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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


einem jungen Mädchen am Rande eines Wassers im Parke vorliest, der hat fast die Portraits der beiden Liebenden gesehen.

Doch nun zur Sache! Ich war zehn Jahre später der Einladung eines Freundes gefolgt, um, der Weißenburger Feier des großen Nationalfestes beizuwohnen, welches im Mai 1848 in ganz Frankreich zur Verherrlichung der Errungenschaften der Februarrevolution begangen wurde. Die Feierlichkeit war ganz im französischen Stil organisirt, das heißt nach Art jener großen Volksfeste, wie sie während der ersten Revolution zu Paris veranstaltet worden sind. Es fand ein feierlicher Umzug statt, an dem Alle Theil nahmen, welche das Recht hatten Uniform zu tragen, Militär, Polizei, Gensd’armerie, bis zu den Schülern der lateinischen Schule herab, welche in Frankreich Uniformen wie unsere Cadetten trugen. Musik ging dem ungeheuren Zuge voraus, der von Zeit zu Zeit an öffentlichen Gebäuden oder auf freien Plätzen, wo mit frischen Zweigen und Fahnen bekränzte Tribünen und zuletzt sogar ein Altar errichtet war, Halt machen mußte, um die officiellen Begrüßungen, die begeisterten Freiheitsreden und die Segenssprüche der Geistlichkeit der beiden Confessionen entgegen zu nehmen.

Trotz des großen Pompes, der schmetternden Klänge der Musik und der frohen Stimmung, welche damals vor der Juni-Schlacht in Paris jene glänzenden Hoffnungen auf die anbrechende Herrschaft einer glorreichen Aera der Freiheit, des Wohlstandes, der Bildung und der Nationalwürde der Völker Europas noch nicht hatte knicken sehen – wollte der Jubel des Volkes doch nicht recht aus dem Grunde des Herzens kommen. Man sah daher reichlich mit Wein nachhelfen und bald mehr Betrunkene, als ich in Paris oder in Deutschland bei ähnlichen Gelegenheiten bemerkt. Die Ursache war sehr einfach. Das Volk verstand die Redner nicht, weil sie sämmtlich französisch sprachen und den Gebrauch der französischen Sprache von damals an als einen Act des Patriotismus anzusehen begannen.

Bei Gelegenheit einer jener Stauungen, wo gerade ein Geistlicher eine Fahne gesegnet hatte, gewahrte ich abseits stehend eine Gruppe von hochragenden kräftigen Bauernburschen in ihrer Tracht unter der Führung eines älteren Mannes, die gekommen waren, um das Fest anzusehen, und unter sich ihre Glossen darüber machten. Ich muß vorausschicken, daß damals die Elsässer im Allgemeinen bereits nicht wenig stolz waren auf ihre politische Zugehörigkeit zu Frankreich und gern eine gewisse Verachtung gegen deutsche Zustände und gegen Deutsche zur Schau trugen, welche sie durch die Bank „Schwaben“ nannten, obgleich dies mit weit mehr Recht ihr eigener Erbtitel ist, als derjenige der meisten Deutschen, auf welche sie ihn anwendeten. Persönlich und social aber herrschte eine noch viel größere Abneigung gegen die eigentlichen Franzosen, mit welchen die Elsässer in Gesellschaft zusammentrafen, und umgekehrt. Franzosen, die in’s Elsaß kamen und denen sogleich die von ihnen ganz verschiedene Art auffiel, welche in Sprache, Sitten, Gebräuchen, in der häuslichen Einrichtung und der Kost sich zeigte, wußten sich namentlich, wenn sie den weniger gebildete Ständen angehörten, nicht zu mäßigen in ihren Ausdrücken der Verachtung über „cette maudite Allemagne – ces têtes-carrées d’Allemands“. (Dieses verfluchte Deutschland – diese deutschen Querköpfe!) Die Elsässer gaben es ihnen zurück, indem sie unter sich die Nationalfranzosen oder sogenannte Stockfranzosen nie anders als die „wälschen Kaibe“[1] nannten.

