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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


gebrochen hatte, denn sie setzte sich gleichmüthig an ihren Nähtisch, nahm ein dort liegendes Buch und begann zu lesen.

Der Administrator ging, noch immer ein wenig ärgerlich, im Zimmer auf und ab; endlich blieb er vor seiner Tochter stehen.

„Was ist denn das für ein dicker Band, den ich jetzt fortwährend in Deinen Händen sehe? Eine Grammatik vermuthlich. Studirst Du so eifrig Französisch?“

„Nein, Papa,“ sagte Gretchen. „Die Grammatik ist viel zu langweilig, als daß ich sie so oft in die Hand nehmen sollte. Ich“ – sie legte feierlich die Hand auf das Buch – „ich studire gegenwärtig die Geschichte des Germanenthums.“

Was studirst Du?“ fragte der Administrator, der seinen Ohren nicht traute.

„Die Geschichte des Germanenthums!“ wiederholte seine Tochter mit unglaublichem Selbstgefühl. „Ein ausgezeichnetes Werk, ein Werk von der allertiefsten Gelehrsamkeit! Willst Du es auch einmal lesen? Hier ist der erste Band.“

„Laß mich in Ruhe mit Deinem Germanenthum!“ rief Frank. „Ich habe genug mit dem Slaventhum zu thun. Aber wie kommst Du denn zu diesem gelehrten Zeuge? Ganz sicher durch den Doctor Fabian, aber das ist gegen die Abrede. Er hat versprochen, Dich im Französischen zu üben, und statt dessen bringt er Dir alte Scharteken aus seiner Bibliothek, von denen Du kein Wort verstehst.“

„Ich verstehe Alles,“ rief das junge Mädchen beleidigt. „Und es ist auch keine alte Scharteke; es ist ein ganz neues Werk, das Doctor Fabian selbst geschrieben hat. Es macht ungeheueres Aufsehen in der Gelehrtenwelt, und zwei unserer ersten wissenschaftlichen Berühmtheiten, Professor Weber und Professor Schwarz, liegen sich bereits in den Haaren darüber und über die angehende dritte, den Doctor nämlich. Aber Du sollst sehen, Papa, er wird noch einmal größer, als beide zusammengenommen.“

„Schwarz?“ sagte der Administrator nachsinnend. „Das ist ja der berühmte Onkel unseres Assessors an der Universität zu J. Nun, da kann Doctor Fabian von Glück sagen, wenn eine solche Autorität sich überhaupt mit seinen Werken befaßt.“

„Professor Schwarz versteht gar nichts,“ erklärte Gretchen zum Entsetzen ihres Vaters und mit der Unfehlbarkeit eines akademischen Richters. „Er wird sich mit seiner Kritik des Fabian’schen Buches ebenso blamiren, wie der Assessor mit der Verhaftung des Herrn Nordeck. Natürlich, es sind ja Onkel und Neffe – das liegt so in der Familie.“

Jetzt schien die Sache dem Administrator doch etwas bedenklich zu werden; er sah seine Tochter forschend an. „Du bist in diesen Universitätsgeschichten ja so bewandert wie ein Student. Du scheinst das unumschränkte Vertrauen des Doctor Fabian zu genießen.“

„Das genieße ich auch,“ bestätigte Gretchen. „Aber es hat sehr viel Mühe gekostet, ihn dahin zu bringen. Er ist so schüchtern, so zurückhaltend, obwohl er doch ein so bedeutender Mensch ist. Ich habe ihm das Alles erst im Laufe der Zeit und Wort für Wort abfragen müssen. Sein Buch wollte er mir anfangs gar nicht geben, aber da wurde ich böse, und ich möchte wohl sehen, was er mir verweigert, wenn ich ihm ein Gesicht mache.“

„Höre, Kind, ich glaube, der Assessor hat einen sehr dummen Streich gemacht, als er Deine französischen Uebungen veranlaßte,“ brach Frank jetzt los. „Dieser stille, blasse Doctor mit seiner sanften Stimme und seinem schüchternen Wesen hat es Dir wahrhaftig angethan und ist allein schuld an der schlimmen Behandlung, die Du dem armen Hubert zu Theil werden läßt. Du wirst doch keine Thorheiten machen? Der Doctor ist nichts weiter als ein ehemaliger Hauslehrer, der bei seinem früheren Zöglinge lebt und eine Pension von ihm bezieht. Wenn er dabei gelehrte Werke schreibt, so mag das ein Vergnügen für ihn sein, aber Geld bringt dergleichen nicht ein und am allerwenigsten ein gesichertes Einkommen. Zum Glück ist er zu schüchtern und auch wohl zu vernünftig, um auf Deine Vorliebe für ihn irgend eine Hoffnung zu bauen, aber ich halte es doch für besser, wenn die französischen Stunden jetzt ein Ende nehmen, und werde das auf schickliche Weise einzuleiten suchen. Wenn Du, die kaum die Geduld hat, einen Roman zu Ende zu lesen, jetzt die Geschichte des Germanenthums studirst und Dich dafür begeisterst, blos weil Doctor Fabian sie geschrieben hat, so ist mir das doch bedenklich.“

