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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Zu den königlichen Schatullengütern, deren Besitz der Kronprinz angetreten hat, gehört auch Paretz, zwei Meilen von Potsdam, jenes „Schlößlein Still im Lande“, welches die glücklichsten Tage der Königin Louise gesehen hat. Lange ist es her, seit die hohe Frau hier verweilte und an der Seite ihres Gemahls auf die blühende Kinderschaar um sie herabschaute, aber mit ihr selbst ist auch Paretz dem Volke unvergeßlich geblieben, unvergeßlich insbesondere dem königlichen Hause.

König Friedrich Wilhelm der Vierte, der hier an seinem elften Geburtstage unter den mahnenden Worten der hochherzigen königlichen Mutter den Degen empfangen hatte, feierte voll Pietät für das Andenken seiner Eltern in Paretz bis in seine letzte Krankheit seinen Geburtstag.

Nach dem Tode Friedrich Wilhelm’s des Vierten fiel Paretz dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm als Erbe zu. Da gab es Freude unter den Bewohnern des Dorfes, als die Nachricht sich verbreitete, daß der Kronprinz am 18. October 1866 mit Gemahlin und Kindern eintreten werde, um hier gleichfalls seinen Geburtstag – den ersten Geburtstag nach dem Kriege und nach dem Entscheidungstage von Königgrätz – in ländlicher Stille zu verleben. Kränze und Festgewinde schmückten die Häuser; alle Landbewohner hatten ihre Festkleider angelegt, und die Jugend des Dorfes prangte in den neuen Uniformen, welche ihr, einem alten Brauche gemäß, von dem Gutsherrn verliehen waren.

Der Kronprinz ging, seine Kinder an der Hand, unter dem Geleite der neuuniformirten Jugend durch das Dorf und besuchte auch das Pfarrhaus. Hier bemerkte er den kleinen Stahlstich: „Luther und seine Familie am Weihnachtsabend“ nach Mertensteig, und nachdem er der Familie des Pfarrers gegenüber sein Interesse für dieses Bild ausgesprochen, fragte er seinen Sohn, den Prinzen Friedrich Wilhelm: „Weißt Du auch, wer das ist?“

Kopfschüttelnd verneinte der Knabe.

„Du weißt es wohl,“ sagte der Kronprinz und dann zur Familie des Pfarrers gewandt: „Er ist befangen, aber er weiß es bestimmt; ich selbst habe erst kürzlich die Geschichte der Reformation mit ihm durchgenommen und über Luther in Wort und Bild ihn belehrt; denn am Tage des Einzuges der Truppen, als wir ‚Eine feste Burg ist unser Gott‘ sangen, konnte mein Sohn nicht mit einstimmen; als ich hörte, daß er das Lied noch nicht gelernt hatte, mußte er es sogleich lernen und anknüpfend daran Luther’s Leben und die Reformation durchnehmen.“

Also an jenem Tage des Siegeseinzuges seiner Armee in die festlich geschmückte Hauptstadt, als alle Herzen noch voll Dankes schlugen für Gottes Beistand in dem ruhmvoll beendigten Kriege, voll Dankes auch für den Kronprinzen und seine rechtzeitige Hülfe bei Königgrätz, bemerkt dieser, daß der kleine Prinz, sein Erstgeborner, das Sturm-, Dank- und Triumphlied der Reformation nicht kennt, und noch unter dem frischen Eindrucke des Triumphes lernt der junge Prinz von seinem Vater die Reformation und den Eckstein derselben, Martin Luther, kennen.

Ein Jahrzehnt, reich an Erfahrungen und Thaten, ist seit jener Geburtstagsfeier in Paretz vorübergegangen, und wieder ist mit dem Jahrestage der Völkerschlacht bei Leipzig der Geburtstag des Deutschen Kronprinzen herangekommen. Mit freudiger Theilnahme, hoffend und vertrauend sieht das Volk zu ihm auf, dem ruhmgekrönten Feldherrn und siegreichen Führer, aber im Stillen gedenken wir auch solcher kleinen herzerwärmenden Züge. Auch sie haben ihre Bedeutung in der Weltgeschichte.




Kein Herz.
(Fortsetzung.)


Als Fritzel zu Grabe getragen wurde, gab nicht nur die ganze Ortschaft, sondern auch das ganze Bahnpersonal dem Kinde das Geleite.

Die verhängnißschwere Folge der Unvorsichtigkeit einiger Arbeiter, wodurch jener mit Schienen beladene Wagen am nördlichen Bahnhof in das Rollen gebracht worden, als sie im Begriff standen, ihn abzuladen – die äußerste Gefahr, welche hierdurch einem starkbesetzten Personenzug gedroht – die heroische Geistesgegenwart des Wärters – all dies hatte weittragendes Aufsehen erregt.

