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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Freiheit, welche ihr zugestanden war, durch deren Gebrauch sie aber stets fürchtete, den Genius zu verscheuchen. Vielleicht war es diese an ihr gewohnte Zurückhaltung, welche den Künstler nach einiger Zeit zu ihr umschauen ließ, obgleich sie ihn nicht durch die leiseste Bewegung an sich erinnerte.

„Ich störe Sie – Vergebung!“ sagte Valentine, und zog sich, trotz seines ermuthigenden Kopfschüttelns, zurück nach der nahen Bank. Obgleich sie dort eine leichte Näherei zur Hand nahm, wanderte doch ihr Auge oft von der Arbeit fort und hing an Himmel und See. Die Abtei der Herreninsel stand in vollem Sonnenglanze. Harmonische Ruhe erfüllte das einfache und doch so großartige Bild, welches sich hier von dem stillsten aller Plätzchen aus darbot. Sie mochte zuletzt über dem Sinnen und Schauen Zeit und Ort ganz vergessen haben, denn die Arbeit ruhte müßig in ihrem Schoße, und sie schrak leicht zusammen als nach geraumer Pause Bernardin’s Stimme sich dicht an ihrem Ohr vernehmen ließ: „Fertig! – Ich hatte Sie kaum so früh erwartet.“

Das Fräulein rückte auf der Bank ein wenig weiter, um dem Freunde neben sich Platz zu machen: „Und nun, was haben Sie mir zu berichten? Wissen Sie wohl, daß es Ihnen geglückt ist, mich neugierig zu machen? Gestern Abend bleiben Sie nach Ihrer Ankunft stundenlang in meiner Gesellschaft, erzählen, wie es einem Reisenden geziemt, von Allem, was sich binnen einer Woche unserer ereignißvollen Zeit erleben läßt, und sagen mir dann an der Hausthür mit stillem Theaterflüstern, daß Sie mich heute zu sprechen wünschen – das hat Großes zu bedeuten.“

Bernardin erwiderte ihr Lächeln, ohne doch auf ihr Scherzwort einzugehen. „Ich habe Ihnen in der That etwas zu sagen, Valentine.“ Sein tiefes Auge verweilte einen Moment mit eigenthümlichem Ausdruck auf ihrem Gesicht, dann lehnte er sich gegen den Weidenstamm zurück, verschränkte die Arme und fuhr fort, ohne sie anzusehen: „Gleich am ersten Tage, als ich nach München kam, hatte ich Veranlassung, Herrn von Rother zu besuchen. Man forderte mich auf, den Abend über zu bleiben, und es fanden sich noch einige Personen ein, darunter ein mir Unbekannter, welcher mir als kürzlich berufener Professor der Münchner Universität bezeichnet wurde. Dieser noch junge Mann interessirte mich sogleich durch seine bedeutende Persönlichkeit, und wir unterhielten uns viel mit einander. Im Verlaufe des Abends fragte mich Frau von Rother über den Tisch hinweg nach Ihrem Ergehen. Völlig unbefangen, wie ich war, konnte ich trotzdem nicht übersehen, daß Professor Hartung, mit dem ich eben sprach, als diese Frage an mich gerichtet wurde, jäh die Farbe wechselte. Ja, Valentine – Dieser ist es, über welchen ich mit Ihnen zu sprechen habe,“ sagte er mit festen Blick in seiner Gefährtin ernstes Gesicht. „Erlauben Sie mir, fortzufahren?“

Valentine nickte nur.

„Ich weiß kaum, wie es zuging,“ fuhr Bernardin fort, „aber in demselben Moment schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich hier den Mann vor mir sähe, von dem Sie mir einst gesprochen, ohne ihn mir zu nennen. Während ich die Frage der Dame eingehender beantwortete, als es sonst wohl geschehen wäre, beobachtete ich meinen Nachbar. Da der kleine Kreis meist aus Ihren Bekannten bestand, bewegte sich das Gespräch eine Zeit lang um Sie und Ihren Vater; der Professor verhielt sich dabei wie ein Fremder und blieb auch von diesem Augenblicke an einsilbig, als man aber auseinander ging, fragte er bei mir an, ob er mich im Atelier aufsuchen dürfe. Schon am folgenden Morgen fand er sich dort ein, und ich leugne nicht, daß seine Persönlichkeit großen Reiz auf mich übte, trotz des Vorurtheils, welches meine Vermuthung mich gegen ihn hatte fassen lassen. Wir sahen uns während der Woche meines Dortseins täglich, bald Abends am dritten Orte, bald im Hôtel bei Tische, woran sich meist ein gemeinsamer Spaziergang schloß. Er suchte unverkennbar meine Gesellschaft, und ich ließ mich finden. Gestern nun kam er des Morgens zu mir in das Atelier; er wußte, daß ich Nachmittags hierher zurückkehren würde, und begrüßte mich sogleich mit dem Worte, daß er sich nicht nur verabschieden, sondern mich um eine Gefälligkeit ersuchen wollte. Ganz gelassen sagte er mir dann, daß er in früherer Zeit die Ehre genossen, Ihrem Hause näher zu stehen, daß ein Zerwürfniß, dessen Schuld einzig auf seiner Seite gelegen, ihn dieses Vorzugs beraubt habe und daß ihm nun der Gedanke peinlich sei, Ihnen, vielleicht wider Ihren Wunsch, zu begegnen, nachdem er ohne sein Zuthun die gleiche Stadt mit Ihnen bewohnen und sich in gleichen Kreisen bewegen würde. Er habe sich deshalb erlaubt, einige Zeiten an Sie zu richten, wodurch er sich, wenn nicht Ihre Vergebung, doch eine Richtschnur für sein Verhalten erbitten wolle, und wünschte dieselben durch eine Ihnen befreundete Hand an Sie zu übergeben, da er befürchten müßte, einen Brief durch die Post uneröffnet zurück zu erhalten.“

„Was antworteten Sie?“ fragte Valentine nach einer Pause, kaum hörbar.

