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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 42.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Kein Herz.

(Fortsetzung.)

„Im Sommer begleitete ich meine Mutter, wie alljährlich, nach Wiesbaden,“ fuhr Valentine in ihrer Erzählung fort, „dessen monatelanger Curgebrauch ihr den folgenden Winter zu überstehen helfen sollte. Mit Beginn der Ferien folgte uns mein Verlobter dorthin. Es waren selige Tage; jede Stunde war mit Glück erfüllt, dessen Bestätigung für alle Zukunft schon so nahe. Da erschien dort jene schöne Frau. Was soll ich Ihnen sagen? Sie lockte; er widerstand zu Anfang und war seiner selbst so sicher, daß seine Zuversicht auch mir die Gelassenheit erhielt oder vielmehr sie mir gab. Später kam es anders. Ich sah seine schöne Ruhe scheitern; ich sah, wie sie ihn Zug um Zug von Neuem an sich riß. Meine Mutter drang in mich, wir sollten abreisen, in der Ueberzeugung, daß ihn dies zur Besinnung bringen, daß er uns folgen würde. Ich widerstand. Ihre Cur plötzlich zu unterbrechen, war bedenklich; ein Erfolg solchen Schrittes erschien höchst zweifelhaft. Auch wollte ich mein Schicksal kennen. Es endete damit, daß ich ihn frei gab.“

„Vielleicht handelten Sie zu rasch,“ sagte Bernardin. „Ueber uns Männer geht zuweilen Unwiderstehliches hinweg, wie eine hohe Woge, aber jede Brandung sinkt, und hält uns eine liebe Hand in Treuen fest, so finden wir uns zum rettenden Ufer zurück.“

„Wäre ich schon sein Weib gewesen, dann hätten Sie Recht, tausendmal Recht. Aber eine Hand festhalten, die in der unserigen zuckt und sie als Fessel empfindet, erscheint mir unmöglich, wo Freiheit noch in Frage stehen kann. Ich fühle noch heute, daß ich gehandelt, wie ich mußte.“

„Und er?“ fragte Bernardin nach kurzer Pause.

„Er verließ Wiesbaden noch vor uns; ich hörte nichts mehr von ihm und über ihn. Meines Vaters Versetzung nach München traf mit unserer Heimkehr zusammen. Noch im Laufe desselben Jahres verlor ich meine Mutter. Es ist gut so, wie es ist. Meine Schwester hat sich sehr jung verheiratet; ich bin dem Vater nothwendig, wenn er es auch nicht Wort haben will. Mein Leben verzehrt sich nicht ohne Nutzen und Inhalt; mehr hat der Mensch nicht zu fordern.“

„Sie hätten also mit jedem eigenen Anspruch an das Geschick abgeschlossen, Valentine?“ fragte Bernardin. „Ohne Zweifel täuschen Sie sich. Man denkt zuweilen mit Allem fertig zu sein und hat doch erst ein farbensattes, aber nicht unverlöschliches Vorspiel seines wirklichen Schicksals erfahren. Sie nennen sich alt, weil Sie müde sind. Ich sehe Sie noch jung, voll Fähigkeit glücklich zu machen, und das heißt nichts Anderes, als das Anrecht, glücklich zu sein.“

„Ich habe sagen hören, man könnte mehr als einmal lieben,“ entgegnete Valentine nachdenklich. „Es muß wohl wahr sein, denn ich habe das auch öfters mit angesehen. Was mich selbst betrifft, so könnte ich es nicht. Jeder folgt seinem Wesen. Mir ist es innerstes Bedürfniß, wenigstens mir selbst treu zu bleiben, da ich mir keine Treue gewinnen konnte.“

Bernardin ergriff schweigend ihre Hand und behielt sie einen Augenblick in der seinen.

„Gute Nacht, mein Freund!“ sagte Valentine, als sich Beide im Vorwärtsschreiten wieder den Häusern genähert hatten. „Was ich Ihnen erzählt habe, sei vergessen! Und – halten Sie mich nicht für unglücklich, denn ich bin es nicht.“

„Das glaube ich in der That, Valentine. Schwache Charaktere überwinden schwer und vergessen leicht. Kraftvolle Naturen vergessen Nichts, aber sie überwinden. Ich sehe Sie morgen noch vor Ihrer Abfahrt. Lassen Sie mich Ihnen aber jetzt Lebewohl sagen! Gott sei mit Ihnen! Vergessen Sie nicht die Stunden, welche wir gemeinschaftlich verlebt haben!“

„Sie gehören nicht zu denen, die man vergißt. Auf Wiedersehen! Nicht nur morgen – hoffentlich auch an gleicher Stelle über’s Jahr!“




2.

Vier Jahre sind vergangen. Um den Menschen wieder zu begegnen, welche wir auf der kleinen Insel des „baierischen Meeres“ verließen, müssen wir stille Thäler aufsuchen, die zur Zeit des Beginns unserer Erzählung weit einsamer und unbekannter waren, als jenes Eiland. Doch hatte die oft geschmähte Verderberin landschaftlicher Reize, die öfter noch gepriesene Schöpferin öffentlichen Verkehrs, die Locomotive, jener Thalstrecke während dieser letzten Jahre lebendige Spuren aufgedrückt. Seit eine noch kaum beendete, dem Betriebe erst theilweise übergebene Bahnlinie dieselbe fast ihrer ganzen Längenausdehnung nach durchzog, machte sich der namentlich für Dörfer und Marktflecken auch durch gleichzeitigen Bau neuer Poststraßen erschlossene Zusammenhang mit der Außenwelt durch vermehrten Wohlstand bemerklich.

Es war zu Anfang Juli 1870. Heiße Sonnengluth lag über dem Thale. Obgleich der Abend schon hereinbrach, brachte er doch keine Kühlung; man empfand, daß die Sonne ihre glühende Herrschaft seit manchem Tage ununterbrochen geübt und jeden frischeren Athemzug in sich gesogen hatte. Dennoch prangte die anmuthigste Landschaft im üppigsten Grün; der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 699. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_699.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)