Seite:Die Gartenlaube (1876) 723.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


durchaus nicht erfüllt. Was helfen die spaltenlangen Zahlenreihen und trockenen Berichte, die man in den größeren Zeitungen Deutschlands findet? Es werden sich wohl nur Wenige die Mühe nehmen, diese Zahlen mit Aufmerksamkeit zu vergleichen.

Es klingt bitter und doch muß es offen eingestanden werden, daß uns in diesen Beziehungen die Franzosen, die Engländer und besonders die Nordamerikaner bei Weitem überlegen sind. Dort hat ein großer Theil der bedeutenderen Zeitungen die ihnen hierin obliegende Aufgabe erkannt: hinzuweisen und hinzuarbeiten auf eine weite Verbreitung meteorologischer Kenntnisse. Das konnte aber einzig und allein geschehen durch Veröffentlichungen von täglichen synoptischen Witterungskarten, welche die gleichzeitige atmosphärische Situation mehrerer Nachbarländer schnell überblicken lassen, oder von Zeichnungen, welche die wichtigsten meteorologischen Elementen bestimmter Orte, als da sind: Temperatur der Luft, Druck und Bewegungsgeschwindigkeit derselben, Größe des Niederschlags etc., graphisch darstellen. Nur dadurch ist es möglich, die Aufmerksamkeit des Publicums wachzurufen und zu erhalten. Das hat der praktische Sinn der Amerikaner vor allen und zuerst erkannt. Die täglich dreimal erfolgenden Publicationen des unter dem Kriegsminister stehenden meteorologischen Instituts zu Washington, die zu Hunderttausenden von den Zeitungen reproducirt und außerdem noch an den Straßenecken der Städte angeschlagen werden, sind das staunenswerthe Resultat eines über das ganze ungeheure Land verzweigten Beobachtungssystems, und ist die jährlich für diesen Zweck aufgewandte Summe von zweihundertfünfzigtausend Dollars in Anbetracht des namentlich für die Landwirthschaft dadurch geschaffenen Nutzens gewiß keine zu hohe. England hat nach Vorgang der „Times“, die jährlich zehntausend Mark meteorologischen Zwecken opfert, noch folgende Zeitungen aufzuweisen, die in mehr oder minder großem Maßstabe tägliche Witterungskarten veröffentlicht: Das „Journal Graphic“, die Zeitschrift des Lloyd, und den „Observer“. In Frankreich veröffentlicht seit Kurzem das wöchentlich erscheinende Journal „Les Mondes“ meteorologische Curven. Am hervorragendsten von allen sind aber die Leistungen des Pariser Journals „L’Opinion“. Mit einem rastlosen Eifer und dankenswerthem Fleiß hat es diese Zeitung dahin gebracht, daß ihre Karten wohl als die besten und am reichlichsten ausgeführten von allen derartigen Zeitungspublicationen dastehen. Bei dem Streben nach Genauigkeit und Vollkommenheit der Karten und der aus ihnen zu ziehenden Wetterprognosen ist es der Redaction gelungen, selbst noch die Beobachtungen darin aufzunehmen, welche im letzten Augenblick vor der Drucklegung, um sechs Uhr Abends, angestellt werden.

Man wende uns nicht ein, daß für Deutschland die Herstellungskosten dieser graphischen Darstellungen zu hoch seien. Die hierzu nöthigen Clichés werden von der Anstalt für chemische Gravirung der Herren Yves und Barret in Paris, welche sich um die Publicationen der praktischen Meteorologie große Verdienste erworben haben, zu dem gewiß mäßigen Preise von fünfhundertundzwölf Mark jährlich geliefert; das macht tägliche Unkosten von ein Mark vierzig Pfennig. Ein in der Druckerei der betreffenden Zeitung anwesender Graveur kann mit Hülfe eines Grabstichels nach der ihm vom Beobachter übergebenen Zeichnung der Curven diese selbst in wenigen Minuten in eines dieser bereits vorbereiteten Clichés eingraviren, und damit ist die Arbeit für die Zeitung gethan.

Weder Preßgesetze noch geringe Abonnentenzahl, wohl aber Bequemlichkeit und Mangel an jenem Unternehmungsgeist, der die Resultate der Wissenschaft praktisch zu verwerten und für das Gemeinwohl nützlich zu machen strebt, sind die Gründe für das auffällige Fehlen eines solchen Unternehmens bei uns. Sollte es wohl im ganzen Reich nicht eine einzige Zeitung geben, die Willens wäre, den Wettstreit mit unseren westlichen Nachbarn in der Popularisirung der Meteorologie aufzunehmen, um in dieser Beziehung die Achtung vor Deutschland und seiner Presse zu wahren?

v. D.




Merkwürdige Krankheitsfälle.
1. Der schlafende Ulan.


