Seite:Die Gartenlaube (1876) 731.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 44.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.


Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

„Wir wollen das lieber nicht erörtern“ sagte Nordeck resignirt. „Es mag ja eine innere, eine Naturnothwendigkeit sein, die Ihren Vater und Leo in den Streit getrieben hat, aber die gleiche Nothwendigkeit treibt mich zum Widerstande. Mein Bruder hat es freilich leichter als ich. Ihm haben Geburt und Familientradition von jeher nur einen Weg gezeigt, und er ist ihn gegangen, ohne Wahl, ohne Zwiespalt – mir ist beides nicht erspart geblieben. Ich vermag es nun einmal nicht, zwischen zwei feindlichen Parteien hin und her zu schwanken und beiden oder keiner anzugehören; ich muß einer Sache Freund oder Feind sein. Was mich die Wahl gekostet hat, danach fragt Niemand. Gleichviel, ich habe gewählt, und wo ich einmal stehe, da bleibe ich stehen. Leo wirft sich mit glühender Begeisterung in den Kampf für seine höchsten Ideale, getragen von der Liebe und Bewunderung der Seinigen; er weiß, daß sie täglich für sein Leben zittern, und für ihn ist die Gefahr nur ein Reiz mehr bei dem Kampfe – ich stehe allein auf meinem Posten, der mir vielleicht den Tod durch Meuchelmord und sicher den Haß einträgt, den Haß von ganz Wilicza, von Mutter und Bruder und auch von Ihnen, Wanda. Die Rollen sind doch wohl ungleich vertheilt zwischen uns Brüdern. Aber ich bin ja nie durch Liebe und Zuneigung verwöhnt worden. Ich werde das auch jetzt ertragen. Also hassen Sie mich immerhin, Wanda! Vielleicht ist es das Beste für uns Beide.“

Er hatte inzwischen die bezeichnete Richtung eingeschlagen und hielt jetzt kurz vor dem Eingange des Dorfes, das wie ausgestorben dalag. Sich von seinem Sitze schwingend, wollte er der jungen Gräfin die Hand zum Aussteigen bieten, aber sie lehnte schweigend ab und verließ allein den Schlitten. Ueber ihre festgeschlossenen Lippen kam auch nicht ein einziges Wort des Abschiedes. Sie neigte nur stumm das Haupt zum Gruße.

Waldemar war zurückgetreten. In seinem Antlitze erschien wieder der Zug finsteren Schmerzes, und seine Hand, welche die Zügel hielt, ballte sich krampfhaft – die Abweisung verletzte ihn augenscheinlich auf das Tiefste.

„Ich werde das Gefährt morgen zurücksenden,“ sagte er kalt und fremd, „mit meinem Danke – wenn Sie ihn nicht etwa auch ablehnen, wie eben diesen leichten Dienst.“

Wanda schien mit sich zu kämpfen; sie hob bereits den Fuß zum Gehen, zögerte aber noch einen Augenblick.

„Herr Nordeck.“

„Sie befehlen, Gräfin Morynska?“

„Ich – Sie müssen mir versprechen, die Gefahr nicht wieder so herauszufordern, wie Sie es heute thun wollten. Sie haben Recht – der Haß von ganz Wilicza gilt jetzt Ihnen; machen Sie es ihm nicht so leicht, Sie zu treffen – ich bitte Sie darum.“

Eine flammende Röthe schlug in dem Gesichte Waldemar’s bei diesen Worten auf. Er warf einen Blick auf das ihrige, nur einen einzigen, aber alle Bitterkeit schwand davor.

„Ich werde vorsichtiger sein,“ entgegnete er leise.

„So leben Sie wohl!“

Sie wandte sich um und schlug den Weg nach dem Dorfe ein. Nordeck blickte ihr nach, bis sie hinter einem der nächsten Gehöfte verschwand, dann schwang er sich wieder in den Schlitten und jagte in der Richtung nach Wilicza hin, die ihn bald wieder in den Wald führte. Er hatte die Waffe aus der Brusttasche genommen und neben sich gelegt, und während er mit gewohnter Sicherheit die Zügel führte, spähte sein Auge scharf zwischen den Bäumen umher. Der trotzige unbeugsame Mann, der keine Furcht kannte, war auf einmal so besonnen und vorsichtig geworden – er hatte es ja versprochen und er wußte, daß es ein Wesen gab, das jetzt auch für sein Leben zitterte.


Rakowicz, der Wohnsitz des Grafen Morynski, konnte sich in keiner Weise mit Wilicza messen. Ganz abgesehen davon, daß die Herrschaft fast um das Zehnfache größer war und allein drei oder vier Pachtgüter von dem Umfange der Morynski’schen Besitzung einschloß, fehlten dieser letzteren auch die Waldungen und das prachtvolle Schloß mit seiner Parkumgebung. Rakowicz lag nur eine Stunde von L. entfernt in offener Gegend und unterschied sich wenig oder gar nicht von den übrigen kleineren Edelsitzen der Provinz.

Seit der Abreise ihres Vaters lebte Gräfin Wanda allein auf dem Gute. So selbstverständlich unter anderen Umständen ihre Uebersiedelung nach Wilicza gewesen wäre, so natürlich erschien es jetzt, daß die Tochter des Grafen Morynski das Schloß mied, dessen Herr eine solche Stellung zu den Ihrigen einnahm, wie Nordeck es that. Schon das Bleiben der Fürstin gab Anlaß genug zur Verwunderung. Diese kam, wie schon erwähnt, sehr oft nach Rakowicz, um ihre Nichte zu sehen und war auch jetzt auf einige Tage Gast derselben. Das Zusammentreffen Wanda’s mit Waldemar blieb ihr vorläufig noch verschwiegen, da sie erst am Abende nach der Rückkehr von jener Fahrt angekommen war.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_731.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)