Der kleine Sarg wurde auf leichter Bahre von Knaben aus dem Dorfe getragen und blieb vom Elternhause bis zur Kirche unverschlossen. Einen Kranz von Vergißmeinnicht im blonden Haar, lächelte das Köpfchen inmitten der Fülle farbiger Blumen, worauf es gebettet war, so freundlich, als schlummerte es nur. Die Schulkinder sangen auf dem Friedhofe an der geöffneten Gruft, dann sprach der alte Pfarrer kurze Worte, so warme, herzliche Worte, daß von allen Augen, die sich auf das dunkle, letzte Bettchen hefteten, keine trocken blieben, als die der Mutter des armen Kindes. Monika war an der Seite ihres Mannes hinter dem Sarge hergeschritten, ohne zu schwanken; auch jetzt stand sie aufrecht und machte nur dann eine hastige Bewegung, als der Pfarrer, nachdem er die erste Schaufel Erde in das Grab geworfen, dem Vater das Geräth reichen wollte. Sie hielt seinen Arm auf und nahm ihm die Schaufel selbst aus der Hand; als der Klang der Erdschollen, die sie niedergleiten ließ, ihr Ohr traf, schauderte sie zusammen, und ihre Lippen wurden so weiß, wie ihre Wangen. Sie ließ die Schaufel fallen und trat zurück, ohne den Kreis zu verlassen, der das Grab umstand. Ihr Auge bohrte sich in den Boden, während Wilhelm und die Andern die letzte Pflicht erfüllten, und sie blickte auch nicht auf, noch sprach sie eine Silbe, als der Pfarrer und einige der Frauen sie anredeten, nachdem Alles vorüber war; sie nickte nur wie mechanisch mit dem Kopfe und ging dabei vorwärts, dem Wege nach daheim zu.

Ein Geflüster entstand hinter ihr her; die Veränderung, welche mit der von Leben sprühenden Frau vorgegangen, erschien trotz des Erlebten allzu auffallend, fast unheimlich. Auch daß Wilhelm Huber seiner Frau zwar folgte, ihr aber nicht zur Seite ging, kam Vielen sonderbar vor. Der Ortsgeistliche beschleunigte seinen Schritt, nachdem er den Ornat abgestreift, und holte den Bahnwärter ein. „Der Herrgott hat Sie schwer geprüft, Huber,“ sagte er, „und wenn es auch immer der höchste Trost bleibt seine Schuldigkeit bis zum Aeußersten gethan zu haben, kann ich begreifen, daß in Ihrem Falle Ergebung schwerer fällt, als sonst. Lassen Sie jetzt aber das arme Kind bei Gott, wo ihm wohl ist, und haben Sie zunächst ein Auge auf Ihre Frau! Ihr Aussehen gefällt mir nicht. Sie müssen Alles aufwenden, sie zu beruhigen.“

„Ich?“ sagte Huber in schmerzlicher Bitterkeit. „Seit – seit dem Unglück hat sie keine Silbe mit mir geredet, und sprech’ ich sie an, dann geht sie aus der Stube oder gar aus den Haus. Sie kann es mir nicht verzeihen.“

Der Pfarrer drückte ihm die Hand. „Heute habe ich Amtspflichten; morgen früh komme ich aber zu Euch hinüber und will versuchen, was Gottes Wort vermag.“

Wilhelm seufzte schwer auf. „Hochwürden, wenn Sie das arme Weib auch nur dazu bringen könnten, daß sie weint und schreit, wie eine Andere thäte, dann wär’s schon gut. Sie ist wie von Stein. Ich weiß mir keinen Rath mehr.“

Als er zu Hause anlangte, fand er dort die Frau des Bahnmeisters, welche Monika in deren Wohnung erwartet hatte und dringend zu ihr sprach. „Helfen Sie mir doch zureden, Huber!“ sagte die schon ältliche, gutherzig blickende Frau, „daß ich dableiben darf. Sie haben gewiß heute noch allerlei zu besorgen; jedenfalls ist’s gut, wenn Sie jetzt einen Augenblick nach der Station gehen; der Vorsteher möchte wegen der Dauer Ihrer Beurlaubung selbst mit Ihnen reden. So lange wollte ich der armen Seele Gesellschaft leisten, Ihre Frau mag mich aber nicht hier haben.“

„Thu’ es mir zu lieb, Monika!“ sagte Wilhelm in gepreßtem Tone. „Ich habe wirklich einen Gang zu machen, und wenn ich Dich in dem leeren Hause ganz allein lassen müßte, hielt’ ich’s nicht aus.“

Die junge Frau zuckte mit den Wimpern. „Du hältst es schon aus,“ sagte sie trocken. Dann wandte sie sich zur Bahnmeisterin und legte beide Hände auf deren Arm; etwas von der alten Raschheit lag in ihrem Tone: „Ich habe es Ihnen ja vorhin schon gesagt, daß ich mich hinlegen und schlafen will. Ich habe seit vorgestern kein Auge zugethan; jetzt bin ich müde und muß Ruhe haben. Wenn ich weiß, daß Sie hierinnen sitzen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 728. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_728.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)