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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Gleichwohl konnte man, selbst ohne ein besonders fein organisirtes Ohr zu besitzen, in den verschiedenen Beifallssalven verschiedene Stärkegrade deutlich wahrnehmen. Der Beifall war bald laut, bald lauter, bald am lautesten. Der einfach laute Beifall rührte wahrscheinlich von den Wagnerianern allein her; an dem stärkeren Beifall betheiligte sich auch ein Theil der Unbefangenen, und an dem stärksten beteiligten sich Alle. Es läßt sich daher selbst in Bayreuth die Verschiedenartigkeit der Aufnahme von Einzelheiten feststellen und, wenn man den bedingungslosen Beifall der Vollblut-Wagnerianer von vorn herein abzieht, so kann man sogar von Ablehnung, von mittlerem Erfolge und von durchschlagendem Erfolge sprechen.

Die Wirkung des musikalischen Theils läßt sich, wie ich glaube, so resumiren: Alles, was sich der bisherigen Oper mehr oder minder genähert, was ungefähr den Bau einer Arie, etwas Melodienähnliches, den Zuschnitt eines Duetts oder den Charakter des vielstimmigen Gesanges hatte, – alles das hat unmittelbar und allgemein gezündet. Der melodienlose, gesanglich-dramatische Vortrag mit seiner wichtigen, stimmunggebenden orchestralen Begleitung aber hat mit seinen unendlichen Längen nur die Wagner’schen Parteigänger zu entzücken vermocht, die andern dagegen abgespannt, gepeinigt, ja – ich bedauere den Ausdruck gebrauchen zu müssen – gründlich gelangweilt. Man kann also sagen: Wagner hat mit seiner musikalischen Schöpfung bei seinen Freunden einen vollständigen internen Erfolg errungen, der jedesmal, wenn der Componist aus seinem System herausgetreten ist und dem Alten sich zugewandt, zu einem allgemeinen Erfolge sich erweitert hat.

Mit dem Musiker Wagner unlösbar verbunden ist der Dichter. Die dichterische Begabung wird ihm zwar von seinen Gegnern, unter denen sich einige unsrer bedeutendsten Schriftsteller befinden, abgesprochen, aber sehr mit Unrecht, wie ich meine. In der Composition: in der Vorbereitung der Handlung, in der Steigerung derselben und in deren Abschluß zeigt sich Wagner als ein Dramatiker von ganz hervorragendem Geschicke, in der Ausführung aber läßt er allerdings die den Dramatiker bezeichnende Concectration und Knappheit gänzlich vermissen. Es kommt noch dazu, daß die Ausführung durch Eigensinn, Extravaganzen und Unklarheiten im Einzelnen oft ganz bedenklich gefährdet wird. Die Weitschweifigkeit in den Zwiegesprächen, die beständigen Wiederholungen des schon Bekannten, die ermattende Schwatzhaftigkeit aller seiner Geschöpfe lassen sich aus nichts Anderem erklären, als aus dem Eigensinn des Dichters.

Auf denselben Ursprung mögen vielleicht auch die Extravaganzen und Unklarheiten in den Textstellen zurückzuführen sein. Es werden uns in dieser Dichtung Dinge zugemuthet, für die uns bis jetzt noch das Verständniß völlig abgeht.

Wir sind noch nicht entwickelt genug, um Siegfrieds läppische Frage an Mime: „Du machtest wohl gar ohne Mutter mich?“ als kindliche Naivetät aufzufassen, nicht entwickelt genug, um in Alberich’s Widerwärtigkeiten:

„Die schlanken Arme
schlinge um mich,
daß ich den Nacken
dir neckend betaste,
mit schmeichelnder Brunst
an die schwellende Brust mich dir schmiege“

lediglich den angenehmen Ausdruck einer fröhlichen Sinnlichkeit zu erblicken. Wir haben keinen rechten Sinn für die anmuthigen Scherze Siegfried’s, wenn er z. B. zu Mime sagt: „Deinen Sudel sauf’ allein!“, oder wenn er den Lindwurm ankost:

„Eine zierliche Fresse
zeigst Du mir da,
lachende Zähne
im Leckermaul.“

Die Hehrheit der unglaublich simpeln Antithesen, welche Wotan, als er Brünhild zur Rechenschaft zieht, mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit anwendet, macht auf uns gar keinen feierlichen Eindruck:

„Wunsch-Maid warst du mir,
gegen mich doch hast du gewünscht;
Loos-Kieserin warst du mir,
gegen mich doch kiestest du Loose;
Helden-Reizerin warst du mir,
gegen mich doch reiztest du Helden.“

Wir sind nicht entwickelt genug, um die holde Einfachheit in Siegfried’s Ausdruck zu verstehen, wenn dieser den König Gunther herbeiruft, der die in Ohnmacht fallende Brünnhild in seinen Armen auffangen soll: „Gunther, deinem Weib ist übel.“ Alle diese Dinge erscheinen uns einfach als wüste Geschmacklosigkeiten.

