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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


was heute zu Recht besteht, sollte die Frau ebenfalls in Untersuchungshaft genommen werden, der sie sich, wie gesagt, durch die von meinem Vater angeordnete Flucht entzog, nachdem dieser von den Landauer Assisen zwar freigesprochen, aber wegen anderer geringerer Anklagen doch nachträglich zu zwei Jahren Zuchthaus verurtheilt worden war.

Jenes Schwurgericht aber verdient von dem künftigen Geschichtsschreiber weit aufmerksamer beachtet zu werden, als es bisher geschehen ist.

Wie vom Frühling, dieser bevorzugten Zeit der Dichter, ist nicht selten auch vom Völkerleben behauptet worden, daß die ersten Blüthen, welche der Volksgeist treibe, weit beglückender seien als die noch so reichen Früchte, welche das Volk in reifen staatlichen Zuständen einheimse. Wenn in dieser Hinsicht die Bewegung des Jahres 1848 in dem größeren Theil von Europa als ein solcher Völkerfrühling bezeichnet worden ist, weil dieses denkwürdige Jahr in der That weniger Früchte als Blüthen – zuweilen darunter auch taube – gebracht hat, so ist doch für einen beschränkteren Kreis noch viel mehr die Bewegung der dreißiger Jahre als ein solcher Vorfrühling zu betrachten, in welchem die Jugend der Völker sich dem ganzen Fluge ihrer Phantasie hingab und mitten in der finsteren Nacht des Despotismus sich die Zukunft wie ein goldenes Eden dachte. Vor vier Jahren ist das vierzigjährige Jubiläum des am 27. Mai 1832 abgehaltenen Hambacher Festes gefeiert worden, und es mag als ein Zeichen des ungeheuren Umschwungs der Dinge betrachtet werden, daß das Jubiläum jener von dreißigtausend Menschen besuchten ersten deutschen Volksversammlung, welches damals als der Gipfelpunkt der revolutionären Bewegungen angesehen wurde, mit der Genehmigung des Enkels jenes oft als deutscher Patriot gefeierten Königs abgehalten wurde, auf dessen Befehl einst die Führer jener Kundgebung in den Kerker geworfen wurden. Das Hambacher Fest hatte auch seine Geschichtsschreiber gefunden. Das Gleiche läßt sich aber nicht von den Landauer Assisen sagen, auf welchen die Führer der Bewegung gerichtet und freigesprochen wurden.

Außer einem durch die Censur verstümmelten stenographischen Bericht der Verhandlungen dieses Schwurgerichts und dem in mehr als sieben Auflagen erschienenen Abdruck der Vertheidigungsrede des Hauptangeklagten Dr. J. G. August Wirth ist meines Wissens bis jetzt nirgends eine eingehende Schilderung jener denkwürdigen Tage erschienen. Und doch waren sie für die politische Entwickelung des deutschen Volkes weit bedeutungsvoller als das Hambacher Fest, weil durch volle drei Wochen hindurch vor Gericht Zeugniß für die Berechtigung der Forderungen des Volkes abgelegt und das Zukunftsprogramm der nationalen Freiheitspartei niedergelegt wurde. Deshalb ist dieses Schwurgericht häufig in seiner Bedeutung mit dem Reichstage zu Worms verglichen worden. Es war im Juli 1833. Das übrige Deutschland war still wie das Grab, aber dort am äußersten südwestlichsten Winkel war eine Rednerbühne errichtet, von der drei Wochen lang die Flammen der Begeisterung unter das Volk geschleudert wurden.

Jene denkwürdigen Gerichtstage haben nur deswegen nicht die Berühmtheit erlangt, wie die Unabhängigkeitserklärung in den Vereinigten Staaten und die Erklärung der Menschenrechte in Paris, weil sie zufälliger Weise auf einen kleineren Kreis sich beschränkten und wegen der damals herrschenden Censur die Berichte nur verstümmelt zur öffentlichen Kunde kamen. Der Eindruck beschränkte sich daher auf die achthundert Zuhörer, welche der in einem Gasthofe neu hergerichtete Saal faßte, denn der eigentliche Sitz des Schwurgerichtes war Zweibrücken, und es war nur ausnahmsweise für diesen Fall aus Furcht vor einem Volksaufstande in die Festung Landau verlegt worden. Alle jene Zuhörer aber haben einen bleibenden Eindruck mit davon getragen und ihr Leben lang der Volkssache als Apostel gedient. Wie vor einem feierlichen Volks-Thing wurden damals die Schicksalsbücher der deutschen Nation aufgerollt und ihr wahres historisches Recht in feierlicher Erklärung gewahrt. Namentlich wurde nachgewiesen, daß der Untergang des deutschen Reiches und der deutschen Volksfreiheit nur durch innere und äußere Gewalt und nicht durch einen staatsrechtlichen vollgültigen Nationalact vollzogen worden sei, daß die aus dem Landesverrathe der Rheinbundfürsten und der Gewalt des fremden Eroberers hervorgegangenen Zustände keine innere Berechtigung haben. Es wurde hervorgehoben, wie übel die Opfer, welche das deutsche Volk zur Abschüttelung der napoleonischen Herrschaft brachte, belohnt, wie wenig die in der Proclamation von Kalisch gegebenen Versprechungen gehalten wurden und wie das deutsche Volk das volle Recht besitze, zu seiner vollen Freiheit und zu seiner Reichseinheit zurückzugreifen. Gleichzeitig wurde dabei der Bedingungen der inneren volkswirthschaftlichen Entwickelung in einer Weise gedacht und ein sociales Fortschrittsprogramm aufgestellt, welches auch noch künftigen Geschlechtern als Leuchte dienen kann.

