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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Am zweiten Tage nach ihrer Ankunft, in den Vormittagsstunden, saßen die beiden Damen in dem Zimmer der jungen Gräfin. Sie hatten soeben Nachrichten von den Ihrigen empfangen und hielten die Briefe geöffnet in der Hand, aber diese schienen wenig Erfreuliches zu bringen, denn Wanda sah sehr ernst aus, und die Miene der Fürstin war finster und sorgenvoll, als sie endlich die Zuschriften ihres Bruders und Leo’s aus der Hand legte.

„Wieder zurückgeworfen!“ sagte sie mit unterdrückter Bewegung. „Sie waren schon bis an das Herz des Landes vorgedrungen, und nun stehen sie wieder an der Grenze. Noch immer keine Entscheidung, kein nennenswerther Erfolg! Man möchte verzweifeln.

Wanda ließ gleichfalls das Blatt sinken, das sie in der Hand hielt. „Der Vater schreibt in sehr düsterem Tone,“ entgegnete sie. „Er reibt sich fast auf in dem ewigen Kampfe mit all den widerstreitenden Elementen, die er vergebens zusammenzuhalten sucht. Alles will befehlen, Niemand gehorchen; die Uneinigkeit wächst unter den Führern – was soll noch daraus werden!“

„Dein Vater läßt sich allzu sehr von dem düsteren Zuge beherrschen, der nun einmal in seinem Charakter liegt,“ beruhigte die Fürstin. „Es ist doch am Ende natürlich, daß ein Heer von Freiwilligen, das auf den ersten Ruf zu den Waffen eilt, nicht die Ordnung und Disciplin einer wohlgeschulten Armee haben kann. Das will gelernt und geübt sein.“

Wanda schüttelte trübe das Haupt. „Der Kampf währt nun schon drei Monate und auf jedes glückliche Gefecht haben wir drei Niederlagen zu verzeichnen. Jetzt verstehe ich erst die schmerzliche Bewegung des Vaters beim Abschiede; sie galt nicht der Trennung allein. Er ging schon damals ohne die rechte Hoffnung des Sieges.“

„Bronislaw hat von jeher Alles im Leben zu schwer genommen,“ beharrte die Fürstin. „Ich hoffte mehr von Leo’s steter Gegenwart und seinem Einfluß auf den Oheim. Er hat noch die volle Spannkraft und Begeisterung der Jugend; ihm heißt jeder Zweifel an dem Siege unserer Sache Verrath. Ich wollte, er konnte seine unerschütterliche Siegeszuversicht auch den Anderen mittheilen – es thut ihnen Noth.“

Sie zog den Brief ihres Sohnes wieder hervor und sah nochmals hinein. „Leo wird trotz alledem glücklich sein,“ fuhr sie fort. „Mein Bruder hat endlich seinen Bitten nachgegeben und ihm ein selbstständiges Commando anvertraut. Er steht mit seiner Schaar nur zwei Stunden von der Grenze entfernt – und die Mutter und die Braut dürfen ihn nicht auf eine einzige Minute sehen.“

„Um Gotteswillen, bringe Leo nicht auf solche Gedanken!“ fiel Wanda ein. „Er wäre im Stande, das Unsinnigste, Tollkühnste zu begehen, um ein Wiedersehen möglich zu machen.“

„Das wird er nicht,“ versetzte die Fürstin ernst. „Er hat strengen Befehl, nicht von seinem Posten zu weichen, und also bleibt er. Aber was schreibt er Dir denn eigentlich? Der Brief an mich ist sehr kurz und flüchtig; der Deinige scheint desto mehr zu enthalten.“

„Er enthält sehr wenig,“ erklärte die junge Gräfin mit sichtbarem Unmuthe. „Kaum das Nothwendigste von dem, was uns, die wir unthätig auf die Entscheidung harren müssen, das Wichtigste ist. Leo zieht es vor, mir seitenlang über seine Liebe zu schreiben, und findet mitten im Toben des Krieges noch Zeit genug, sich und mich mit seiner Eifersucht zu quälen.“

„Ein seltsamer Vorwurf in dem Munde einer Braut!“ bemerkte die Fürstin mit leisem Spotte. „Eine Andere würde stolz und glücklich sein, wenn sie selbst in solchen Zeiten noch alle Gedanken ihres Verlobten beherrscht.“

„Es handelt sich um einen Kampf auf Leben und Tod, und da verlange ich Thaten vom Manne – nicht Liebesschwüre,“ sagte Wanda energisch.

