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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Der Assessor, der in dieser Frage nur ihre Theilnahme an seinen Familienangelegenheiten erblickte, ging bereitwillig darauf ein.

„Mein armer Onkel hat in der letzten Zeit sehr viel Aerger und Verdruß gehabt,“ berichtete er. „Es existirt an der Universität eine Gegenpartei – welches wahrhaft Große hätte nicht seine Neider und Feinde!? – an deren Spitze Professor Weber steht. Dieser Herr hascht förmlich nach Popularität; die Studenten hängen mit blinder Vorliebe an ihm; alle Welt spricht von seiner Liebenswürdigkeit, und mein Onkel, welcher dergleichen Kunstgriffe verschmäht und sich überhaupt nie um die öffentliche Meinung kümmert, wird von allen Seiten angefeindet. Jetzt hat die Gegenpartei, einzig ihm zum Aerger, einen ganz obscuren Menschen auf den Schild gehoben und unterfängt sich, dessen Erstlingswerk neben die Schwarz’schen Schriften über den Germanismus zu setzen.“

„Es ist wohl nicht möglich,“ meinte Gretchen.

„Neben die Schriften meines Onkels,“ wiederholte der Assessor mit großartiger Entrüstung. „Ich kenne weder den Namen, noch die näheren Umstände. Mein Onkel liebt es nicht, sich in seinen Briefen über Einzelheiten auszusprechen, aber die Sache hat ihn dermaßen geärgert, und sein Conflict mit dem Professor Weber ist zu einer solchen Höhe gediehen, daß er daran gedacht hat, seine Entlassung zu nehmen. Es ist natürlich nur eine Drohung; man läßt ihn in keinem Falle fort. Die Universität erlitte ja durch sein Ausscheiden eine bedenkliche Schädigung, aber er hielt es doch für nothwendig, einen Druck auf die betreffenden Persönlichkeiten zu üben.“

„Ich wollte, das wirkte,“ sagte Gretchen mit einem solchen Ausdruck des Ingrimms, daß Hubert betroffen einen Schritt zurücktrat, aber gleich darauf trat er zwei näher.

„Es beglückt mich sehr, daß Sie ein solches Interesse an dem Ergehen meines Onkels nehmen. Auch er interessirt sich bereits für Sie. Ich habe ihm oft von dem Hause und der Familie geschrieben, wo ich eine so liebenswürdige Aufnahme gefunden habe, und er würde mit Freuden hören, daß ich dieser Familie –“

Da war er schon wieder so weit. Das junge Mädchen sprang in voller Verzweiflung auf, lief an das gerade offen stehende Clavier und begann zu spielen. Aber sie unterschätzte die Beharrlichkeit des Bewerbers, denn schon in der nächsten Minute stand er neben ihr und hörte zu.

„Ah, der Sehnsuchtswalzer! Mein Lieblingsstück! Freilich, die Musik vermag es am besten, die Gefühle des Herzens auszudrücken – nicht wahr, Fräulein Margarethe?“

Fräulein Margarethe fand, daß sich heute Alles gegen sie verschworen habe. Es war zufällig das einzige Stück, das sie auswendig wußte, und sie wagte nicht aufzustehen und Noten zu holen, denn die Miene des Assessors verrieth, daß er nur auf eine Pause im Spiel wartete, um den Gefühlen seines Herzens Worte zu geben. So ließ sie denn den Sehnsuchtswalzer mit vollster Kraft und im Tempo eines Sturmmarsches über die Tasten hinrasen. Es klang fürchterlich, und es sprang eine Saite dabei, aber der Lärm wurde glücklich so arg, daß er jede etwaige Liebeserklärung übertönen mußte.

„Sollte das Fortissimo wohl hier am Platze sein?“ wagte Hubert zu bemerken. „Ich meinte immer, das Stück müsse im schmelzenden Piano gespielt werden.“

„Ich spiele es im Fortissimo,“ erklärte Gretchen und schlug auf die Tasten, daß die zweite Saite sprang.

Der Assessor war etwas nervös; er fuhr zusammen. „Sie werden das schöne Instrument verderben,“ sagte er, sich mit Mühe verständlich machend.

„Wozu giebt es Clavierstimmer in der Welt?“ rief Gretchen. Als sie merkte, daß der musikalische Lärm dem Assessor unangenehm wurde, steigerte sie ihn zu einer ganz unglaublichen Höhe und opferte kaltblütig die dritte Saite. Das half endlich. Hubert sah ein, daß man ihn heute nicht zu Worte kommen lassen wollte, und trat den Rückzug an, ärgerlich, aber mit unerschüttertem Vertrauen. Die junge Dame hatte ihn ja damals beim Schnupfenfieber mit so rührender Aufmerksamkeit gepflegt, und heute hatte sie ihn einen bedeutenden Menschen genannt und ihm Mangel an Selbstvertrauen vorgeworfen. Freilich, ihr Eigensinn blieb unberechenbar, aber sie liebte ihn dennoch.