Aehnliche Redensarten hörte ich natürlich auch in der Gruppe der Bauern fallen, von denen der kleinste sechs Schuh hoch in seinen Schuhen stand. Die Hünengestalten, welche sich seit der germanischen Occupation unvermischt fortgepflanzt zu haben schienen, sowie die trotzigen Redensarten über die „wälschen Kaibe“, veranlaßten mich, ihre Wortführer nach ihrer Herkunft zu fragen und mich mit denselben in ein Gespräch einzulassen. Ich hörte, daß sie aus Seebach und hergekommen seien, um das Fest mitzumachen, dem sie aber keinen großen Geschmack abgewinnen könnten, weil sie nichts von dem „Gewälsch“ verstünden und die Stadtleute überhaupt immer mehr „verwälschten“. In der That erfuhr ich aus dem weitern Gespräche, daß sie von den Zwecken und Zielen sowohl der Februarrevolution wie des Festes vor ihren Augen nur eine sehr unklare Vorstellung hatten, obgleich sonst aus ihren Reden ein überaus klarer, unabhängiger gesunder Menschenverstand hervorleuchtete. Ich suchte ihnen nun die Ursachen und Ziele der damaligen Bewegung in schlichten Worten zu erklären und wies besonders darauf hin, daß die Revolution in Paris den Anstoß zu einer Reformbewegung in ganz Europa gegeben habe und daß namentlich in einem großen Theile von Deutschland, zu dem man damals noch Oesterreich rechnete, der Bauernstand erst die Freiheit erringen müsse, welche der elsässische Bauer schon von der Zeit der ersten Revolution genieße. Als ich nun weiter erzählte, daß man in Deutschland jetzt auch mit der politischen Reform Ernst mache und einen ebenso mächtigen Staat herstellen werde, wie Frankreich ist, da sagte der älteste der Seebacher in seinem treuherzigen Dialekte, den ich nicht wiedergeben kann:

„Ja, wenn wir nur zu Euch gehörten, dann würden wir doch wieder verstehen, was man mit uns vorhat. Die wälschen Kaibe verstehen wir nicht.“

Ich war Gast auf gastlicher Erde, und obwohl ich von Jugend auf den Verlust des Elsasses von meinem Vater hatte beklagen hören, so glaubte ich mich doch nicht zur Rolle eines politischen Emissärs berufen, ganz abgesehen davon, daß eine solche Idee in der damaligen Zeit an Tollheit gegrenzt hätte.

Ich fühlte mich daher verpflichtet auf diesen Gedanken des alten Seebachers nicht einzugehen, sondern ihm und seinen Begleitern, die allmählich einen dichten Kreis um mich gebildet hatten, so deutlich wie möglich zu erklären, „daß in Folge der Eisenbahnen und des innigen geistigen und geschäftlichen Verkehrs der Völker unter einander dieselben nach Vermehrung des Wohlstandes und der Bildung einmüthig zu streben hätten, daß man ferner dieselben Interessen und Ziele habe, daß man sich bemühen müsse, den Frieden in Europa aufrecht zu erhalten und die Nachbarvölker auf freundschaftlichen Fuß mit einander zu bringen. Bis dahin sei der Fehler in Frankreich gewesen, daß die politischen Bewegungen von Paris ausgegangen seien; darum habe man sich um das Landvolk wenig bekümmert; in Zukunft würde dies besser werden und auch der Bauer sich mehr an den öffentlichen Angelegenheiten betheiligen können, wie es ja überhaupt in freieren Ländern auf die Sprache weniger ankomme, so daß z. B. in der Schweiz Deutsche mit Franzosen, in Amerika Deutsche neben Engländern ein einträchtiges und glückliches Leben führen, wie überhaupt die internationale Eintracht und das kosmopolitische Zusammenwirken der Völker für die Erringung der höchsten Güter das Ziel der Menschheit sei.“ Diese Worte, wie ich sie hier gebe, sind natürlich zu abstract für ein Bauernohr. In welche Form ich meine Gedanken und Empfindungen kleidete? Ich kann mich nicht mehr darauf besinnen. Ich weiß nur, daß ich den richtigen Ton gefunden haben mußte, um verstanden zu werden, denn obgleich ich kein begabter Redner bin, schienen meine Worte doch so zu Kopf und Herzen der Hörer zu gehen, daß die Augen der schlichte Landleute anfingen aufzuleuchten, feucht zu werden und daß mir der alte Landmann zuletzt die Hände zerdrückte und mich mit Thränen in den Augen umarmte.

„Ja, wenn man so zu uns spräche, ja, wenn man in unserer Sprache zu uns redete, dann wollten wir’s loben.“

Diese Worte waren alles, was sie zuerst unter ihren handgreiflichen Freundschaftsbezeigungen hervorbrachten. Die hünischen Bauern luden mich zu Gast und wollten mich gleich mitnehmen, und ich konnte mich nur mit Mühe losreißen und von ihnen Abschied nehmen unter dem Versprechen, sie eines Tages zu Seebach zu besuchen. Ich habe mein Versprechen nicht gehalten, obwohl ich es oft gewünscht. Das großstädtische Leben und die Alpen sind eben noch stärkere Anziehungspunkte. Seitdem sind alle diese Jünglinge reife Männer geworden. Ihr Führer ist wohl schon in’s Grab gesunken. Ob sich wohl Einer von ihnen noch, wie ich es that, jener Scene vor einem Menschenalter erinnert haben wird, als er dem deutschen Kaiser seinen Jubelruf zujauchzte?

  1. Kaib, allemannisches Synonym von Aas oder Luder.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 706. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_706.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)