Das Elsaß war um die Mitte der 1830er Jahre noch lange nicht so französisirt wie gegenwärtig. Namentlich das protestantische Unter-Elsaß hatte sich, wenigstens in sprachlicher Beziehung, als gänzlich halsstarrig erwiesen. Die Umgangssprache war im Unter-Elsaß durchweg deutsch, und nur die Gebildeten fingen an, ein Französisch mit sehr schlechtem Accent zu sprechen, welches sie unter sich dann in ganz eigenthümlicher Weise mit dem Deutschen vermengten, nicht so, daß sie einzelne Ausdrücke aus dieser oder jener Sprache entlehnten, sondern die eine Hälfte des Satzes deutsch, die andere Hälfte französisch sprachen und, wenn sie den einen Satz französisch angefangen und deutsch geendigt, den nächsten deutsch anfingen und französisch endigten. Der eigentliche Bürgerstand, die Bauern und die Kinder auf der Straße blieben im Unter-Elsaß aber hartnäckig bei ihrem Deutsch. Im Gymnasium (collége) war es zwar verboten, dem Lehrer in deutscher Sprache zu antworten, in der Regel geschah es aber doch, trotz der jedesmaligen vorschriftsmäßigen Mahnung des Professors.

Einen Hauptstützpunkt fand das deutsche Element auch in der protestantischen Geistlichkeit, welche nothwendiger Weise deutsch predigen mußte und in der theologischen Facultät und dem damit verknüpften philologischen Seminar zu Straßburg ihren geistigen Brennpunkt und ihre Nahrung fand. Während nämlich die Straßburger Akademie, das heißt Universität, ganz nach französischem Muster eingerichtet war und nur französische Vorlesungen zuließ, hatten die oben genannten mit einander verknüpften Anstalten, kraft ihres Stiftungsvermögens, eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren gewußt und in der Hauptsache ihre deutsche Methode beibehalten, sowie auch viele Collegien, namentlich in der philologischen Abtheilung, noch in deutscher Sprache vorgetragen wurden. Ich genoß den Vortheil, dieselben ein Jahr lang (1839) zu besuchen, und erinnere mich heute noch mit Vergnügen der geistreichen und zugleich gediegenen deutschen Art, mit welcher ein Lachmayer und ein Hasselmann uns die griechischen und lateinischen Classiker vortrugen und erklärten. Einer der internen Seminaristen war damals auch Neffzer, der spätere Gründer des Pariser „Temps“, der schon damals als ein junger Mann von hervorragendem Geist betrachtet wurde und dessen zu frühzeitigen Tod wir heute beklagen. Aus Neugierde ging man dann auch zuweilen in eine Vorlesung der Akademie (das heißt der eigentlichen Universität), namentlich um die glänzende Rhetorik der französischen Professoren kennen zu lernen, und bei einer solchen Gelegenheit war es, daß ich gerade der Disputation um den Doctorhut von Edgar Quinet beiwohnen konnte, welcher erst nach seiner Rückkehr aus dem Orient, ein hoher Dreißiger, promovirte.

In den Ferien wurden dann zuweilen den Freunden, welche meistens Söhne von Pfarrern waren, an ihrem heimischen Herde Besuche abgestattet, und ich muß sagen, daß das unterelsässische Pfarrhaus noch nichts von der Traulichkeit eingebüßt hatte, durch welche es unter dem Meistergriffel Goethe’s eine solche Berühmtheit erlangt hat. Das patriarchalisch ehrbare und doch gemüthvolle Leben dieser meist zahlreichen Familien ist mir noch heute, nach über dreißig Jahren, in frischer und angenehmer Erinnerung. Einmal saßen wir an einer langen Tafelrunde zu Tisch. Mein Freund, der älteste Sohn des Hauses, hatte eben sein theologisches Examen mit Glanz bestanden, und es war ihm von seinen Eltern die Ueberraschung bereitet worden, daß der Gegenstand seiner Sehnsucht am seinem Geburtstage erschien. Als der ehrwürdige Pfarrherr nach dem Braten das Glas erhob, um die künftige Tochter willkommen zu heißen, da durfte mein erglühender Freund ihr über den Tisch hinüber den Brautkuß ertheilen. Wer Ramberg’s reizendes Bild kennt, welches einen jungen Mann in der Lieblingstracht der Sturm- und Drangperiode, dem Wertherfracke und den Stulpstiefeln, darstellt, wie er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 705. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_705.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)