„Natürlich konnte es mir nicht in den Sinn kommen, ein Vertrauen, welches Sie mir einst gönnten, auch nur durch eine Andeutung zu berühren; um so weniger, als meine Vermuthung zwar bestärkt, aber doch nicht unbedingt bestätigt worden war. Wie Sie gegenwärtig denken, Valentine, weiß ich nicht. Nach Ihrem Wunsch ist jenes Thema nicht wieder zwischen uns berührt worden. Ein im Grunde einfaches Ersuchen, das mir in ruhiger, würdiger Form ausgesprochen war, zurückzuweisen, hatte ich weder Ursache noch Recht; ich stimmte also zu ohne jede Bemerkung über die erhaltene Mittheilung, und hier übergebe ich Ihnen, was mir anvertraut worden.“ Er nahm einen versiegelten Brief aus seiner Brusttasche und legte ihn auf das Tischbrettchen vor Valentine nieder.

Sie blickte wortlos auf die festen, charakteristischen Schriftzüge der Adresse, ohne den Brief zu berühren. Feines Roth stieg ihr langsam bis zu den Haarwurzeln; in ihrem Auge ging ein wunderbares Glänzen auf. Bernardin warf einen schnellen Blick auf sie und machte dann eine Bewegung, um aufzustehen und sie allein zu lassen, doch hielt sie ihn durch leise Berührung seines Armes neben sich zurück:

„Bleiben Sie noch, lieber Freund! Ich möchte Ihnen Manches sagen. Dies kam überraschend – was ich Ihnen aussprechen möchte, ist aber allmählich gekommen. Es bedarf dazu nicht erst einsamen Besinnens. So wissen Sie denn vor Allem: Sie haben mir tiefe Freude, Sie haben mir eine Wohlthat gebracht.“

Bernardin blickte überrascht in ihr belebtes Gesicht.

„Was dieser Brief auch enthalten mag, jedenfalls bringt er mir das, was ich als einzige persönliche Gabe in jüngster Zeit oft vom Schicksale erfleht hatte, ohne doch auf Gewährung hoffen zu können; jedenfalls ist er die Brücke zur inneren Harmonie, die mir abhanden gekommen war. Oft schon war ich in Versuchung, mit Ihnen hierüber zu sprechen und doch wollte es so schwer über die Lippen – manches, was man klar empfindet, wird so anders, wenn es sich in Worte übersetzen soll.“ Sie hielt inne und schlug dann das seelenvolle Auge frei zum Freunde auf. „Es in Ihnen doch wohl befremdlich erschienen, daß Hartung voraussetzte, ein Brief an mich könnte uneröffnet an ihn zurückgehen? Nach so langer Zeit! Dies beruht auf einem Vorfall, worüber ich gegen Sie schwieg. Vor einigen Jahren, kurz nachdem ich Ihnen von Hartung gesprochen, führte uns ein Zufall auf der Reise mit ihm in das gleiche Hôtel. Ich wußte davon nichts, er hatte uns aber anfahren sehen und sandte mir seine Karte mit der Anfrage, ob ihm ein Besuch gestattet sei. Ich ließ einfach zurücksagen, wir seien im Begriff weiter zu reisen. Er verstand, und blieb unsichtbar. Ich glaubte damals recht zu handeln. Ich wollte, konnte ihm nicht wieder begegnen. Was sollte uns ein Wiedersehen frommen? Dennoch hatte die Erinnerung seitdem einen Stachel mehr. Ungesprochene Worte lasten schwerer auf der Seele, als Alles, was gesagt werden kann. Stets hielt ich aber die Ueberzeugung aufrecht, daß ich es meiner Frauenwürde, meiner Ruhe schuldig gewesen, sie nicht auf das gewagte Spiel einer Stunde zu setzen, die mit Schwäche und Niederlage enden konnte. Ich bin keine Heldin, Bernardin, und weiß das gut. So vergingen wieder Jahre –“

„Und nun?“

„Nun!“ sagte Valentine lebhafter, „nun ist mir in diesen letzten Wochen gleichsam das Herz im Leibe gewendet worden, und regt sich und ruft und sehnt sich Tag und Nacht nur nach dem einen letzten Lebensziele, einem Worte der Versöhnung. – Wie sage ich Ihnen das nur? Sie wissen ja von Monika Huber, von der armen mir so lieben Frau, und daß ich es mir zur Aufgabe gemacht, sie aus ihrer Herzensbitterniß zur rechten Anschauung zu leiten. Ich habe auch Hoffnung des Gelingens.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 746. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_746.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)