; ich entsinne mich aus meiner frühesten Kindheit noch genau genug eines directen Eingreifens meines Persönchens in die scenischen Vorgänge einer affentheatralischen Tragödie. Man gab die Erstürmung von Kakomirum, und während im Hintergrunde die auf einem uneinnehmbar scheinenden Pappkegel belegene Veste in die Pfoten der tapfer anstürmenden Hunde-Armee fiel, wurde vorn, dicht an der Rampe, gegen einen schönen weißen Pudel – vermuthlich wegen irgend eines unbedeutenden Insubordinationsfehlers – kriegsgerichtlich verfahren und der Inculpat frischweg zu Pulver und Blei verurtheilt. Indessen man hatte sich Seitens des äffisch-pudelnärrischen Militär-Commandos die Execution leichter vorgestellt, als sie in der That werden sollte. Kaum hatte sich der arme Sünder mit verbundener Schnauze (die Augenbinde pflegt bei vierfüßigen Verurtheilten sehr bald durch Abrutschungen ihrer ursprünglichen Bestimmung entzogen zu werden) resignirt auf die Hinterfüße gesetzt, die tödtliche Kugel erwartend, kaum legte ein etwas krummbeiniger Pavian, ergriffen von männlicher Rührung um den Verlust eines so braven Officiers, die Feuerwaffe an, als vom Auditorium her eine kräftige, wenn auch ziemlich hoch veranlagte Knabenstimme mit höchster Energie Einspruch gegen die Vollstreckung des Blutbefehls erhob, und diese Stimme war die meinige. Vergebens suchten mich meine Angehörigen durch Wort und That zu beruhigen; vergebens wurde mir von verschiedenen Seiten die Gefahrlosigkeit besagter Execution auseinandergesetzt: ich blieb bei meinem Protest, und als dessen ungeachtet der kleine zitternde Henker losdrückte und der Delinquent hintenüber direct in einen schwarzen zweiräderigen Todtenkarren hineinpurzelte, nahm dieser Protest, namentlich durch die Einstreuung unzweifelhaftester Verbal-Injurien, so bedeutende Dimensionen an, daß man mich im Interesse der allgemeinen Ordnung und Sicherheit auf den Flur beförderte, von wo aus meine helllauten Expectorationen für Abschaffung der Todesstrafe noch lange die Trommel- und Zwerchfelle der übrigen Zuschauerschaft nachvibriren ließen.

Lange, lange Jahre sind seitdem vergangen, und noch immer ist jene stolze Felsenburg das Ziel stürmender Pudel-Heere, noch immer muthen hartherzige Regiments-Commandeure aus dem Geschlecht Canis zart-besaiteten Mandrill-Gemüthern zu, auf das Herz eines Kriegscameraden zu zielen – nichts Wesentliches hat sich in dem Repertoire der Affenkomödie geändert in dieser weiten Spanne Zeit, in der doch auf anderen Gebieten so gar unendlich viel Neues und Erstaunliches zu Tage gefördert worden zum Wohle der leidenden Menschheit: der Hinterlader, das Rieselfeld, die Unfehlbarkeit, das Cri-Cri, das vertiefte Nibelungen-Orchester und das Königreich Serbien.

Und ein gleicher Conservatismus herrscht auch im Programm aller jener anderen Kunstwanderer und wird herrschen, meine ich, so lange die Welt steht, was allerdings – den Prophezeiungen des hochwürdigen und hochweisen Herrn von Charbonnal zufolge – keine allzu bedeutende Frist mehr bedeuten dürfte.

Freilich, die Großmächte unter diesen Kunst-Nomadenstämmen, die Circusse (oder auch Circen) von Renz, Ciniselli, Salamonsky und andere, haben ja einzelnen Zweigen ihrer equestrisch-akrobatischen Schaustellungen Blüthen von niegeahntem Dufte und blendender Farbenpracht abgewonnen; sie haben die Pferde-Pantomime erfunden und seit Kurzem sogar eine vierfüßige Feerie.

Aber die drei Hauptstützen ihrer lustigen und luftigen Kunsttempel sind doch immer noch dieselben wie zu Noah’s Zeiten – bekanntlich der erste reisende Menageriebesitzer – sind noch immer: die kühne Reifenspringerin Signora Camilla Nudelmeierini; der arabische Schimmelhengst Al Mansor, welcher „die Schule des Directors“ genossen und demzufolge das feinste Battisttaschentuch einer Dame der ersten Rangloge mühelos apportirt und das kleinste Silberstück aus dem großen Haufen … Erde in seinen Besitz zu bringen weiß; endlich – das Beste zuletzt! – der „Komiker“, der sich auch unter der glänzenden „Clown“-Hülle und trotz des klangvoll modernen „August“-Titels seinen alten biedern Hanswurstcharakter rein und fleckenlos bewahrte.

„Süh so, süh so! Das ist ja die vorjährige Miß Evolina von das Swungseil, die Kleine, Nette, wo sich da müt den brünetten Menschenbruder um die Ecke aus Muffrika so üntüm macht. Das ist ein staatsches Frugenzimmer – eine dralle Dame, wollte üch sagen, un dabei qualmt sie wü ein Schornstein Cügaretten – üch glaube, dü wird das arme Negerwurm den Kopp von inwendig noch mit eine vül swärzere Calür anräuchern, als wü er ihr schon von die äußere Natürlichkeit besitzt.“ – Onkel Krischoff zwinkerte dabei seelenvergnügt mit den grellen grauen Aeuglein und bohrte mit seinem linken Ellenbogen unwiderstehlich auf meine rechte Seite los.

Trotz der frühen Tagesstunde ging’s schon äußerst lebhaft zu „hinter den Coulissen“; Außerordentliches – und Circus-Vorstellungen sind gewöhnlich „außerordentlich“ – verlangt auch eine außerordentliche Folie: die dem Unternehmen neugewonnenen Kräfte sollten während des Vormittags noch eine Probe im Costüm haben. Aus dem kräftigen Schalle der equestrischen Regieklingel, der Peitsche, nahmen wir ab, daß die Exercitien in der großen Leinwandrotunde bereits begonnen hatten; nur eine säumige Sylphide beendete noch im Freien ihre Toilette unter Mithülfe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 770. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_770.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)