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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


überhaupt Niemand thun – es wäre Verrath an unserer Sache. Was schrickst Du so zusammen vor dem Worte? Wie würdest Du es denn nennen, wenn dem Herrn von Wilicza schriftlich oder mündlich, durch die dritte oder vierte Hand, eine Nachricht zukäme, die ihm unsere Geheimnisse preisgiebt? Er würde vielleicht mit Bedeckung gehen, gehen aber würde er jedenfalls, um vor allen Dingen zu untersuchen, was die Warnung sagen will, sein eigenes Forsthaus nicht zu betreten, mit seinem Förster nicht zu sprechen, den er jetzt wegen eines Conflictes mit den Patrouillen zur Rede stellen will. Das würde uns die Grenzförsterei kosten. Wanda, die Morynski haben es bisher noch nicht zu bereuen gehabt, wenn sie die Frauen ihres Hauses zu Vertrauten ihrer Pläne machten. Noch hat sich keine Verrätherin unter diesen gefunden.“

„Tante!“ rief Wanda mit einem solchen Tone des Entsetzens, daß die Fürstin langsam ihre Hand von ihrem Arme zurückzog.

„Ich wollte Dir nur klar machen, was hier auf dem Spiele steht,“ fuhr sie fort. „Ich denke, Du wirst doch Deinem Vater in’s Auge sehen wollen, wenn er zurückkehrt. Wie Du Leo’s Blick Stand halten willst mit dieser Todesangst, die Dich jetzt verzehrt, und die Du vergebens zu verbergen suchst, das mußt Du mit ihm selber abmachen. Aber,“ hier brach die furchtbare innere Bewegung der stolzen Frau durch die erzwungene Kälte, „aber hätte ich je geahnt, daß meinem Sohne dieser Schlag droht, daß er ihm von Waldemar droht, ich hätte Leo’s unselige Liebe zu Dir aus allen Kräften bekämpft, statt sie zu begünstigen. Jetzt ist es zu spät für ihn – und auch für Dich; das hat mir diese Stunde gezeigt.“ –

Die Antwort blieb der jungen Gräfin erspart, denn jetzt kam Pawlick mit der Nachricht zurück, daß angespannt sei. Die Fürstin bedurfte nicht viel Zeit zu den Vorbereitungen. In zehn Minuten war sie reisefertig und bestieg den harrenden Schlitten. Der Abschied von ihrer Nichte war kurz und flüchtig; er fand in Gegenwart der Diener statt, und das vorhergehende Gespräch wurde nicht wieder berührt, aber Wanda verstand den Abschiedsblick, der dem ihrigen begegnete. Sie legte schweigend ihre feuchte, eiskalte Hand in die ihrer Tante, und die Fürstin schien zufrieden mit dem wortlosen Versprechen.

Gräfin Morynska war in das Zimmer zurückgekehrt. Sie hatte sich eingeschlossen, um einmal wieder frei aufzuathmen, aber es athmete sich nicht leicht mit dieser Bergeslast auf der Brust. Sie war endlich allein mit sich selber, aber auch mit ihrer Angst, die ihr ahnungsvoll die Gefahr zeigte, an welche die Mutter nicht glauben wollte. Freilich, der Instinct der Liebe gehörte dazu, und den hatte die Fürstin für ihren ältesten Sohn nie gehabt; der regte sich nur, wenn es sich um Leo handelte. Und hätte sie gewußt, daß jener Gang Waldemar’s Leben bedrohte, sie hätte ihn auch nicht mit einem Worte davon zurückgehalten, denn dieses Wort konnte ja ihre Parteiinteressen gefährden.

Wanda stand am Schreibtische, auf dem noch die Briefe ihres Vaters und Leo’s lagen. Eine kurze Warnung, nur ein paar Zeilen, auf das Papier geworfen und nach Wilicza gesendet, konnten Alles abwenden. Waldemar würde der Warnung folgen. Gleichviel, ob er es errieth oder nicht, von wem sie kam, er hatte ja versprochen, vorsichtiger zu sein, und kannte hinreichend die Stimmung auf seinen Gütern. Wenn er überhaupt noch ging, nahm er wenigstens hinreichende Begleitung mit sich, und dann wagte man sich nicht an ihn. Es konnte ihm ja nicht schwer werden, den Gehorsam zu erzwingen, sobald er sich nur entschloß, die Gewalt zu Hülfe zu rufen. Was da auf dem Gebiete der Grenzförsterei vorgegangen war, das streifte nahe an Rebellion. Es kostete dem Gutsherrn nur ein Wort, den Förster verhaften und das Forsthaus militärisch besetzen zu lassen, dann hatte er Ruhe.

„Und dann –?“ Die Fürstin hatte es klar genug überschaut und ausgesprochen, was hierauf folgte. Sie hatte dafür gesorgt, daß ihre Nichte über dieses „Und dann“ nicht hinauskam. Wanda war hinlänglich in die Pläne der Ihrigen eingeweiht, um zu wissen, daß die Grenzförsterei jetzt die Rolle spielte, die man früher dem Schlosse zugedacht. Alles, was Waldemar hier so streng verbannt hatte, geschah jetzt dort drüben, nur mit größerer Vorsicht und in größerer Heimlichkeit. Dort lagerte noch ein Theil des Waffenvorrathes; dort war die Verbindung, der Mittelpunkt für alle Nachrichten und Botschaften, und eben deshalb lag so viel an dem Bleiben des dortigen Försters, auf dessen Treue und Verschwiegenheit man unbedingt rechnen konnte. Seine Entfernung war gleichbedeutend mit dem Verluste des ganzen Postens. Das wußte er so gut wie seine Herrin, und deshalb waren sie entschlossen, es auf das Aeußerste ankommen zu lassen.