Seit anderthalb Jahren bringen die Berliner Zeitungen ziemlich regelmäßig in bestimmten Zwischenräumen Nachrichten über das Befinden eines kranken Soldaten im Potsdamer Militärlazarethe, eines Schlesiers Namens Gurs, und zwar ausführliche „Bulletins“, wie wir sie sonst nur gewöhnt sind über das Befinden eines kranken Fürsten, oder eines vieltheuren Hauptes der Kunst oder Wissenschaft zu erhalten. Es war, wie leicht erkennbar, in diesem Falle nicht der Kranke, sondern seine Krankheit, welche ein weitergehendes Interesse wachrief: der Mann wurde nämlich von einem Nervenübel heimgesucht, dem man in früheren Zeiten häufig einen übernatürlichen Ursprung zugeschrieben hat, von der mit einer tiefen Schlafsucht (Lethargie) verbundenen Starrsucht (Katalepsie).

Die Krankheit des dem dritten Garde-Ulanen-Regimente angehörenden Soldaten hatte sich bereits im Herbste 1874 durch heftige Kopf- und Rückenschmerzen angekündigt, und letztere hatten schließlich so zugenommen, daß der Kranke gegen Ende Mai 1875 von Nauen nach dem Garnisonlazarethe in Potsdam gebracht werden mußte. Hier nun trat nach kurzer Zeit jene Wendung der Krankheit ein, welche den Patienten zum Gegenstande einer weit über die Mauern des Krankenhauses hinausreichenden Aufmerksamkeit machte. Er war in einen Starrkrampf verfallen, während dessen er nicht nur wochenlang völlig regungslos in der angenommenen langausgestreckten Lage verharrte, sondern auch die Gliedmaßen eines Leichnams darbot. Längere Zeit hindurch war man genöthigt, ihm den Mund mit Gewalt zu öffnen und einen Knebel zwischen die Zähne zu stecken, um ihm die Nahrung, die in der ersten Zeit nur aus Fleischbrühe bestand, mit Gewalt einzuflößen. Sobald man die gewaltsame Ernährung bewirkt und den Keil entfernt hatte, fielen die Zähne mit einem lauten Schlage zusammen.

Daß hier nicht eine der in Militärlazarethen nicht eben selten vorkommenden Krankheitsheucheleien vorlag, ergab außer den übrigen Symptomen die bei solchen Kranken gewöhnliche Unempfindlichkeit gegen schmerzhafte äußere Eingriffe, z. B. gegen den elektrischen Strom eines sogenannten Inductionsapparates. Bei der Anwendung dieses Probirsteins hält die Verstellungskunst selten Stich, sodaß er häufig dienen muß, die Aufrichtigkeit einer Krankheit zu erproben, wobei er vor den Foltermaschine der alten Zeiten den Vorzug voraus hat, keinen Schaden an der Gesundheit anzurichten. Bei dem „schlafenden Ulanen“ konnte ein Mißtrauen, wenn überhaupt, doch nur sehr vorübergehend auftauchen, denn die genauere Beobachtung ergab alsbald, daß man es hier mit einem schwer Kranken zu thun habe.

Da der Vater desselben angab, daß auch er in seiner Jugend einen ähnlichen Anfall gehabt und damals durch das Ansetzen eines Blutegels hinter’m Ohr geheilt worden sei, so versuchte man das einfache Mittel auch hier, aber ohne den früheren Erfolg. Der Zustand der völligen Gliederstarre und Geistesabwesenheit dauerte nicht ganz so lange, wie derjenige der berühmten Siebenschläfer, aber er währte doch länger als einen Monat, und bis zu dem völligen Erwachen aus der Geistesnacht sollte mehr als ein ganzes Jahr hingehen.

Man darf aber nicht aus dem ihm gegebenen Beiworte schließen, daß der Kranke diese ganze Zeit hindurch im eigentlichen Sinne des Wortes geschlafen habe, denn oftmals sah man ihn auch mit geöffnetem, starr gegen die Zimmerdecke gerichtetem Auge daliegen, und dann zuckten die Wimpern, wenn man dem Auge mit einem Schlage drohte. Allein offenbar befanden sich seine Geistesorgane auch während dieses scheinbaren Wachens und lange nachdem der Starrkrampf der Glieder nachgelassen hatte, in einem schlafähnlichen Zustande: Schmerzenslaute, wenn man die steifgewordenen Glieder zu biegen versuchte, und einzelne unverständliche polnische Worte waren nach Monaten die ersten Zeichen des wiederkehrenden Bewußtseins. Indessen öffnete sich nun auch der Mund, sodaß man nur nöthig hatte, die Nahrung hineinzubringen und Mund und Nasenlöcher zusammen zu drücken, um den Kranken zum Hinunterschlucken zu nöthigen. Auch das war zuletzt nicht mehr erforderlich.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_723.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)