Vor vielen Einzelheiten stehen wir wie vor ungelösten Räthseln. Was ist ein „freisliches“ Weib, ein „freislicher“ Streit, ein „freislicher“ Schlund? Was ist der „Huie“? Was heißt das: „Glühender Glanz entgleißt weihlich im Wag“? Was bedeutet es, wenn uns Brünhild bezeichnet wird als „Wotan’s Willens blind wählende Kür“? Und wie verhält es sich mit dem einen Auge, das Wotan nicht besitzt? Im „Siegfried“ macht der alte Herr, der uns genug gelangweilt hat, um sich auch einmal einen Scherz erlauben zu dürfen, folgendes Späßchen; er sagt zu Siegfried:

„Mit dem Auge,
das als andres mir fehlt,
erblickst du selber das eine,
das mir zum Sehen verblieb.“

Ein ganz verzwickter Scherz!

Was heißt es, wenn Brünnhild gar behauptet: „Göttliche Ruhe rast mir in Wogen“? Ich glaubte, daß, wenn die Ruhe einmal anfängt zu rasen, sie nothwendigerweise aufhören müsse, Ruhe zu sein, und daß „ruhen“ und „rasen“ sich gegenseitig ausschließen. Aber der Stabreim ist untadelhaft, und darin finden wir vielleicht auch eine Erklärung für manche Unklarheit.

Diesem unglücklichen Stabreime haben wir es gewiß zuzuschreiben, wenn wir so oft durch barocke, ungewöhnliche, unverständliche Wendungen befremdet und abgestoßen werden. Wäre der Stabreim nicht, hätte Wagner schwerlich Wendungen wie die folgenden gewählt:

„Knechte erknete ich mir.“
„Flickst du mit Flausen den festen Stahl?“
„Der That enttagte des Helden Ruhm.“
„Der Erde holdeste Frauen friedeten längst ihn schon.“
„Schweigt Eures Jammers jauchzenden Schwall.“
„Mit Bappe back’ ich kein Schwert.“

Mit „Bappe“? Ei Herrcheses, Herr Wagner, sein Sie nicht aus Leipzig?

Neben diesen Absonderlichkeiten, die uns als Unarten erscheinen, finden sich, gerade wie in Wagner’s Musik, lichte, einfache Schönheiten von rührender Frische und mächtiger Gewalt. Siegmund’s Liebeslied ist von bezaubernder Innigkeit und Siegfrieds Träumerei im Walde, während er seiner Mutter gedenkt, so wahr, so tief empfunden und dabei von einer so ungekünstelten Einfachheit, daß es der anspruchsloseste Dichter nicht schöner hätte dichten können. Und wie herrlich ist der Ausdruck der innigen Liebe Brünnhild’s für Siegfried und ihrer Verzweiflung zugleich beim Anblicke der Leiche!

Wagner sollte kein Dichter sein? Er, der Charaktere hinzustellen weiß, gewaltig und wahr, wie diese Brünnhild, wie dieser Siegfried, sollte kein Dichter sein? Aber es ist richtig: neben den mächtigen, ergreifenden Charakteren besitzt Wagner auch eine Specialität für Jämmerlichkeiten wie kein anderer Dichter. Ein langweiligerer Gott als dieser Wotan ist nie zur Erde herabgestiegen, und niemals hat ein traurigerer König gethront, als dieser Jammerknabe Gunther in der „Götterdämmerung“, der würdige Bruder und Vetter Seiner Majestät Marke in „Tristan und Isolde“.

Ein Dichter ist Wagner, aber man kann ihm nicht gerade nachrühmen, daß er mit einfachen Mitteln arbeitet. Alle Anforderungen, welche die gesammten Dramatiker alter Zeiten in Betreff außergewöhnlicher Leistungen an die Bühne gestellt haben, zusammen genommen sind geringer, als die, welche Wagner zur Ausführung des einen Gesammtwerkes „Der Ring der Nibelungen“ stellt.

An „außergewöhnlichen Wesen“ braucht er folgendes Personal: Zwei Riesen, zwei Zwerge, vier Götter, drei Göttinnen, drei schwimmende Mädchen, drei Nornen, acht Walküren. Außerdem einen Marstall von neun Pferden: Graue für Brünnhild und acht Pferde für die Walküren. Ferner einen ziemlich completen zoologischen Garten, nämlich: eine Riesenschlange, eine Kröte, zwei Widder, einen Lindwurm, der singt, einen Waldvogel, der spricht, zwei Raben und einen Bären.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_686.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)