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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


„Dann bleibt nichts Anderes übrig, als ihn von der richtiger Fährte weg und auf eine falsche zu bringen,“ erklärte sie nach kurzem Besinnen. „Aber Herr Doctor, damit nehmen wir doch eigentlich eine schwere Verantwortung auf uns. Es verschwört sich zwar Alles hier in Wilicza, so daß ich nicht einsehe, weshalb wir Beide es nicht auch einmal thun sollen, aber wir machen, streng genommen, doch ein Complot gegen unsere eigene Regierung, wenn wir ihren Vertreter abhalten, seine Pflicht zu thun.“

„Der Assessor hat keinen Auftrag,“ rief der Doctor, der auf einmal ganz heldenmäßig geworden war, „er folgt nur seinen eigenen ehrgeizigen Ideen, wenn er hier herumspürt. Mein Fräulein, ich gebe Ihnen mein Wort darauf, die geheimen Umtriebe haben die längste Zeit gewährt. Es wird ihnen ein für alle Mal ein Ende gemacht – ich weiß es aus Waldemar’s eigenem Munde, und er ist der Mann danach, sein Wort zu halten. Wir verschulden nichts gegen unsere Landsleute, wenn wir ein ganz nutzloses Unglück verhüten, das der übertriebene Eifer eines Beamten heraufbeschwört, den man in L. vielleicht gar nicht einmal gern sieht.“

„Gut, also machen wir ein Complot!“ sagte Gretchen entschlossen. „Der Assessor muß fort, und zwar noch in der ersten Viertelstunde, sonst geht er gleich wieder auf die Verschwörungsjagd. Da kommt er schon über den Hof. Ueberlassen Sie mir Alles, stimmen Sie nur zu – und jetzt wollen wir das Buch wieder vornehmen.“

Als Assessor Hubert einige Minuten später eintrat, hörte er in der That die dritte Strophe des französischen Gedichtes und war sehr erfreut, daß Doctor Fabian Wort gehalten hatte und daß die künftige Frau Regierungsräthin sich so eifrig in der höheren Bildung übte, die für ihre dereinstige Stellung unerläßlich war. Er begrüßte Beide, erkundigte sich nach dem Herrn Administrator und nahm dann den angebotenen Platz ein, um die jüngsten Neuigkeiten aus L. zu erzählen.

„Ihr ehemaliger Zögling hat uns eine große Ueberraschung bereitet,“ sagte er verbindlich zu Fabian. „Wissen Sie denn davon, daß Herr Nordeck, als er auf seiner Reise unsere Stadt passirte, bei dem Herrn Präsidenten vorgefahren ist und ihm einen anscheinend ganz officiellen Besuch gemacht hat?“

„Ja wohl, es war die Rede davon,“ erwiderte der Doctor.

„Seine Excellenz waren sehr angenehm dadurch berührt,“ fuhr Hubert fort. „Offen gestanden, man hatte bereits die Hoffnung auf eine Annäherung von dieser Seite aufgegeben. Herr Nordeck soll äußerst liebenswürdig gewesen sein; er erbat sich sogar die Zusage des Herrn Präsidenten, der nächsten Jagd in Wilicza beizuwohnen, und ließ etwas von anderen Einladungen fallen, die nicht minder überraschen werden.“

„Hat denn der Präsident angenommen?“ fragte Gretchen.

„Gewiß! Seine Excellenz meinen, die Sache sähe fast aus wie eine Demonstration des jungen Gutsherrn und fühlten sich verpflichtet, ihn darin zu unterstützen. Wirklich, Herr Doctor, Sie würden uns sehr verbinden, wenn Sie uns irgend einen Aufschluß über die eigentliche Stellung des Herrn Nordeck –“

„Von Doctor Fabian erfahren Sie gar nichts; er ist noch verschlossener als der junge Herr selbst,“ fiel Gretchen ein, die sich veranlaßt fühlte, ihrem Mitverschworenen zu Hülfe zu kommen, denn sie sah bereits, daß er sich durchaus nicht in seine Rolle finden konnte. Er wurde fast erdrückt von seinem Schuldbewußtsein, und die beste Absicht half ihm nicht über der Gedanken hinweg, daß der Assessor betrogen werden sollte und daß er dabei mithalf. Fräulein Margarethe dagegen nahm die Sache weit leichter; sie ging geradewegs auf das Ziel los.