Die Stirn der Fürstin runzelte sich. „Er wird es an Thaten nicht fehlen lassen jetzt, wo ihm endlich die Gelegenheit dazu geboten wird – oder meinst Du, daß dazu nothwendig die Kälte und Schweigsamkeit gehört?“

Wanda erhob sich und trat an das Fenster; sie wußte, wohin die Worte zielten, aber sie konnte und wollte nicht fortwährend jenen durchdringenden Augen Rede stehen, die stets mit so unerbittlichem Forschen auf ihrem Antlitze ruhten, als wollten sie die geheimsten Regungen des Inneren an das Licht ziehen. Die Fürstin hielt auch ihrer Nichte gegenüber an dem Grundsatze fest, den sie bei Waldemar beobachtete. Sie hatte sich einmal ausgesprochen, und damit ließ sie es genug sein. Wiederholungen waren in ihren Augen ebenso nutzlos wie gefährlich. Seit jenem Abende, wo sie es für nothwendig hielt, der jungen Gräfin „die Augen zu öffnen“, war kein Wort zwischen ihnen über diesen Gegenstand gefallen, aber Wanda wußte nur zu gut, daß sie seitdem eine unermüdliche Beobachterin hatte, daß jedes ihrer Worte, ja jeder ihrer Blicke vor Gericht gestellt wurde, und das raubte ihr oft genug alle Sicherheit im Verkehre mit ihrer Tante.

Diese hatte inzwischen die Briefe ihres Bruders und Sohnes zusammengefaltet. „Aller Wahrscheinlichkeit nach haben wir also in den nächsten Tagen Gefechte unmittelbar an der Grenze zu erwarten, begann sie wieder. „Was könnte uns dabei Wilicza sein, und was ist es uns jetzt!“

Die junge Gräfin wandte sich wieder um und richtete die dunklen Augen auf die Sprechende. „Wilicza?“ wiederholte sie. „Tante, ich begreife ja die Nothwendigkeit, die Dich dort festhält, aber ich wäre der Aufgabe nicht gewachsen. Ich könnte jedes Opfer bringen, nur das eine nicht, Tag für Tag einem Menschen so gegenüber zu stehen, wie Du jetzt Deinem Sohne.“

„Das hält auch so leicht kein Anderer aus, als wir Beide,“ sagte die Fürstin mit bitterer Ironie. „Ich gebe Dir das Zeugniß, Wanda, daß Du Recht hattest mit Deinem Urtheile über Waldemar. Ich habe mir den Kampf mit ihm leichter gedacht. Anstatt ihn zu ermatten, bin ich jetzt nahe daran, zu weichen. Er ist mir mehr als gewachsen.“

„Er ist Dein Sohn,“ warf Wanda ein. „Das vergißt Du immer wieder.“

Die Fürstin stützte finster den Kopf in die Hand. „Er sorgt schon dafür, daß ich es nicht vergesse, zeigt er mir doch täglich, was diese vier Jahre aus ihm gemacht haben. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß er sich mit einer so unglaublichen Kraft aus der Rohheit und Verwilderung seiner Jungend emporarbeiten würde. Er hat sich selbst bezwingen gelernt; darum zwingt er auch alles Andere, trotz Haß und Widerstand. Wird es mir doch schon schwer, meinen Befehlen die alte Geltung zu verschaffen, sobald sein Wille sich dagegen setzt, und doch sind die Leute mir unwandelbar ergeben. Aber sie haben ihn fürchten gelernt; er imponirt ihnen mit seiner unbeugsamen Energie, mit seinem Gebietertone. Sie scheuen sein Auge mehr, als sie je das meinige gefürchtet haben. – Ich wollte, Nordeck hätte mir den Knaben gelassen – ich hätte ihn für uns erzogen, und er wäre uns vielleicht mehr geworden, als nur der Herr von Wilicza. Jetzt gehört er einzig dem Volke an, dem sein Vater entstammte, und er wird nicht weichen aus jenen Reihen – darauf kenne ich ihn – zeigte man ihm auch das Höchste auf unserer Seite. Es war ein Unglück, daß ich ihm nie habe Mutter sein können. Das rächt sich jetzt an uns Beiden.“

Es lag etwas von einer Selbstanklage in diesen Worten; sie hatten einen beinahe schmerzlichen Klang. Der Ton war ganz neu in dem Munde der Fürstin, wenn sie von ihrem ältesten Sohne sprach. All die weicheren Regungen, die bei ihr so selten die Oberhand gewannen, galten sonst ausschließlich ihrem Jüngsten. Auch jetzt schien sie diese Regungen gewaltsam von sich zu stoßen, denn sie erhob sich plötzlich und sagte abbrechend mit herbem Ausdrucke:

„Gleichviel, wir sind nun einmal Feinde und werden es bleiben. Das muß ertragen werden, wie so vieles Andere.“

Sie wurden unterbrochen; ein Diener trat ein mit der Meldung, der Haushofmeister von Wilicza sei soeben angelangt und begehre dringend seine Herrin zu sprechen. Die Fürstin sah auf.

„Pawlick? Dann ist etwas vorgefallen. Er soll eintreten, sogleich.“

Schon im der nächsten Minute trat Pawlick ein, der Diener des verstorbenen Fürsten Baratowski, der die fürstliche Familie in die Verbannung begleitet hatte, und jetzt den Posten eines Haushofmeisters in Wilicza versah. Der alte Mann schien erregt und eilig zu sein; dennoch versäumte er keine der gewöhnlichen Ehrfurchtsbezeigungen, als er sich seiner Gebieterin näherte.

„Laß nur, laß!“ wehrte diese ungeduldig ab. „Was bringst Du? Was ist vorgefallen in Wilicza?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 732. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_732.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)