Nordeck selbst kam nur selten nach dem einsamen abgelegenen Forsthause. Er hatte zu viel mit Wilicza zu thun, um jenem eine besondere Aufmerksamkeit widmen zu können. Auch jetzt wollte er offenbar nur hinüber, um durch sein persönliches Erscheinen einen Widerstand zu brechen, wie er ihm öfter entgegentrat, und dem er keine besondere Wichtigkeit beilegte. Entdeckte er aber, daß man auf der Försterei seinen Befehlen offen Hohn sprach, daß hier systematisch der Widerstand gegen ihn organisirt wurde, so ging er schonungslos vor und entriß seiner Mutter auch diesen letzten Posten, wo sie Fuß gefaßt hatte, und die Entdeckung konnte nicht ausbleiben, sobald man ihm verrieth, daß ihm von dorther eine Gefahr drohe.

Das alles stand mit unerbittlicher Klarheit vor der Seele Wanda’s, aber eben so klar stand dort auch die Gefahr Waldemar’s. Sie hatte die unumstößliche Ueberzeugung, daß jene Kugel, die ihn kürzlich bedrohte, aus der Büchse des Försters gekommen war, daß der Mann, dessen fanatischer Haß sich bis zum Meuchelmorde verstieg, sich auch nicht bedenken werde, seinen Herrn niederzuschlagen, wenn dieser allein vor ihm stand, und sie mußte den Bedrohten gehen lassen, ungewarnt, vielleicht in den Tod gehen lassen. Verrath! Vor diesem furchtbaren Worte sank all ihre Willenskraft machtlos zusammen. Sie war von jeher die Vertraute ihres Vaters gewesen; er baute unbedingt auf seine Tochter und hätte mit Entrüstung den Gedanken von sich gewiesen, daß sie auch nur ein Wort von seinen Geheimnissen preisgeben könne, preisgeben, um einen Feind zu retten. Sie selbst hatte Leo mit ihrer Verachtung gedroht, als er in einer Aufwallung der Eifersucht zögerte, seiner Pflicht zu folgen; jetzt befahl ihr diese Pflicht, die ihn nur von der Seite der Geliebten in den Kampf riß, das Schwerste, schweigend und unthätig zuzusehen, wie die Gefahr hereinbrach, die sie mit einem Federzuge abwenden konnte, und diesen Federzug nicht zu thun.

All diese Gedanken stürmten in wildem Wechsel auf die junge Gräfin ein, die ihnen fast zu erliegen drohte. Sie suchte vergebens nach einem Auswege, einer Rettung. Immer wieder stand dieses furchtbare „Entweder – oder“ vor ihr. Wenn sie wirklich noch nicht gewußt hätte, wie es in ihrem Innern aussah, diese Stunde würde es ihr enthüllt haben. Seit Monaten wußte sie Leo in der Gefahr und hatte um ihn gebangt, wie um einen theuren Verwandten, wohl mit Angst, aber doch mit der gleichen Fassung und dem gleichen Heldenmuthe, wie die Mutter, jetzt aber galt es Waldemar, und jetzt war es vorbei mit der Fassung und dem Heldenmuthe – sie flohen vor der Todesangst, die Wanda bei dem Gedanken an seine Gefahr durchschauerte.

Aber es giebt einen Punkt, wo auch das wildeste, qualvollste Leiden der Betäubung weicht, auf Augenblicke wenigstens, weil die Kraft zum Leiden völlig erschöpft ist. Mehr als eine Stunde war vergangen, seit Wanda sich eingeschlossen hatte, und ihr Antlitz gab Zeugniß davon, was sie in dieser Stunde durchlebt hatte. Jetzt trat auch für sie einer jener Momente ein, wo sie nicht mehr kämpfen und verzweifeln, wo sie nicht einmal mehr denken konnte. Wie todesmatt warf sie sich in einen Sessel, lehnte das Haupt zurück und schloß die Augen.

Da tauchte leise wieder das alte Traumbild auf, das sich einst aus Sonnenglanz und Meeresrauschen gewoben und mit seinem Zauber die beiden jugendlichen Herzen umponnen hatte, die damals noch nicht ahnten, was es ihnen bedeutete. Seit jenem Herbstabende am Waldsee war es so oft wieder emporgestiegen und wollte sich mit aller Willenskraft nicht bannen und nicht verscheuchen lassen. War es doch auch vorgestern mit den Beiden gewesen auf der einsamen Fahrt durch die winterliche Landschaft. Es flog mit ihnen über das weite Schneegefilde; es dämmerte aus dem Nebel der Ferne und schwebte in dem düstern Wolkenzuge, der sich so tief herabsenkte – keine Oede, kein Eishauch hinderte sein Erscheinen. Auch jetzt stand es urplötzlich wieder

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