„Werden wir Sie denn heute zum Abendessen haben, Herr Assessor?“ warf sie hin. „Sie haben doch jedenfalls drüben in Janonwo zu thun?“

„Daß ich nicht wüßte!“ erwiderte Hubert. „Weshalb gerade dort?“

„Nun, ich meinte nur – man hört so Manches von drüben – besonders seit den letzten Tagen. Ich dachte, Sie hätten Auftrag, dort zu recherchiren.“

Der Assessor wurde aufmerksam. „Was hört man? Bitte, mein Fräulein, verbergen Sie mir nichts! Janowo ist auch einer von den Orten, auf die man jetzt fortwährend ein Auge haben muß. Was wissen Sie davon?“

Der Doctor schob unmerklich seinen Stuhl etwas weiter zurück; er kam sich vor wie der schwärzeste aller Verräther, Gretchen dagegen bewies ein wahrhaft erschreckendes Talent für die Intrigue. Sie erzählte nichts, aber sie ließ sich ausfragen und brachte so nach und nach und mit der unschuldigsten Miene von der Welt all die Beobachtungen zum Vorschein, die sie in den letzten Tagen hier gemacht hatte, nur mit dem Unterschiede, daß sie den Schauplatz nach Janowo verlegte, dem großen Nachbargute, das unmittelbar an Wilicza grenzte, und ihr Plan gelang über Erwarten. Der Assessor biß auf den Köder an mit einem Eifer, der nichts zu wünschen übrig ließ. Er las die Worte förmlich von den Lippen des jungen Mädchens ab; er gerieth in fieberhafte Aufregung und sprang endlich auf.

„Entschuldigen Sie, Fräulein Margarethe, wenn ich die Ankunft des Herrn Frank jetzt nicht abwarte! Ich muß unverzüglich nach E. zurück –“

„Aber doch nicht zu Fuß? Es ist eine halbe Stunde Wegs dorthin.“

„Nur kein Aufsehen!“ flüsterte Hubert geheimnißvoll. „Mein Wagen bleibt jedenfalls hier; es ist besser, man glaubt mich noch bei Ihnen. Ich bitte, beim Abendessen nicht auf mich zu rechnen; leben Sie wohl, mein Fräulein!“ und mit kurzem, hastigen Gruße eilte er davon und schritt gleich darauf über den Hof.

„Jetzt geht er nach E.,“ sagte Gretchen triumphirend zu dem Doctor, „um sich die beiden dort stationirten Gensd’armen zu holen, und läuft mit ihnen geradewegs nach Janowo – und da werden sie wohl alle Drei herumlaufen bis in die Nacht hinein. Wilicza ist sicher vor ihnen.“

Sie hatte sich in ihren Voraussetzungen nicht getäuscht. Erst spät in der Nacht kehrte der Assessor von seinem Streifzuge zurück, den er richtig mit den beiden Gensd’armen aus E. unternommen hatte, natürlich ohne jedes Resultat. Er war sehr verstimmt, sehr niedergeschlagen und vollständig erkältet. In der ungewohnten Nachtluft hatte er sich einen furchtbaren Schnupfen zugezogen und befand sich am nächsten Tage so unwohl, daß sogar Gretchen ein menschliches Rühren empfand. In reuevoller Aufwallung kochte sie ihm Thee und pflegte ihn den ganzen Tag hindurch mit einer Sorgfalt, die Hubert alles ausgestandene Ungemach vergessen ließ. Leider setzte sich dadurch aber bei ihm die nunmehr unumstößliche Ueberzeugung fest, daß er über alle Maßen geliebt werde. Auch Doctor Fabian kam im Laufe des Tages herüber, um nach dem Patienten zu sehen, und zeigte eine so ängstliche Theilnahme, ein so tiefes Bedauern über die Erkältung, daß der Assessor sehr gerührt und vollständig getröstet war. Er wußte ja nicht, daß er all diese Aufmerksamkeit nur den Gewissensbissen der beiden gegen ihn Verschworenen zu danken hatte, und fuhr schließlich noch mit dem Schnupfen, aber in sehr gehobener Stimmung, nach L. zurück. – –

Im Schlosse hatte man natürlich keine Ahnung davon, wem eigentlich der Dank dafür gebührte, daß Schloß, Park und Umgebung auch an diesem Abende unbehelligt blieben. Ungefähr zu derselben Zeit, als Doctor Fabian und Fräulein Margarethe ihr Complot anstifteten, fand in der Zimmern der Fürstin Baratowska eine Familienzusammenkunft statt, die ein sehr ernstes Aussehen hatte. Graf Morynski und Leo waren in voller Reisekleidung; ihre Mäntel lagen draußen im Vorzimmer, und der Wagen, der vor einer halben Stunde den Grafen und seine Tochter herübergebracht hatte, stand noch angespannt im Hofe. Leo und Wanda hatten sich in die tiefe Nische des Mittelfensters zurückgezogen und redeten leise und angelegentlich mit einander, während die Fürstin mit ihrem Bruder ein gleichfalls halblautes Gespräch führte.

„Wie die Sache einmal liegt, halte ich es für ein Glück, daß die Verhältnisse Eure schleunige Abreise verlangen,“ sagte sie, „schon um Leo’s willen, der den Aufenthalt in Wilicza nicht mehr ertragen würde, wenn Waldemar den Herrn herauskehrt. Er vermag sich nun einmal nicht zu beherrschen; die Art, wie er meine Eröffnungen aufnahm, zeigte mir, daß es geradezu ein Unglück provociren hieße, wollte ich ihn jetzt zu einem längeren Zusammensein mit seinem Bruder zwingen. Auf diese Weise begegnen sie sich vorläufig gar nicht, und das ist das Beste.“

„Und Du selbst willst wirklich hier aushalten, Jadwiga?“ fragte der Graf.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_694.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)