Als er fort war, stand Gretchen auf und schloß das Clavier. „Drei Saiten sind gesprungen,“ sagte sie wehmüthig und doch mit einer gewissen Befriedigung. „Aber ich habe ihn richtig wieder nicht zur Erklärung kommen lassen. Und das Uebrige kann Papa besorgen.“ Damit setzte sie sich wieder an den Nähtisch, holte das Buch hervor und vertiefte sich auf’s Neue in die Geschichte des Germanenthums. –

Es war einige Stunden später, als Waldemar Nordeck von L. zurückkehrte, wohin er heute Morgen geritten war. Er kam jetzt öfter dorthin; der Verkehr zwischen dem Schlosse und der Stadt war überhaupt lebhafter geworden. Der Umstand, daß Wilicza gerade die Grenzwaldungen einschloß und daß man der dortigen Bevölkerung am wenigsten traute, machte manche Besprechungen und Verständigungen hinsichtlich der zu nehmenden Maßregeln nothwendig, und der Präsident wußte zu gut, welche feste energische Stütze er in dem jungen Gutsherrn hatte, um ihn nicht stets mit der größten Zuvorkommenheit aufzunehmen. Auch heute war Waldemar bei ihm gewesen und dort mit einigen der höheren Beamten und Officieren aus L. zusammengetroffen, und die sämmtlichen Herren fanden auf’s Neue ihre schon früher gehegte Meinung bestätigt, daß der junge Nordeck im Grunde doch eine durchaus kalte unempfindliche Natur sei. Jeden Anderen würde das gezwungen feindselige Verhältniß der eigenen Mutter und dem eigenen Bruder gegenüber doch wenigstens gedrückt und gequält haben, ihn schien es gar nicht zu berühren. Er war wie immer ernst zurückhaltend, aber entschlossen und bereit, die einmal gewählte Stellung bis auf’s Aeußerste zu behaupten.

Waldemar hatte freilich allen Grund, den Fremden diese ruhige Stirn zu zeigen; er wußte, daß sein Verhältniß zu seiner Mutter das Tagesgespräch in L. bildete und daß die abenteuerlichsten Gerüchte darüber die Runde machten – da galt es ihnen wenigstens nicht neue Nahrung zu geben. Jetzt, wo er sich allein und unbeachtet wußte, stand ein Zug verbissenen Schmerzes in seinem Gesichte, der nicht weichen wollte, und die Stirn war so finster umwölkt, wie sie vorhin klar gewesen. Er ritt im Schritte vorwärts, ohne auf die Umgebung zu achten, und hielt bei einer Kreuzung des Weges fast mechanisch sein Pferd an, um einen Schlitten vorbei zu lassen, der in vollem Galopp herankam und dicht an ihm vorüberfuhr.

Normann bäumte sich plötzlich in die Höhe. Der Reiter hatte den Zügel mit so wilder Heftigkeit an sich gerissen, daß das Thier erschrak und einen jähen Sprung seitwärts machte. Dabei geriet es aber mit den Hinterfüßen in einen nur lose vom Schnee verdeckten Graben, der längs der Fahrweges hinlief; es strauchelte und wäre fast mit seinem Herrn zu Fall gekommen.

Waldemar brachte es schnell genug wieder aus dem Graben und auf die Höhe des Weges, aber der leichte Unfall schien ihn, den kühnen unerschrockenen Reiter, gänzlich aus der Fassung gebracht zu haben. Sie fehlte ihm noch vollständig, als er sich dem Schlitten näherte, welcher auf einen Zuruf der Dame still gehalten hatte.

„Verzeihen Sie, Gräfin Morynska, wenn ich Sie erschreckt habe! Mein Pferd scheute vor der plötzlichen Begegnung mit den Ihrigen.“

Wanda war sonst schreckhaften Regungen nicht leicht zugänglich; vielleicht trug weniger der Schrecken als das unerwartete Zusammentreffen – das erste seit drei Monaten – die Schuld an der tiefen Blässe, die noch auf ihrem Antlitze lag, als sie erwiderte:

„Sie haben doch keinen Schaden genommen?“

„Ich wohl nicht, aber mein Normann –“

Er vollendete nicht, sondern sprang rasch aus dem Sattel. Das Pferd hatte offenbar eine Verletzung an einem seiner Hinterfüße erlitten. Es hielt ihn, wie im Schmerz, emporgezogen und verweigerte das Auftreten damit. Waldemar untersuchte flüchtig den Schaden und wandte sich dann wieder zu der jungen Gräfin.

„Es ist nicht von Bedeutung,“ sagte er in demselben kalten gezwungenen Tone wie vorhin. „Ich bitte Sie, Ihre Fahrt deswegen nicht zu unterbrechen.“ Er grüßte und trat zur Seite, um den Schlitten vorüber zu lassen.

„Wollen Sie denn nicht wieder aufsteigen?“ fragte Wanda, als sie sah, daß er die Zügel um seinen Arm schlang.

„Nein! Normann hat sich am Fuße beschädigt und hinkt bedeutend. Es ist ihm schon schmerzhaft genug, nur aufzutreten. Er kann unmöglich noch einen Reiter tragen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 717. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_717.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)