Die Tochter sah bei dieser väterlichen Ermahnung sehr unzufrieden aus und bereitete sich zu einem nachdrücklichen Protest, als der Inspector mit einer Meldung eintrat. Gleich darauf verließ Frank mit ihm das Zimmer, und Fräulein Margarethe blieb in einer höchst ärgerlichen Stimmung zurück. Assessor Huber hätte gar nichts Schlimmeres thun können, als in einer solchen Stunde zu erscheinen, aber sein gewöhnlicher Unstern führte ihn natürlich gerade jetzt herein. Er war, wie immer, die Aufmerksamkeit und Artigkeit selbst, der Gegenstand seiner Wünsche aber zeigte eine so ungnädige Laune, daß er eine Bemerkung darüber nicht unterdrücken konnte.

„Sie scheinen verstimmt, Fräulein Margarethe,“ begann er nach mehreren vergeblichen Versuchen, ein Gespräch anzuknüpfen. „Darf man den Grund wissen?“

„Ich ärgere mich, daß gewöhnlich gerade die bedeutendsten Menschen so sehr viel Schüchternheit und so gar kein Selbstvertrauen haben,“ fuhr Gretchen heraus, die mit ihren Gedanken ganz wo anders war.

Das Antlitz des Assessors verklärte sich förmlich bei diesen Worten. Bedeutende Menschen – Schüchternheit – kein Selbstvertrauen – ja freilich, er war damals mitten im Kniefall stecken geblieben und noch heute nicht bis zu einer Erklärung gekommen. Die junge Dame trug allerdings selbst die Schuld daran, aber es verletzte sie doch, daß er so wenig Selbstvertrauen zeigte. Das mußte unverzüglich wieder gut gemacht werden. Der Wink konnte ja gar nicht deutlicher gegeben werden.

Gretchen sah schon in der nächsten Minute ein, was sie mit ihren unvorsichtigen Worten, die Hubert natürlich auf seine eigene Person bezog, angerichtet hatte. Sie brachte schleunigst ihre Geschichte des Germanenthums vor ihm in Sicherheit, denn der Doctor hatte ihr das Versprechen abgenommen, dem Neffen seines literarischen Gegners nichts davon zu verrathen, und beschloß, ihre Uebereilung durch möglichste Ungezogenheit wieder gut zu machen.

„Sie brauchen nicht mit einem solchen Polizeiblick um mich herum zu gehen, Herr Assessor,“ sagte sie. „Ich bin keine Verschwörung, und das ist ja doch das Einzige auf der Welt, was Sie interessirt.“

„Mein Fräulein,“ versetzte der Assessor würdevoll, aber doch etwas verletzt, denn er war sich bewußt, schmachtend und durchaus nicht polizeimäßig geblickt zu haben. „Sie werfen mir meinen Amts- und Pflichteifer vor, und doch glaube ich mir gerade daraus ein Verdienst machen zu können. Auf uns Beamten lastet die ganze Sorge für die Ordnung und Sicherheit des Staates; uns danken es Tausende, daß sie Abends ihr Haupt ruhig niederlegen können; ohne uns –“

„Nun, wenn Sie allein für unsere Sicherheit sorgten, dann wären wir hier in Wilicza längst todtgeschlagen worden,“ unterbrach ihn das junge Mädchen. „Es ist nur ein Glück, daß wir Herrn Nordeck haben; der schafft uns nachdrücklicher Ruhe als das ganze Polizeidepartement von L.“

„Herr Nordeck scheint jetzt überall einer außerordentlichen Bewunderung zu genießen,“ bemerkte Hubert empfindlich. „Auch bei Ihnen.“

„Ja, auch bei mir,“ bestätigte Gretchen. „Ich bedaure es aufrichtig, aber meine Bewunderung gilt nun einmal Herrn Nordeck und keinem Andern.“

Sie warf einen sehr anzüglichen Blick auf den Assessor, aber dieser lächelte nur.

„Ah, dieser Andere würde auch niemals das kalte, fremde Gefühl der Bewunderung beanspruchen,“ versicherte er. „Er hofft auf ganz andere Regungen in einer verwandten Seele.“

Gretchen sah, daß die Ungezogenheit ihr gar nichts half. Hubert steuerte unverwandt und unbeirrt auf die Erklärung los. Das junge Mädchen hatte aber gar keine Lust, ihn anzuhören; es war ihr unangenehm, ihm ein Nein geben zu müssen, und sie fand es weit bequemer, das durch ihren Vater abmachen zu lassen. Deshalb fuhr sie mit der ersten besten Frage dazwischen, die ihr gerade in den Sinn kam.

„Sie haben mir ja so lange nichts von Ihrem berühmten Onkel in J. erzählt. Was macht er denn jetzt?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 716. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_716.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)